Schmal und kindlich wirkend stehen Ottokar und Agnes beieinander. Hinter ihnen hat sich endlich die Wand geteilt, die nun einen lichten Himmel zeigt. Konfetti fällt. Während sie wechselseitig Verwandte verdächtigen und sich Vorhaltungen machen, sprechen ihre Hände eine ganz andere Sprache: Eben noch ineinanderliegend, wandern sie zu des anderen Gesicht, streicheln es sanft, ertasten, erspüren es. Der blutige Familienstreit kann die intime Nähe dieser Beiden nicht stören. Wenn ein Stück vor der Pause auf diese Weise ein Happy End beschwört, ist der tragische Ausgang meist nicht weit. Auch in Heinrich von Kleists Drama Die Familie Schroffenstein: Zwei Linien einer Familie liegen im Clinch. Stirbt die eine aus, erbt die andere das Land. So wird jeder Tod auf der einen Seite der anderen als Mord in die Schuhe geschoben. Eine Romeo und Julia-Konstellation also: die beiden letzten Familiensprösslinge verlieben sich ineinander und werden zwischen den unerbittlich mahlenden Intrigensteinen schließlich zerrieben.
Es ist der zweite Kleist innerhalb weniger Wochen, der an den Münchner Kammerspielen seine Premiere erlebt. Hatte man mit der Inszenierung seines letzten Dramas Prinz Friedrich von Homburg den Theatertreffen erprobten Johan Simons betraut, wählte man als Regisseur für Kleists Erstling den gerne als "Geniewunderkind" apostrophierten Roger Vontobel. Seine Version des Kleistschen Jugenddramas zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass er die offensichtlichen Parallelen des Stückes - zwei sich bis in Details gleichende Familien richten einander mit Verve zugrunde - mit seiner Bühnenbildnerin Petra Winter in klare Bilder fasst.
In der ersten Szene tafelt vorn das Haus Rossitz, hinten das Haus Warwand. Zwischen ihnen erhebt sich eine Betonwand, sich nur in der Mitte öffnend, um die zentrale Blickachse freizugeben. Eine Szene später hat sich lediglich die Anordnung im Raum verkehrt: jetzt sitzt Warwand vorne und Rossitz hinten. Beide trauern um ihre toten jüngsten Söhne. Und weil hier wirklich alles eine Entsprechung findet ist die barocke Zentralperspektive, ist die alles gleich teilende, später oft ganz geschlossene Betonmauer am Platz, auch wenn es keine weiteren Verweise darauf gibt, dass dieses Bild historisch oder politisch gedacht ist.
Poltisch gedacht ist vielmehr der Charakter des Rupert, der Schlagworte wie "Rache" und "Krieg" brüllen darf und sich auch sonst als hart arbeitender Tyrann gibt. Durch radikale Streichungen werden Figuren wie er zu Klischees, gibt es die leisen Zweifel nicht mehr, die Möglichkeiten einer Umkehr, die die Geschichten erst zur Tragödie macht. Geradezu lustlos wird in der ersten Hälfte der Text absolviert, als wollte Vontobel endlich den langwierigen Intrigenkram hinter sich bringen, um zum Kern zu kommen. Da ist dann auch das großartige, am Ende zu recht bejubelte Ensemble aufgeschmissen. Es zieht sich. Und Kleists radikale Sprache mit ihrem Wortwitz, den ungewöhnlichen Pointierungen, ihrem augenöffnenden Wörtlichnehmen, bleibt jedes Glänzen versagt. Stattdessen gibt es plakative Videoeinspielungen mit einer Schroffensteinschen Gartenzwergidylle.
Doch dann bringt Vontobel eine weitere, altbewährte Parallelisierung ins Spiel: das Theater auf dem Theater. Statt einer Höhlenszenerie gibt es nur ein kleines Modell der Kammerspiel-Bühne, daneben zwei Hocker für Sebastian Webers Ottokar und Lena Lauzemius´ Agnes, die hier beginnen, ihre Situation mit Playmobil-Figuren zu verhandeln. Das berührt und hat Witz. Eine Kamera projiziert das Geschehen auf die Betonwand. Wenn nach der Pause Jochen Noch einen unglaublich blasierten, aalglatten Tyrannen gibt, der seine vermittelnde Frau gegen Wände rennen lässt, wenn die beiden Mütter verzweifelt nach ihren Kindern jagen und immer wieder durch die geöffneten Betonschotten hasten, wenn der Denk- und Erkenntnisprozess dem Jeronimus Paul Herwigs ins Gesicht geschrieben ist, entstehen Momente größter Unmittelbarkeit. Der Kern, auf den Vontobel hinauswill, ist die Überflüssigkeit dieses grausamen Konfliktes. Alles könnte so schön sein. Aber der Mensch, der ist nicht so.
Während Vontobel bei Kleist das Politische allzu plakativ findet, beginnt die ebenfalls noch junge Tina Lanik am Münchner Residenztheater erst gar nicht mit der Suche danach. Sie erzählt Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden als persönliche Tragödie eines Mannes, der den amerikanischen Traum zu seinem eigenen macht und daran scheitert. Dass Willys krankhafter Erfolgswille ein gesellschaftliches Problem sein könnte, wird lediglich angedeutet. Magdalena Guts Bühne ist voll gestopft mit Konsumkrempel: Kühlschränke, diverse Fernsehgeräte, ein Grill, Plastikstühle, Lampen, ein Bett mit Flokatiüberwurf. Hier zählt Linda ihrem Mann die Raten auf, die noch zu begleichen sind, für die Waschmaschine, den Staubsauger und das Haus. "Der Wettbewerb ist wahnsinnig!", sagt Willy. Erkenntnisse dieser Art bleiben folgenlos. Tina Lanik folgt ihm in seiner Fluchtbewegung, inszeniert später den jungen Manager Howard Wagner als schmierigen Gigolo, der sich mit seiner Digicam erforscht und nebenbei seinen Mitarbeiter Willy abwickelt. Das war´s dann auch schon mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dabei wäre es so lohnend, sich Willys Impuls entgegenzustellen und nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu fragen, unter denen diese Ideologie entstand und entsteht.
Übrig bleibt die Geschichte vom Niedergang der Familie Loman mit opernhaften Vorwürfen, Geblaffe, Tränen und einem kräftigen Schuss Fünfziger-Jahre-Moral. Sie wird von Tina Lanik konsequent mit einem überzeugenden Ensemble zu Ende erzählt. Lambert Hamel fällt als greiser Taschentyrann allmählich in sich zusammen. Mit Haltung versucht die Linda der Elisabeth Schwarz, die Familie zusammenzuschweißen. Marcus Calvins wendiger, ewig Optimismus hechelnder Happy ist das Gegenteil zu Oliver Nägeles Biff, dessen Bauch jeden Moment unter dem viel zu engen Anzug hervorzuquellen droht. Doch können diese Charakterstudien nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tina Lanik zwischen Cowboyhüten, Footbällen und XXL-Kühlschränken die Chance vertan hat, mit Millers Tod eines Handlungsreisenden etwas über uns hier und heute zu erzählen.
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