Die Geschichte der Krise seit 2007 kennt mittlerweile zahlreiche Stationen. Spätestens als aus der US-amerikanischen Immobilienkredit-Krise über diverse Zwischenstationen 2009 die europäische Staatsschuldenkrise geworden war, stießen auch die weniger aufmerksamen Beobachter_innen des Zeitgeschehens auf einen zentralen Begriff der medialen Berichterstattung: den der Schulden. Aus Krise und Verschuldung wurde ein Dauerzustand und so verwundert es nicht, dass in letzter Zeit eine ganze Reihe von Texten um diesen Begriff kreist.
Auch der in Paris ansässige, italienische Theoretiker Maurizio Lazzarato hat der Verschuldung eine Studie gewidmet. Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben ist im kleinen, feinen Berliner b_books-Verlag erschienen. An Lazzaratos Text zeigt sich ein wesentlicher Vor- und ein wesentlicher Nachteil der essayistischen Form: gute Lesbarkeit (auch Stephan Geenes tadellose Übersetzung sei an dieser Stelle gelobt) geht bisweilen zu Lasten der analytischen Tiefendimension. Lazzaratos Vorhaben, mit zeitdiagnostischem Impetus ein Feld zu erschließen, das von der Ökonomie über die Gesellschaftstheorie und Politik bis in die Philosophie reicht, hat die Schwäche, dass jeder dieser Bereiche für sich genommen ein wenig unterbelichtet bleibt.
Zweigliedriges Analysemodell
Die postoperaistische Theorietradition, der neben Maurizio Lazzarato unter anderem Michael Hardt und Antonio Negri (Empire) zuzurechnen sind, stellt ein mindestens zweigliedriges Analysemodell zur Verfügung. Die klassische linke Linie Marx-Freud wird in die wendigere Variante Marx-französischer Poststrukturalismus überführt. Wie die marxistische Perspektive eine Analyse der politisch-ökonomischen Makrostrukturen erlaubt, so bringt das poststrukturalistische Begriffsinstrumentarium die Mikrostrukturen, die Implikationen der Subjekte, deren psycho-soziale Konstitutionen, Unterwerfungen und Emanzipationspotentiale in den Blick. Jener Parallelführung von politischer Ökonomie (à la Marx) und der Analyse von Subjektivierungstechniken (à la Foucault, Deleuze, Guattari) folgt auch Die Fabrik des verschuldeten Menschen.
Lazzaratos zentrale These lautet, dass die Krise der Finanzen seit 2007 als Symptom einer viel tiefer greifenden Krise zu deuten ist. Einer Krise – Lazzarato schlägt vor, besser von Katastrophe zu sprechen –, die nicht das Resultat von Gier oder Exzessen (der Börsen, Bevölkerungen oder Staaten) ist, sondern das grundlegende ökonomische und psycho-soziale Organisationsprinzip des Kapitalismus selbst und – konkreter – der neoliberalen Politik seit den 1970er Jahren.
Unter Rückgriff auf den für den Poststrukturalismus so eminent wichtigen Nietzsche, weist Lazzarato die Annahme zurück, Ökonomie sei ein neutraler Tauschplatz gleichberechtigter Partner_innen. Im Gegenteil, sie setze immer schon asymmetrische Machtbeziehungen voraus, die sich im Verhältnis von Gläubiger und Schuldner manifestierten und im Kapitalismus als erpresserisches Verhältnis ausgedeutet und perfektioniert werden würden.
Die Fabrikation der verschuldeten Menschen
Entlang einer Theorie des Geldes bei Marx und Deleuze/Guattari schlägt Lazzarato vor, nicht von Finanzökonomie, sondern von Schuldenökonomie zu sprechen. Sowohl auf der Ebene der Subjektvität (Nietzsches These von der einverleibten Schuld), als auch auf jener der privaten und öffentlichen Haushalte seien die Schulden ein universelles Machtinstrument geworden, ein Mittel der Erpressung, und fungierten als strategisches Zentrum neoliberaler Politik. Die Fabrikation des verschuldeten Menschen zeige sich heute in Kreditkartenkäufen, Immobilienkrediten und Ausbildungsverträgen, aber auch – und tiefergreifender – in einer ständigen moralischen Verschuldung von Empfänger_innen öffentlicher Leistungen sowie in der schleichenden Verwandlung von Arbeiter_innen in – ihre eigene Schuldenlast (z.B. Alters- und Krankenvorsorge) verwaltende – Selbstunternehmer_innen und arbeitende Arme.
Als gesellschaftlicher Befund eröffnet Lazzaratos Essay ein spannendes Reflexionsfeld. Doch wenn es zutrifft, dass das, was wir gerade erleben, „nicht nur eine Finanzkrise“ ist, „sondern auch ein Scheitern der neoliberalen Gouvernementalität der Gesellschaft“, welche Formen emanzipatorischer Praxis könnten sich dann daraus ergeben? Diese Frage, auf die ein unverhohlen (links-)politischer Text wie Die Fabrik des verschuldeten Menschen zwangsläufig zuläuft, bleibt bei Lazzarato leider sehr notdürftig beantwortet: man müsse „Formen des Kampfes“ finden, die „über die gleiche Wirksamkeit“ verfügten „wie die Streiks der Industriegesellschaft“. Welche Formen das aber sein könnten, wird leider nicht einmal recht angedeutet. Eine „Annulation“ (doch eine kleine Übersetzungsschwäche) der Schulden, schlägt Lazzarto vor – schön und gut. Aber welche Schulden, wann und wo sollen sie annulliert werden?, möchte man fragen.
Michel Foucault
Im philosophischen Feld arbeitet Lazzarato solide, wenn auch nicht außerordentlich originell. Die philosophischen Begriffe von Schuld und Schulden aber mithilfe von Foucault im gesellschaftlich-politischen Feld verankern zu wollen und dabei zugleich zu betonen, dass Foucaults Theorien grosso modo für spätindustrielle Disziplinargesellschaften, aber nicht länger für die gegenwärtige neoliberale Gouvernementalität der Schulden gültig seien, nimmt sich etwas seltsam aus. So geht die begriffliche Ausformulierung der „neoliberalen Gouvernementaltiät der Schulden“ letztlich auf Lazzaratos eigene Kappe – und ist als solche etwas kurz und schludrig geraten.
Lazzarato ist Foucaults diskursanalytischer Methode in einem Ausmaß verpflichtet, das es ihm nicht erlaubt, das gesellschaftliche Feld anders als diskursimmanent zu denken und zu erschließen. Die Überwindung des „Diskurses“ von Moral und Schuld gilt ihm letztlich mehr als die reale Annullierung der Schulden. Vielleicht aber würde ein wenig Soziologie dem Text gut tun. Wie das laufen könnte, ist immerhin angedeutet: Lazzarato thematisiert die Hartz IV-Gesetze oder spricht über die Intermittents du spectacle in Frankreich. Die Intermittents sind temporär angestellte – und dementsprechend regelmäßig staatliche Arbeitslosenunterstützung in Anspruch nehmende – Künstler_innen und technische Angestellte in darstellenden und audiovisuellen Berufen. Lazzarato steht seit Jahren in engem Kontakt mit ihnen. Schade, dass er die Leser_innen nur in geringem Maße an den damit verbundenen konkreten Erfahrungen teilhaben lässt. Mehr davon hätte der Plausibilität seiner Thesen gut getan.
Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben. Maurizio Lazzarato Deutsch von Stephan Geene. b_books, Berlin 2012. 148 S., 12,80 €
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