Reagans Raketen

Krefelder Appell Prominente vereinen sich vor 30 Jahren in Krefeld gegen neue US-Atomraketen auf deutschem Boden. Ende 1983 stehen ­unter ihrem Aufruf vier Millionen Unterschriften

Als sich 1977 ein Ende der Entspannungspolitik zwischen Ost und West abzeichnete, geriet eine Generation in Panik, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte. Wer als Kind während der Bombenangriffe im Luftschutzkeller gehockt hatte, zuckte noch in den sechziger Jahren zusammen, wenn nachts in der Nachbarschaft ein Reifen platzte oder ein Abfallkorb ausbrannte. Nach der Kuba-Krise von 1962 beruhigten sich die Nerven ein wenig. Mit den Ostverträgen und der Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 schien eine neue, bessere Epoche angebrochen.

1977 wurde bekannt, dass die USA in Europa Neutronenwaffen stationieren wollten: Atomkanonen, mit denen Menschen getötet werden konnten, während das Material unzerstört blieb. Hierauf antwortete zunächst in den Niederlanden eine breite Friedensbewegung. Der Plan wurde nicht ausgeführt, aber er war ein erstes Zeichen dafür, dass der Frieden wieder verletzlicher geworden war.

Reduzierte Vorwarnzeit

Mit einem gewissen Aufwand an Kredit mag man dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) die gute Absicht unterstellen, die Entspannung zu stabilisieren, als er am 28. Oktober 1977 vor dem International Institute für Strategic Studies in London seinen Vortrag Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit hielt. Er vertrat die Ansicht, trotz der sich abzeichnenden Übereinkunft zwischen den USA und der UdSSR zur Begrenzung des Wettrüstens mit Interkontinentalraketen (SALT II) könne der Frieden schwer gefährdet werden, wenn die Sowjetunion die von ihm behauptete Überlegenheit an konventionellen Waffen und atomaren Mittelstreckenraketen behalte. In diesen beiden Bereichen müsse Ausgewogenheit erst hergestellt werden. Aufgabe des Westens sei es, bestehende Disparitäten durch eigene Verteidigungsanstrengungen auszugleichen, solange ein Abbau des Bedrohungspotentials nicht erreicht sei. Als besondere Gefahr galten die sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20, die Westeuropa erreichen konnten.

Mag sein, dass Schmidt von nun an in die Rolle des Zauberlehrlings geriet, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde. Denkbar ist auch, dass er sich nicht nur als einen Weltökonomen, sondern auch einen Welt-Strategen sah, der offenen Auges ein Raketen-Poker begann. Die USA jedenfalls machten großen Druck, um seine Anregung entweder aufzugreifen oder zur Legitimation einer neuen Runde des Wettrüstens zu benutzen. Am 12. Dezember 1979 beschloss der NATO-Rat in Brüssel, dass vom Herbst 1983 an 108 amerikanische Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II in der Bundesrepublik und 464 Marschflugkörper (Cruise missiles) in mehreren Ländern Westeuropas stationiert werden sollten. Daneben schlug er Verhandlungen mit der UdSSR über die Begrenzung der Mittelstreckenraketen vor.

In der Folgezeit machten die USA einen etwaigen Verzicht auf die Stationierung ihrer neuen Raketen von einem vorherigen Abbau der sowjetischen Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 abhängig. Die Parallelität von Aufstellungsentscheidung und Verhandlungsangebot war in der Folgezeit Anlass, von einem „Doppelbeschluss“ der NATO zu sprechen. Da die Stationierung mit einer angeblichen Überlegenheit der Sowjetunion begründet wurde, bezeichneten ihre Befürworter sie als „Nachrüstung“. Die mit einem nuklearen Sprengkopf versehene Pershing II war imstande, in vier bis sechs Minuten punktgenau Ziele tief in der europäischen Sowjetunion zu erreichen. Zwar bewegen sich die Marschflugkörper – auch sie potentielle Atomwaffen – langsamer, doch konnten sie – dicht über dem Boden fliegend – von den bisherigen Abwehrsystemen kaum geortet werden. Sie vermochten selbstgesteuert die Richtung zu ändern und ihre Ziele auszuwählen. Sie waren geeignet, in einem Erstschlag gegnerische Stellungen zu vernichten, ohne dass eine adäquate Gegenwehr möglich war. Nach einem mit diesen Raketen geführten Angriff wäre der UdSSR nur noch die Wahl geblieben, zu kapitulieren oder in einen globalen Schlagabtausch mit der Wahrscheinlichkeit wechselseitiger Vernichtung einzutreten.

Zunächst blieb es in der Bundesrepublik noch ruhig. Wenige Tage vor dem NATO-Beschluss fand ein Bundesparteitag der SPD statt. Als Heidemarie Wieczorek-Zeul und einige Parteilinke über die sich anbahnende Entwicklung diskutieren wollten, rief ein Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet dazwischen, man möge sich doch bitte verständlicher ausdrücken; Pershing II und Cruise missiles – was sei das überhaupt?

Im Bonner Hofgarten

Bald danach aber begannen einige Strukturen aktiv zu werden, die seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auf ein Ende des Wettrüstens hinbearbeitet hatten: zum Beispiel die Deutsche Friedensunion (DFU), der Kölner Pahl-Rugenstein Verlag mit seinen Blättern für deutsche und internationale Politik, auch die Deutsche Volkszeitung, eine Vorläuferin des heutigen Freitag. Selbstverständlich war auch die DKP dabei. In den siebziger Jahren kam ein „Komitee für Abrüstung und Zusammenarbeit“ hinzu. Dass diese Organisationen und Blätter vom Osten bezahlten wurden, ist oft behauptet und nach 1989 ja auch bestätigt worden. Aber solche Einwirkung von außen wäre wirkungslos gewesen, hätte es nicht einen Resonanzboden gegeben: die alt-neue Angst der Kriegs- und Nachkriegsgeneration und die Enttäuschung jener, die den Entspannungsprozess für unumkehrbar gehalten hatten. So entstand die – neben den gleichzeitigen Anti-AKW-Protesten – größte außerparlamentarische Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Neue Verbündete stießen dazu, darunter der Bundeswehrgeneral Gert Bastian und die 1980 gegründeten Grünen. Ihre populärste Sprecherin wurde Petra Kelley. Ein Forum in Krefeld am 15. und 16. November 1980 forderte die Bundesregierung unter anderem dazu auf, „die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen.“ Dieser „Krefelder Appell“ erhielt bis 1983 mehr als vier Millionen Unterschriften. Zu einer Friedenskundgebung im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981 kamen 300.000 Menschen. Als im Juni 1982 der US-Präsident Reagan Bonn besuchte, waren es sogar 400.000 Teilnehmer.

Im November 1983 ratifizierte der Bundestag den NATO-Beschluss. Die Raketen wurden stationiert – oft gegen massive Blockaden vor Ort, an denen prominente Intellektuelle wie die Schriftsteller Heinrich Böll und Walter Jens sowie der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer teilnahmen. Unmittelbar nach der Entscheidung des Bundestages schrieb die FAZ triumphierend: diesen Schlag werde die Sowjetunion nicht mehr parieren können. Das traf zu. Schmidts und Reagans Raketen-Poker war erfolgreich. Jahrzehnte später äußerte Werner Müller, Wirtschaftsminister im Kabinett Schröder, der NATO-Beschluss sei die militärische Leistung in der Geschichte, die er am meisten bewundere.

Die SPD musste den Sieg ihres Kanzlers teuer bezahlen. Sie verlor große Teile der kritischen Intelligenz, die ihr seit Mitte der sechziger Jahre zugewachsen waren, an die Grünen. Dass zuletzt auch Willy Brandt auf einer großen Friedensdemonstration sprach, konnte dies nicht mehr verhindern. Eine Folge der Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg war der Zerfall der DDR. Aus ihrem Erbe stammte die PDS. Sie wurde zum Ausgangspunkt jener Linkspartei, die zu einer weiteren Spaltung des SPD-Wählerpotentials beitrug.

Diejenigen aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die jahrzehntelang von der Angst vor einer Apokalypse umgetrieben worden waren, leben und schlafen jetzt ruhiger. Mit dem Ende des atomaren Patts sind Kriege – so genannte „kleine“ – wieder möglich und häufig geworden. Aber sie finden nicht im eigenen Vorgarten, sondern in fernen Hinterhöfen statt.

Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und langjähriger Freitag-Autor

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