Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) warnt seine Partei davor, sich zu sehr über das Thema der sozialen Gerechtigkeit zu definieren. Es fehle an Wirtschaftskompetenz. Die steuerpolitischen Vorschläge der SPD im Wahlkampf 2013 hält er für falsch. Auf diese Weise komme sie nicht aus ihrem 20-Prozent-Turm heraus. Stephan Weil untertreibt; bei der Bundestagswahl 2013 waren es noch 25,7 Prozent der Stimmen, bei der Europawahl 2014 sogar 27,3 Prozent. Oder er unkt. Der Zeitpunkt für seinen Vorstoß ist gut gewählt. Der linke Parteiflügel, der ihm widerspricht, ist drauf und dran, sich zu zerlegen.
Gerade sind die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold, der Abgeordnete Nie
rdnete Niels Annen und die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Christine Lambrecht, aus dem Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) ausgetreten. Grund: Die Vorsitzende dieses Gremiums, die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, hatte die Ausnahmeregelungen beim Mindestlohn kritisiert. Ein kollektiver Austritt wird aus Nordrhein-Westfalen gemeldet: 32 Genossinnen und Genossen, darunter auch die Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Angelica Schwall-Düren. Angesichts der Mitgliederzahl des Forums – 800 bis 1.000 – ist das schon eine Art Aderlass.Das Verhältnis zwischen Ursache und Folgen legt die Vermutung nahe, es gebe tiefer liegende Ursachen. Schon im Oktober 2013 hat der Leiter der Berliner Senatskanzlei, Björn Böhning, das Forum Demokratische Linke 21, dem er Lust an innerparteilichen Niederlagen vorwarf, verlassen.Die Austritte mögen teilweise darauf zurückzuführen sein, dass Ansichten, die in der Opposition vorgetragen wurden, in Regierungsämtern oft nicht umgesetzt werden können. Bei denen, die an ihren alten Positionen festhalten, wird da und dort Mutlosigkeit nagen.Einst wurde organisierte innerparteiliche Opposition in der SPD so ernst genommen, dass sie auch einmal ausgeschlossen werden konnte. So geschah es 1961 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS. Dass dies ein Fehler war, zeigte sich 1968. Ein Jahr später verstand sich die „Arbeitsgemeinschaft Jungsozialisten in der SPD“ – der formell alle Genossinnen und Genossen unter 35 angehörten – als Außerparlamentarische Opposition. Daneben gab es Zirkel: 1966 den linken Frankfurter Kreis, 1972 einen Leverkusener Kreis, der die Arbeit von Gesinnungsgenossinnen und -genossen in der Bundestagsfraktion koordinierte und sich 1980 in Parlamentarische Linke umbenannte, seit 2000 das Forum Demokratische Linke 21.Mittlerweile werden sie nicht mehr von breiten Schichten der Partei getragen. Über die Jahre wird ein Wandel im Politikstil sichtbar. Innerparteiliche Strömungen der SPD zielten früher auf die Gesamtpartei: Hier wollten sie zur Mehrheit oder doch zu einer starken Minderheit mit Vetomacht werden, den Kurs der gesamten Organisation mitbestimmen und über diese in die Gesellschaft hineinwirken. Jetzt ist ihre Tätigkeit weniger mit Begriffen der politischen Soziologie als der Logistik und der betriebswirtschaftlichen Personalberatung zu beschreiben: Networking. Parteiinterne Selbstbehauptung ist ohne Mitgliedschaft in einer Bezugsgruppe kaum vorstellbar. Die damals jüngeren Bundestagsabgeordneten, die sich 1999 als Netzwerk Berlin konstituierten, machten die Ideologiefreiheit zu ihrem Programm. An die Stelle der Flügel traten pressure groups. Selbst inhaltliche Besonderheiten eines Zirkels ließen sich marktwirtschaftlich definieren: als Alleinstellungsmerkmal. Da und dort kann auch nicht Zugehörigkeit zu einer Gruppe das Mittel der Wahl sein, sondern Einzelkämpfertum. Der SPD-Vize Ralf Stegner versteht sich als Parteilinker, ist aber nicht Mitglied im Forum DL 21. Der individuelle Auftritt ist für ihn typisch, nicht das kurzlebige Experiment eines von ihm 2013 initiierten Berliner Kreises.Marketing kann die Attraktivität einer Ware erhöhen, aber nicht herstellen. Ist die Nachfrage nach linker Politik gering, wird das Angebot nach einiger Zeit zurückgefahren. Eine innerparteiliche Opposition gegen die Große Koalition war das Forum nicht. Der parteiintern als rechts geltende Seeheimer Kreis ist ebenso für den Mindestlohn wie ein großer Teil der Union. Die Differenz, die Frau Mattheis jetzt anmeldete, ist nicht groß genug, um genügend Selbstständigkeit zu markieren. Geht das Forum DL 21 einen Schritt weiter, stößt es auf einen anderen Anbieter: die Linkspartei. Machen sich die Sozialdemokraten die Vorschläge Stephan Weils zu eigen, bekommen sie dasselbe Problem auf der anderen Seite ihres Spektrums: mit der Union. Vielleicht hat er ungewollt das Marktsegment vermessen, in das die Linkspartei hineinwachsen könnte, wenn die SPD es räumt: 20 Prozent.Für ein etwaiges rot-rot-grünes Regierungsprojekt sind die jetzigen Vorgänge ohne Bedeutung. Das würde sich allenfalls ändern, wenn in einer Schwächeperiode der Union die Linkspartei als Mehrheitsbeschafferin benötigt wird und diese, vielleicht bewegt durch einen gesellschaftlichen und medialen Sog, sich darauf einlässt. Entscheidend wäre dann die Zustimmung der SPD-Mitte und des rechten Flügels, nicht des linken.