Anfang 1994 sah Rudolf Scharping wie der künftige Kanzler aus. Man sagte damals, er fahre im Schlafwagen zur Macht. Im Oktober hatte er verloren. Es war nur ein Frühstart, der nicht bis zum Wahltag trug. 1998 lief es anders: Kohl kam auch im Sommer nicht mehr aus dem Tief heraus. Wie wird es diesmal sein?
Konstant liegen CDU/CSU und FDP in den Umfragen vorn. Auf ihrem Parteitag in Frankfurt/Main und in dessen Vorbereitung hat die Union sich als Favoritin präsentiert - so sehr, dass es Roland Koch bang ums Herz wurde: er fürchtet, er könne die Hessen-Wahl Anfang 2003 verlieren, wenn Stoiber unmittelbar nach dem Sieg Einschnitte ins soziale Netz vornimmt. Man sieht: das Fell des Bären wird bereits verteilt.
Allerdings ist der Vorsprung vor Rotgrün noch so knapp, dass er aufgeholt werden kann. Der Optimismus des liberal-konservativen Lagers orientiert sich wohl nicht in erster Linie an den Umfragen, sondern an gesellschaftlichen Basis-Trends, die ihr zugute zu kommen scheinen.
Hierzu gehört das Drängen des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und seiner Agenturen auf immer weitere "Reformen" zur Aushöhlung bisheriger Systeme sozialer Sicherung. Die Riester-Rente kam diesem Begehren entgegen, aber die Annahme, Banken und institutionelle Anleger würden der Regierung danach eine Atempause gönnen, war naiv. Schröder wollte die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung bis nach dem Wahltag verschieben, um die eigene Anhängerschaft nicht zu verschrecken. Das wird ihm nun als Reformversagen vorgehalten. Stoiber versucht, dies als Vorteil für sich zu nutzen und riskiert in diesem Punkt sogar, was er sonst meidet: Polarisierung. Außerdem spricht die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit nicht im versprochenen Ausmaß gesenkt werden konnte, gegen die Koalition.
Schließlich ist bei der Betrachtung des 11. September zwischen Kurz- und Langzeitfolgen zu unterscheiden. Im Moment des Schocks fand zwar ein Schulterschluss statt, der der Regierung zunächst mehr nützte als der Opposition. Jetzt aber könnte es sein, dass eine ältere Maxime zur Geltung kommt: Im Kalten Krieg und in der ihm folgenden Entspannungsperiode konnte sich in der Bundesrepublik letztlich immer nur die Partei an der Macht halten, die eine größere Nähe zur US-Außenpolitik nachweisen konnte als die Konkurrenz. Später, während der scheinbaren oder tatsächlichen Emanzipation Europas von der Vormacht, schien das nicht mehr so wichtig. In dem Maße, in dem die USA wieder ihre Führungsrolle beanspruchen und auch durchsetzen, kommt das frühere Muster durch. Stoiber präsentiert sich als der bessere Amerikaner.
Ein weiterer Trend äußert sich in der Serie konservativer Wahlsiege in Westeuropa. Er ist letztlich wohl nur eine Folge der ersten Tendenz - also der neuerlichen Forcierung des von einigen vorschnell totgesagten neoliberalen Modells -, wirkt aber als eine zusätzliche innenpolitische Tatsache.
Da auch in der Neuen Mitte feinere Sportarten vorgezeigt werden, könnte man von dort jetzt die Metapher hören, es handle sich eben um widrige Winde, vor denen gekreuzt werden müsse. Kanzler und Finanzminister machen ohnehin seit Jahren nichts anderes.
Wenn die SPD im Wahlkampf zugleich das Thema der sozialen Gerechtigkeit neu aktivieren will, wirkt das dann aber nur wie Marketing: zwecks Sicherung der Unterscheidbarkeit. Dabei gibt es zwei Schwierigkeiten. Erstens: Anders als 1998 hat die Sozialdemokratie keinen Lafontaine mehr, der eine solche Position (flankierend zum Genossen der Bosse) halbwegs glaubwürdig vertritt. Schröder tat seit 1998 viel dafür, dass diese Karte in seiner Hand gezinkt wirkt. Zweitens: Von einer Regierung wird nicht erwartet, dass sie Reformbedarf anmeldet, sondern dass sie ihn deckt. Als Amtsinhaberin kann sie nach vier Jahren gefragt werden, weshalb sich auf diesem Feld so wenig getan hat. Überdies hat sie sich in der Bildungspolitik bei der Interpretation der Pisa-Studie von Schavan und Stoiber den Schneid abkaufen lassen.
Einsichtigerweise wagt noch kaum jemand den Vorschlag, für die SPD sei es besser, wenn sie sich in der Opposition erneuere. Dafür war 1982 das Potenzial vorhanden - es gab unter anderem den Vorsitzenden Brandt -, jetzt bliebe zunächst wohl nur ein Scherbenhaufen übrig.
Die leichtherzige Bemerkung, es sei ziemlich egal, wer demnächst hier regiere, könnte immerhin zu der Überlegung anregen, dass in der deutschen Politik langfristig etwas Wichtigeres ansteht als nur das turnusmäßige Stimmenzählen: zum Beispiel eine Neusortierung des Parteiensystems, bei dem die Linke wieder mit der gleichen Selbstverständlichkeit wagt, links zu sein, wie ja auch die Rechte - Union und FDP - ihre eigenen Positionen ungeniert für sich in Anspruch nimmt.
Für die regierende SPD wäre es zumindest vor dem 22. September wohl zu spät, aus einer solchen Einsicht überzeugende Konsequenzen zu ziehen. Und die ebenfalls kandidierende kleinere Linkspartei hat es vielleicht noch nicht einmal gemerkt.
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