Dieser Prozess war zweifellos ein Markstein der deutschen Justizgeschichte. Eine geschichtspolitische Wahrnehmung sieht ihn darüber hinaus auch als Teil deutscher Selbstläuterung, der es der Bundesrepublik heute ermögliche, nicht nur als eine ökonomische, sondern auch als moralische Großmacht aufzutreten, die andere Völker die Mores der Menschenrechte lehrt. Das Studium des Kleingedruckten ergibt ein anderes Bild. Mit den Nürnberger Prozessen der vier Hauptsiegermächte schien den Deutschen – in ihren eigenen Augen − der größte Teil der Aufgabe abgenommen. Bis 1950 durften auf Geheiß der Besatzungsmächte Gerichte der Ost- und Westzonen sowie dann der beiden deutschen Staaten ohnehin nur über Verbrechen urteilen, die Deutsche an Deutschen begangen hatten, darunter auch an deutschen Juden, nicht aber an Ausländern. Als ab 1952 Delikte an Bürgern anderer Staaten ebenfalls durch die hiesige Justiz geahndet werden konnten, wurde tatsächlich ein Stau abgearbeitet.
Immerhin gab es in der Bundesrepublik nicht mehr die Todesstrafe, wie sie die Alliierten noch hatten verhängen können. Insofern waren selbst zu Zuchthaus verurteilte NS-Verbrecher besser davongekommen, als sie das 1945 vielleicht selber geglaubt hatten. Danach trat Ruhe ein, viele Täter liefen unerkannt frei herum. Der Titel eines Films von Wolfgang Staudte, Die Mörder sind unter uns aus dem Jahr 1946, erwies sich als prophetisch.
1958 wurde schließlich in Ludwigsburg die „Zentrale Stelle der Landesverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ eingerichtet, die aber keine Anklagebehörde war. Sie hatte Täter ausfindig zu machen. Ob dies juristische Folgen hatte, lag im Ermessen der weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften. In Baden-Württemberg regierte Kurt Georg Kiesinger (CDU), unter dem sein späterer Nachfolger, der frühere NS-Marinerichter Hans Filbinger, als Minister seine Karriere begann. Wurde Anklage erhoben, sollte dies in voneinander getrennten Einzelprozessen erfolgen. Auschwitz war da ein Tatort, an dem aus irgendwelchen Gründen offenbar besonders viel geschehen war – als Schauplatz eines Völkermords kam das KZ nicht in den Blick. Dass es nicht so blieb, ist politischen Außenseitern zu verdanken.
Zu ihnen gehörte der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein, selbst ein Überlebender. Er warf der Justiz weitgehende Untätigkeit vor. Für den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) traf das nicht zu. Seit seinem 17. Lebensjahr in der SPD organisiert, wurde er 1933 mehrere Monate in ein Konzentrationslager gesperrt und aus dem Justizdienst entlassen, schließlich musste er emigrieren. 1943 gehörte er zu denjenigen Juden, die dank einer beispiellosen Solidaritätsaktion eines Teils der dänischen Bevölkerung vor dem Zugriff der deutschen Besatzer nach Schweden hatten fliehen können. Nach dem Krieg wurde er Generalstaatsanwalt in Braunschweig und erhob 1952 Anklage gegen den ehemaligen Major Otto Ernst Remer, zu diesem Zeitpunkt Politiker der faschistischen Sozialistischen Reichspartei. Dieser hatte die Attentäter des 20.Juli 1944 verunglimpft.
Misstrauen gegenüber deutschen Behörden
Der Ankläger focht durch, dass der Hitlerstaat kein Rechtsstaat gewesen und die geplante Tötung des Diktators legitim gewesen sei. 1956 wurde Bauer Generalstaatsanwalt in Hessen. In diesem Bundesland fanden Antifaschisten etwas mehr Beistand als anderswo. Die hessische Landesregierung hatte den Buchenwaldhäftling Eugen Kogon und den Widerstandskämpfer Wolfgang Abendroth als Professoren berufen. Sie blieben an den Universitäten allerdings ebenso weiße Raben wie Fritz Bauer in der Justiz. Sein Wissen um den Aufenthalt Adolf Eichmanns in Argentinien gab er an den Mossad und nicht an die deutschen Behörden weiter, denen er misstraute. Immerhin konnte Bauer erreichen, dass die Verhandlungen gegen inzwischen ermittelte Auschwitz-Täter nicht zerstreut an mehreren Orten stattfanden, sondern dass für sie alle ein zentraler Prozess angesetzt wurde, und zwar in seinem Zuständigkeitsbereich, in Frankfurt/Main. Einige Staatsanwälte und Richter, die sich bisher erfolgreich vor dieser Materie gedrückt hatten, dürften ihm insgeheim dafür dankbar gewesen sein. Deren politische Vorgesetzte hingegen hätten eine derart herausgehobene Anklage wohl gern vermieden.
Im Prozess trat Fritz Bauer nicht auf, seine Leistung waren die Vorbereitung und die Leitung der Ermittlungen. Auf hinhaltende Sabotage musste er gefasst sein. Ein Vorsitzender Richter hatte wegen Befangenheit zurücktreten müssen, da er und seine Familie selbstVerfolgte waren. Sein Nachfolger war in der NSDAP gewesen. Dies enthüllte die antifaschistische Wochenzeitung die tat – übrigens neben dem Sonntag und der Deutschen Volkszeitung eines der drei Vorläufer-Blätter des Freitag. Sie war Organ der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die als kommunistisch gesteuert galt. Die DDR hatte ein Interesse daran, Kontinuitäten zwischen dem Staatsapparat des Dritten Reiches und der Bundesrepublik anzuklagen, und die Tatsache, dass sie über gutes Aktenmaterial verfügte, setzte Vertuschungsversuchen Grenzen.
Ein zuverlässiger Helfer Fritz Bauers in Frankfurt/Main war der Untersuchungsrichter Heinz Düx, ein zeitlebens aktiver Radikaldemokrat und Sozialist. Jüngst ist ein umfangreicher Band mit seinen Arbeiten erschienen, in dem deutlich wird, dass auch er in der bundesdeutschen Justiz ein Einzelgänger geblieben war. Eine frühere Edition seiner Schriften (aus dem Jahr 2004) trägt den Titel: Die Beschützer der willigen Vollstrecker. Persönliche Innenansichten der bundesdeutschen Justiz. Der Prozess selbst wurde im Frankfurter Rathaus – dem „Römer“ – eröffnet und im „Haus Gallus“ in einem damals proletarischen Stadtteil fortgesetzt. Es wird berichtet, dass Polizisten salutierten, als die Angeklagten an ihnen vorübergingen.
Fritz Bauer verstand sich nicht ausschließlich als Nazi-Jäger. Er war ein Justizreformer mit dem Ideal, dass nicht nur Richter, Rechts- und Staatsanwälte, sondern auch Angeklagte an der Wahrheitsfindung zu beteiligen seien. Deshalb musste ihnen ihre Würde belassen werden, damit sie die Chance zur Verantwortung wahrnehmen konnten. Darauf legten die 22 Angeklagten aber nun gar keinen Wert. Sie beriefen sich auf Befehlsnotstand. Ehemalige Kameraden aus der SS bestätigten als Zeugen diese Sicht. Gerade durch eine solche List der Unvernunft aber wurde der Systemcharakter nationalsozialistischer Verbrechen deutlich. Der Gutachter Jürgen Kuczynski brachte die Zusammenarbeit der IG Farben mit der SS in Auschwitz ans Licht und musste sich von einem Ergänzungsrichter und dem Verteidiger Laternser heruntermachen lassen. Für die ehemaligen Häftlinge, die als Zeugen auftraten, wurde die Aussage häufig zur Tortur, wenn sie von der Verteidigung als unglaubwürdig attackiert wurden und manches ein zweites Mal durchleben mussten.
Drama von Peter Weiss
Sechs Angeklagte erhielten lebenslänglich, einer zehn Jahre Jugendstrafe, zehn Mal wurden Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren verhängt. Es gab vier Freisprüche. Der Schriftsteller Peter Weiss besuchte den Prozess und schrieb sein Dokumentationsdrama Die Ermittlung. 1965 wurde es von 15 Theatern in der Bundesrepublik und der DDR sowie von der Royal Shakespeare Company in London aufgeführt. 1966 lief das Stück in beiden deutschen Staaten im Fernsehen. Fritz Bauer sagte von sich, wenn er sein Amtszimmer verlasse, betrete er „feindliches Ausland“. Anders als viele ehemalige NSDAP-Mitglieder bekam er niemals das Bundesverdienstkreuz. Als er 1968 tot in der Badewanne gefunden wurde, vermutete man Mord oder Suizid, wohl fälschlicherweise. Aber das Gerücht war Ausdruck seiner Stellung in der postfaschistischen Bundesrepublik.
Georg Fülberth schrieb hier zuletzt über den Abgang von Kanzler Adenauer im Jahr 1963
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.