Schleichende Veränderung

REGIERUNG Die CDU läßt sie in Ruhe, und von links ist auch nichts zu befürchten

Mit den 134 Tagen zwischen dem 28. Oktober 1998 und dem 11. März 1999 werden sich Historiker wohl noch einmal etwas gründlicher beschäftigen müssen. In dieser Zeit machte nämlich die rot-grüne Bundesregierung etwas, was im Grunde niemand von ihr erwartet hatte: eine Art linker Politik.

Man erinnert sich: Im Wahlkampf hatte Schröder versprochen, er wolle nicht alles anders machen als Kohl, aber vieles besser. Es ging also nur um Kontinuität.

Im Koalitionspapier stand dann doch etwas mehr - schneller Ausstieg aus der Atomwirtschaft, Doppelpaß -, aber die zentrale Aufgabe war eine andere, auch wenn sie nirgends lauthals verkündet wurde: Die neoliberale Wende, die bereits 1982 von CDU/CSU und FDP versprochen worden war, sollte jetzt endlich Wirklichkeit werden - Deregulierung, niedrigere Steuern, Einsparung staatlicher Ausgaben, Lohndisziplin. So hatten es die Unternehmer immer wieder gefordert, und Kohl hatte die Gunst der veröffentlichten Meinung verloren, weil er es nicht packte.

Die rot-grüne Regierung aber schien sich viereinhalb Monate lang nicht nach dem, was ihr aufgegeben war, richten zu wollen. Jürgen Trittin machte doch tatsächlich Anstrengungen, die Atommeiler stillzulegen. Schily legte einen Gesetzentwurf für die doppelte Staatsbürgerschaft vor. Lafontaine wollte die internationalen Finanzmärkte regulieren.

Deshalb hatte die Regierung schnell eine schlechte Presse. Ihr Treiben galt als chaotisch und wirtschaftsfeindlich, der Kanzler als Opfer des Finanzministers.

Aus den überraschenden Vorhaben ist dann bekanntlich nichts geworden. Immerhin: Die Rentenkürzungen der alten Koalition wurden aufgehoben, das Kindergeld wurde angehoben. Trittin aber lernte schnell, was Stamokap ist, und die Unterschriftensammlung von CDU und CSU schaffte Schilys Vorhaben für den Regel-Doppelpaß aus der Welt. Mit der Hessenwahl verlor Rot-Grün die Mehrheit im Bundesrat.

Der Spuk war aber noch nicht vorbei. Die PDS stellte in Thüringen Zusammenarbeit mit der SPD nach der nächsten Landtagswahl in Aussicht. Damit hätten Rot-Rot und Rot-Grün wieder die Bundesrats-Mehrheit gehabt. Man durfte sogar von einem skandinavischen Parteien-System träumen: eine selbstbewußte Sozialdemokratie der »Linken Mitte«, welche von rechts her nur mäßig erpreßbar ist, weil sie sich im Ernstfall auch auf die Stimmen der sozialistischen Opposition stützen kann.

Vor dem Hintergrund der realen Machtverhältnisse in Deutschland war das alles jedoch eher eine gespenstische Vision. Sie endete mit der Demission Oskar Lafontaines. Noch wichtiger als dessen Ausscheiden war das, was unmittelbar danach kam: Hinter dem Zurückgetretenen, also dort, wo man die sozialdemokratische Linke erwarten mußte, öffnete sich ein leerer Raum. Da war nichts.

Jetzt also konnte zum von Schröder und Werner Müller in Aussicht gestellten, auch von den Finanzexperten der Grünen angemahnten Umbau geschritten werden: Senkung des Spitzensteuersatzes etwa, Überprüfung von sogenanntem Sozialklimbim.

Die Durchsetzung eines solchen Programms ist schwer. Kohl wußte schon, weshalb er sich bis zuletzt davor gedrückt hat. Von Schröder erwartete man zwar keine linken Abenteuer, eher das Herunterbaggern von sozialen »Besitzständen« mit Augenmaß - die es traf, hätten sich vielleicht doch beschwert.

Dann kam der Krieg. Die unternehmerfreundliche Sozialreform steht zwar noch auf der Tagesordnung, aber kaum auf dem Blatt, das öffentlich verhandelt wird. In Tagesschau und Heute sind vorwiegend Flüchtlinge und Bomben zu sehen, und selbst ein Zyniker wird nichts anderes verlangen. Die Null-Runde im ostdeutschen Baugewerbe muß nicht gerade jetzt kommentiert werden.

Schröders Stellung ist gefestigt. Im Krieg gilt »bipartisanship«: Die Opposition läßt von rechts die Regierung in Ruhe, und links ist nichts zu fürchten. Manches ist da unauffälliger zu bewältigen. Die FAZ schreibt: Nachdem der Kanzler in der Kriegsfrage Festigkeit bewiesen habe, sei ihm zuzutrauen, daß er auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht länger herumhampelt, sondern ernsthaft seinen Job macht.

Falls in drei Jahren die Arbeitslosenzahlen nicht wesentlich gesunken sind, wird der Kanzler dies vielleicht damit erklären, die schwere außenpolitische Prüfung habe ihm nicht erlaubt, hier schnell genug voranzukommen.

Es kann aber sein, daß sich in den nächsten Jahren doch einiges ändert, worauf in der Leistungsbilanz dann verwiesen werden kann. Gelingt es zum Beispiel, den Jugoslawien-Krieg als ein vornehmlich US-amerikanisches Abenteuer hinzustellen, wird eine Regierung als verdienstvoll erscheinen, welche im Unterschied zu ihrer Vorgängerin auf eine außen- und verteidigungspolitische »Identität« der EU drängt, bis hin zu einer europäischen Monroe-Doktrin: Europa den Europäern.

Zu den bereits eingetretenen Veränderungen gehört, daß der grüne Koalitionspartner entkernt wurde. Es geht nicht mehr darum, wie dem Vierfach-Ziel: »Ökologisch- Sozial - Basisdemokratisch - Gewaltfrei« mit Realo-Mitteln näherzukommen ist, sondern um das Überleben der Partei. Kommt sie durch, wird sie nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Auf ihrem Erfurter Parteitag freute sich der Bundesminister des Auswärtigen über einen Beschluß zur Kosovo-Politik, der ganz in seinem Sinn war. Die von ihm geforderte Strukturreform von Bündnis 90/ Die Grünen war aber nicht vorangekommen. Jetzt kann es sein, daß er gar nicht groß darum zu kämpfen braucht, weil sich die Partei entweder in blinder Solidarität hinter ihm sammelt (dann wäre der »Schrei nach Führung«, den er im Wahlkampf vernahm, erhört) oder er sein Heil ohnehin woanders suchen muß.

Konzentration der Führung gibt es jedenfalls bereits in der SPD. Vielleicht hatte die alte Bundesrepublik doch ein bißchen progressive politische Kultur, und davon könnte jetzt etwas flötengehen. Zum Beispiel hat früher auf jede militärpolitische Schlüsselentscheidung eine kräftige Friedensbewegung einschließlich großer Teile der sozialdemokratischen Partei geantwortet. Selbst unter dem Kanzler Schmidt und dem Vorsitzenden Brandt war das zuletzt so. Mit Schröder könnte es anders werden.

Es fällt auf, daß der Altersdurchschnitt der Teilnehmer(innen) an Friedenskundgebungen gestiegen ist. 1990, während des Golfkriegs, waren viele ganz Junge dabei. Die fehlen jetzt weitgehend, jedenfalls sind es weniger geworden - nicht nur absolut, sondern auch dem Anteil nach.

Zu den Dingen, deren Vater dieser Krieg werden könnte, gehört auch eine Art des Stillstands, welcher zugleich die größten Veränderungen ermöglicht - und sei es dadurch, daß diese kaum erwähnt und unkritisiert hingenommen werden.

Wann fing das alles an? 1991. Damals begannen die Edelfedern der Nation für den Krieg zu schreiben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden