Ein Meister der Menschenzeichung. Das war Elias Canetti ein Leben lang. Die drei Bände seiner Lebensgeschichte legen dafür unübertrefflichen Beweis ab. Nun liegt ein Buch vor, dessen aufzuckender Titel Party im Blitz von ihm stammen könnte, wenn auch das Manuskript in Wahrheit sich erst im Nachlass und da auch unbearbeitet vorfand. Wir haben es also mit zusammengefügten Bruchstücken einer Biographie zu tun, die sich aus verschiedenen Quellen, gemeint sind Schreibhefte, herleitet und vom Herausgeber Kristian Wachinger zusammengesetzt wurden, sodass die englischen Jahre als Lebensabschnitt gemäß dem Untertitel Form annehmen. Aber das Unbehauene des Textes tritt häufig zu Tage, äussert sich in den zahlreichen Wiederholungen beispielsweise, oder in Canettis gnadenlosen Gehässigkeit T.S. Eliot gegenüber.
Ob solche posthumen Veröffentlichungen sinnvoll und berechtigt sind, diese Frage kann man sich vor einem so ungeschliffenen, manchmal nur aufzählenden Text stellen. In seinen letzten Lebensjahren, England hatte er bereits verlassen und in Zürich Wohnsitz genommen, da beugte er sich über diese notizenhaften Memoiren und bemerkte: "Ich sehe noch keine Ordnung in dieser Erinnerung, aber sie wimmelt von Menschen, Redensarten, Schicksalen, Beleidigung und Rührung".
Da entsteht tatsächlich ein fesselndes Durcheinander von Begegnungen mit Schriftstellern, Philosophen, Kunstgeschichtlern, Adeligen, aber auch unprätentiösen Alltagsmenschen, etwa einem Straßenkehrer, die alle durch Canetti hindurch ans Tageslicht treten wollen. Abneigung, Zurückweisung, Bewunderung oder Hochachtung drückt er diesem Land und seinen Menschen gegenüber aus, das ihm seit 1938 Unterschlupf bot. England stellt für ihn "den moralischen Fundus meines Lebens" dar. Er kommt allerdings mit der Insel, wie man sagt: nicht zu Rande, entrinnt dem Zwiespalt zwischen Anerkennung und Ablehnung nicht. Aus der Zerrissenheit zwischen dem großen Ja und dem kleinen Nein (oder umgekehrt) kann er sich nicht befreien. Kennzeichnend dafür ist der kurze Absatz, wo er den "Blitz" erwähnt, der dem Herausgeber die Anregung zum Titel gab. Dem Bombenabwurf sehen die Partygäste zu, als wär´s ein Feuerwerk. Luftkämpfe verfolgen sie als handele es sich um eine Flugzeugschau. Während einer solchen Bombardierung Londons treffen berühmte und weniger berühmte Menschen auf einer Gesellschaft zusammen und lassen sich in ihrer mondän erotischen Abgehobenheit auch dann nicht stören, als die Feuerwehr die Haustür aufreißt und im Flur mit Sand gefüllte Eimer zwecks Brandlöschung in der Nachbarschaft davonträgt. Stoische Ruhe in der Gefahr und "Vertrocknung" als Lebensgefühl konstatiert er, zwischen Bewunderung und Unnachsichtigkeit schwankend.
Über seine eigene Lage verliert Canetti kein Wort. Sie war gewiss nicht rosig. In den Londoner intellektuellen Kreisen ist er praktisch unbekannt. Von seinem Werk liegt kaum etwas vor, geschweige denn, dass es übersetzt wäre. Die Blendung ist nur wenigen Kennern bekannt, Masse und Macht ist ein Projekt. Die Partygäste behandeln ihn mit ausgesuchter Höflichkeit, aber dass dahinter sich nichts anderes als ein Überlegenheitsgefühl verbirgt, das ist ihm längst klar. Cholerische Ausbrüche hat diese Verkanntheit zur Folge. Indem sie ins Leere verpuffen, legen sie eine gewisse Komik frei.
In die gesellschaftliche Statistenrolle abgedrängt, schärft sich Canettis Beobachtungsgabe. Darin liegt die Stärke seiner Aufzeichnungen. Sein Interesse am Menschen ist eindringend und grenzenlos. Immer wieder unterstreicht er seine Bereitschaft, ihnen Gehör zu leihen, die Zeit, die er sich nimmt, zuzuhören, einmal spricht er davon, Menschen auszuspionieren: "Wenn es nicht so lächerlich klingen würde, müsste ich sagen: Ein Spion war ich immer, ein Spion, der allen Spielarten des Menschen nachging, und wo eine solche Spielart deutlich zu erkennen war, mag ich mit besonderer Gier zugehört haben".
Indiskretion kommt dabei ganz und gar nicht ins Spiel, vielmehr Geduld und Bereitschaft, sich in den Nebenmenschen zu versenken. Wenn er dem Gefühl Ausdruck gibt, Gestalten seiner englischen Umwelt dränge es, durch ihn in die Kenntnis der Nachwelt heraufbeschworen zu werden, dann trifft er den Kern. "Ich will nur einige Charaktere am Leben erhalten, die mir damals zu Figuren wurden und die es geblieben sind, obwohl ich sie seit Jahrzehnten nicht gesehen habe." Ihn bewegt, so sagt er, der Wunsch, Zeugnis abzulegen von einem idyllischen England, das im Krieg untergegangen ist. Beim Eindringen in diese Aufzeichnungen entdecken wir, wie das Heraufgerufene, in das er selbst verwickelt ist, ihn innerlich bewegt.
Die Porträtgalerie, in die die Lektüre einführt, hat fürs erste den Anschein der Dokumentation. Der Vielbelesene verweist auf ein Vorbild im 17. Jahrhundert, John Aubrey, dessen Brief lives (Kurze Lebensbeschreibungen) er es "leidenschaftlich gern gleichtun" würde. Damit verweist er auf eine Fülle gedrängter Lebensbeschreibungen, in denen hohe und niedrige damalige Zeitgenossen umrissen werden, bis sie ein Panorama der Epoche liefern. Bei Canetti balanciert die Dokumentation auf der Trennungslinie, die das Nachprüfbare vom bedeutsam Erfundenen scheidet. Es ist eben kein historischer Bericht, den er da vorlegt, sondern Prosa, die der Beschreibung eine unausgesprochene Rückseite beifügt. Ab und zu gestattet sich der Autor einen Blick aufs das rückseitige Teppichmuster der Porträtierten, aber auch seiner selbst zu werfen. Die heraufgerufenen Gestalten mögen uns Heutigen nicht mehr von Bedeutung sein. Erkennbar und fesselnd bleiben heute die unterschwelligen Laute, die sie in Canettis Text freisetzen und die uns zu erkennen geben: so beschaffen ist also das Leben!
Elias Canetti: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Hanser, München 2004,
24 8 S., 15,90 EUR
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