Kinder im Kalkül

Generationenkampf, Klassenkampf Der demographische Faktor ist vor allem ein Arbeitsmarktproblem

Die Achtundsechziger waren ziemlich beleidigt, wenn man ihren Kampf als Ausdruck eines Generationenkonfliktes missverstand. Nein, sagten sie, es ging um Gesellschaft, sogar Klassenkampf. Nach dreieinhalb Jahrzehnten ist das ein bisschen anders zu sehen. Die Nazi-Belastung der Professoren, die Überforderung der Ordinarienuniversität - all dies gab es wirklich und war doch unter anderem zugleich Anlass für ein personelles Revirement, in dem strebsamer Nachwuchs einige Altvordere wegschob.

Der Generationenwechsel ist erstens eine elementare Angelegenheit, weil er mit dem Tod zu tun hat, und zweitens geht es zumindest in den modernen Gesellschaften auch um Wohlstand und Eigentum. Vor einigen Jahren las man von einem Studenten der Betriebswirtschaftslehre, der seine Eltern tötete, weil sie ihr Geschäft verkauft hatten und den Erlös verjubeln wollten. Bevor sie sein künftiges Erbe völlig durchgebracht hatten, griff er ein. Damit derlei nicht Schule macht, wurde die Pflegeversicherung erfunden. Sie ist, wenn gut gemacht, hilfreich für die Alten, wäre aber wohl weniger leicht zustande gekommen ohne die Interessenwahrnehmung des Mittelstandes. Die Öffentliche Hand soll ihm Ausgaben ersparen, die sonst zu Lasten des Erbes gegangen wären.

Damit sind wir bei Philipp Mißfelder. Der Vorsitzende der Jungen Union hat nicht etwa gefordert, dass 85-Jährige keine künstlichen Hüftgelenke mehr erhalten sollten. Er will sie nur denjenigen vorenthalten, die das nicht selbst bezahlen können, in der Regel also den Mitgliedern der gesetzlichen Kassen. Seiner Frau Mutter und seinem Herrn Vater, falls privat versichert, würde er diese Wohltat schon gönnen. Hier hätten die Achtundsechziger einmal recht, es geht nicht um Generationen-, sondern um Klassenkampf. Und die gemütlichen Keynesianer könnten überdies davon abraten, einen Wachstumsmarkt - Medizin für Alte - abschaffen zu wollen.

So dürften wir sarkastisch weiterscherzen, wollten wir uns auf Dauer um eine einfache Wahrheit herummogeln. Sie lautet: Zu den für ihre Weiterexistenz notwendigen Aufgaben einer Gesellschaft gehört nicht nur das Tagesgeschäft, sondern auch die Gestaltung des Generationenverhältnisses. Das betrifft neben der Sorge für die Alten die Erzeugung und Ausstattung von Kindern. In etwas verdrehter Form findet sich diese Tatsache auch in der gegenwärtigen Rentendebatte: als "demographischer Faktor". Weil es einerseits immer weniger Kinder gebe, andererseits die Menschen stets älter würden, so heißt es, reiche die Arbeit der aktiven Generation nicht länger für den Unterhalt der Seniorinnen und Senioren aus.

Damit ist in der Regel nicht gemeint, dass die Alten vom Hungertod bedroht sind, vielmehr geht es um die Klage der noch im Beruf Stehenden über eine zu hohe Abgabenbelastung sowie den Hinweis der Unternehmer auf die schrecklichen Lohnnebenkosten. Dass diese Argumentation überwiegt, resultiert aus einer sehr vertrauten Tatsache: es ist immer die mittlere Jahrgangs-Kohorte, die sogenannte "aktive Generation", die ihre Interessen am besten zur Geltung bringen kann. So lange sie sich vor allem als Altersgruppe versteht und sich nicht in soziale Gruppen, gar Klassen auseinanderdividieren lässt, haben es Vorschläge, die Lasten besser zu verteilen - durch Einbeziehung aller Einkommensarten plus Umverteilung von oben nach unten - ziemlich schwer. Genaueres Hinsehen könnte zeigen, dass auch eine hundertprozentige Kapitaldeckung des Ruhegeldes nicht aus der angeblichen Generationenfalle herausführt. Damit die so angesammelten Ansprüche, vielleicht dargestellt in Aktien, ausgezahlt werden können, muss es künftig ja genügend Menschen geben, die ihren Gegenwert erwirtschaften und in Form von Gütern an die ehemaligen Einzahler(innen) zurückgeben.

Dabei reicht es nicht aus, dass in 30 Jahren ausreichend Arbeitskräfte da sind. Sie müssen auch tatsächlich Jobs haben. Der demographische Faktor ist nämlich bereits jetzt in Wirklichkeit ein Arbeitsmarktproblem. Es fehlt nicht an Menschen, sondern an Einzahlern: erstens weil die Bemessungsbasis falsch gewählt ist, zweitens wegen der hohen Erwerbslosigkeit.

Erst nachdem das klar ist, sollten wir über die sogenannte umgekehrte Bevölkerungspyramide reden und in diesem Zusammenhang auch darüber, dass immer weniger Kinder geboren werden. Das haben avancierte Industriegesellschaften so an sich, und zwar nicht erst seit der Pille. Es hat auch nur in Ausnahmefällen etwas mit Zukunftsangst zu tun, sondern oft sogar mit dem Gegenteil: In reichen Gesellschaften planen die Menschen im gebär- und zeugungsfähigen Alter oft so verhaltenssouverän ihre nächsten Jahre, dass sie sich Kinder erst nach Mitte 30 zulegen. Diese Anschaffung erfolgt ebenso kalkuliert wie der Kauf eines Autos. Man sagt ja auch, dass man sich Kinder "leiste".

Ökonomisch ist die umgekehrte Bevölkerungspyramide - rationalere Verteilung und Vollbeschäftigung vorausgesetzt - wahrscheinlich deshalb kein Problem, weil die ständig steigende Arbeitsproduktivität wachsenden Ertrag bei geringerem Einsatz wahrscheinlich macht. Entschlösse sich die BRD überdies zur vernünftigsten aller Lösungen, nämlich zu einer großzügigen Zuwanderungspolitik, könnte sie sich sogar eine Frühverrentung Philipp Mißfelders leisten. Dieter Oberndörfer, von Haus aus ein eher konservativer Politologe, hat jüngst wieder versucht, das Land mit einleuchtenden Argumenten auf diesen Königsweg zu locken.

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