Wer die riesige Halle Tony Garnier im Süden der Stadt Lyon durchschritten hat, in der zum fünften Mal die Biennale zeitgenössischer Kunst sich darstellt, wird auf die Frage, was er als Gesamteindruck zurückbehalte, die Antwort geben: »Jeder ist des andern Exot.« Der Obertitel, unter den die Organisatoren die Schau stellen, lautet ja auch »Austausch der Exotismen« (Partage d'exotismes). Exotisch nicht im Sinne von pittoresk, als Nervenkitzel für den Pauschalreisenden in entlegenen Landstrichen. Fremde Form und unerklärliche Aussage sind damit gemeint, die nicht als unverbindliches Spiel vom westlichen Betrachter eingestuft werden können. Den Wertekanon, der in Europa erst zögernd, sagen die Biennale-Direktoren Thierry Raspail und T
Thierry Raspail und Thierry Prat, in den großen Museen sowie beim Kunsthandel die Oberhand abgibt, strebt diese Biennale zu unterminieren an.Vor drei Jahren hatten die Lyoner Kuratoren die Kunst damit beauftragt, das betrachtende Subjekt irrezumachen. Damals stellte der Schweizer Harald Szeemann als Ausstellungsleiter seine Auswahl unter das Motto Der andere. Die Formel der Lyoner Biennale sieht in der Tat wechselnde Kuratoren für die Organisation der Ausstellungen vor. Dies Jahr steht Jean-Hubert Martin als Gastkurator an der Spitze des Konzeptgremiums. Er hatte 1989 im Pariser Musée national d'art moderne in einem weitgespannten Überblick die »Magier der Erde« (Les magiciens de la terre) aus den Antipoden des Erdballs vor Augen geführt. Ferne Kunst aus Gegenden, denen zu einem Gutteil die Schrift als Vehikel der kulturellen Überlieferung abging, deren Kunstproduktion als Kunstgewerbe eingeschätzt worden war. Er kämpfte damals für die Auffassung von weltweit gleichwertiger Kunstaussage. Inzwischen ist die Mondialisation eine Tatsache der Weltwirtschaft geworden. Auf die Kunst bezogen bedeutet sie zweierlei: der Sieg des Sterotyp (des überall Gleichen) oder die Ausweitung der schöpferischen Erfindung. Diese letztere will die Biennale jetzt demonstrieren. Was auf der Rückseite des Erdballs sich in Form von Kunstwerken niederschlägt, ist für uns nicht mehr eine Beiläufigkeit, das heißt zweitrangig, sondern gleichrangig mit der Kunstaussage, die in der westlichen Überlieferung verankert ist.Alle Kulturen sind vor dem ernsthaften Betrachter gleich, verkündet die Biennale in der Tat. Im Gespräch unterstreicht Jean-Hubert Martin, der die Eröffnung des Düsseldorfer Kunstpalastes vorbereitet, die Tatsache, dass wir aus unserer Wahrnehmung und den mit ihr verbundenen Assoziationen nicht ausscheren können. »Unseren eigenen Ethnozentrismus vermögen wir nicht zu leugnen«, bemerkt er. »Wir urteilen nicht von einem abstrakten Standpunkt aus. Die Vorurteile, die unsere Kultur bestimmen, können wir uns nicht aus dem Kopf reißen.«Der Exotismustausch enthält also einen Appell an die Toleranz beim Aufnehmen und Verarbeiten der Werke, die sich in der gewaltigen Lyoner Halle auf einer 4 km langen Ausstellungsstrecke ausbreiten. Übermannshohe blaue Stoffbahnen grenzen die zwanzig Abteilungen voneinander ab, innerhalb derer Werke aus allen Himmelsstrichen zueinandergeführt werden. Auf diesen sich durch den Raum schlängelnden Wegen ergibt sich ganz von selbst eine Überlagerung der Stile und Überlieferungen. Die außereuropäischen Kontinente blicken auf europäisches Erbteil zurück und integrieren es in ihre eigene formale Aussage. Der europäische Voyeur von gestern wird heute selbst ausgespäht und als exotisch demaskiert. Ein Beispiel: aus Peking steuert Jiangou Sui einen Diskuswerfer, gekleidet in den Mao-Look von einst, bei. Dessen Gebärde ist antikisierend, ein perfektes Zitat, aber die Hinterbedeutung der Form weicht vom Vorbild radikal ab.Ein anderes Beispiel liefert das Plakat der Biennale: eine weiße Rothaut mit Stierhörnern auf dem Kopf blickt von der Litfaßsäule herab: Auf den Namen Deutsch-Indianer haben ihn die Künstler Andrea Robin und Max Becher getauft. Die Verkleidung beschwört eine Exotik herauf, die mit Wonne das Ich des Dargestellten umstülpt. Exotisch ist jeweils der andere, im Falle des deutschen Überläufers aus den Festspielen von Bad Segeberg übernimmt das eigene Ich die Rolle des anderen. Er lebt eine exotische Ferne-Vorstellung als romantischem Freizeitvergnügen aus und gibt damit einen Fingerzeig auf eine existenzielle Wunschwelt.Der Deutsche Andreas Dettloff fühlt sich von Polynesien angezogen und macht sich dortige Geistesart zu eigen. Das bezeugen seine über und über tätowierten Maori-Schädel, deren Zähne weiß blecken. Überschrift: Meine Ahnen. Damit wird unverkennbar, dass die Kunst auf dieser Biennale eine Brücke von Nord nach Süd schlägt. Ihr Streben ist die Umformung überlieferter Sachverhalte, die nicht mehr stillschweigend als unverbiegbar hingenommen werden. Das beginnt beim eigenen Körper, der zum Substrat der Neudarstellung ausersehen wird. Was dem Ureinwohner recht ist, das ist der französischen Künstlerin Orlan billig. Mittels im Computer gestauchten Photographien unterwirft sie ihren Kopf Quetschungen, Augenverdoppelungen sowie Farbübermalungen, bis eine Selbstverzwitterung entsteht. Mittels Computer verwandelt der Künstler sich in ein Humanoidmonster. Indem sie die Grenze zum Virtuellen überschreitet, fußt die entstehende Kunst im Prinzip des Verzerrens oder der Desartikulation. Ein anderes Beispiel dafür stammt aus Griechenland. Aspassio Haronitakis Körper scheint mit einer Bärenhaut überzogen. Damit steht die Kategorie des Hybriden, der körperlichen Mischformen, im Vordergrund. In Tat und Wahrheit ist es der Computer, dessen Fähigkeit der Bildverformung diese Vorspiegelung ermöglicht und dadurch den Menschen (immer in der Person des Künstlers selbst) als zusammengestückeltes Wesen denunziert. Zwitter lautet somit das Losungswort einer Galerie von Vortäuschung, die systematisch den Zweifel an der Erscheinung nährt.Exotica betiteln Anne und Patrick Poirier mit Leuchtschrift eine Installation: im Halbdunkel einer Koje tritt uns ein heruntergekommenes Stadtpanorama vor Augen. Aus Industrieabfällen zusammengestoppelt, werden zerfallene Häuserzeilen, nicht mehr funktionierende Bahnhöfe oder ausrangierte Gaskessel vorgeführt. Zum Abfallhaufen geworden erweist sich die Erde eindeutig als nicht mehr bewohnbar wie der Mond. Die Künstler liefern den Rapport der Vergammelung. Die Archäologie des Zerfalls, die sie auf diese Weise rekonstruieren, macht das Museum als gleichberechtigt mit der ethnozentrischen Linie der Exotik deutlich. So versteht es sich, dass die Künstler ihr Bild vom Untergang als exotisch etikettieren. Ihre Beobachtung stützt sich nicht auf die kulturelle Differenz, sondern auf Materialabnützung, und die registrierten wir als befremdlich und erschreckend.Eine friedliche, um nicht zu sagen: heitere Bodenbedeckung breitet eine Gruppe südindischer Maler aus Kerala unter dem Sammelnamen Kallate Parameswara Kurup in einer speziell hergerichteten Koje aus. Das ist eine gelb-rote Installation, die eine rituelle Bedeutung hat. Hier ist von Niedergang und Verfall nicht die Rede, aus einer Unzahl von Opferschalen, im Kreis angeordnet, geht eine Bodenbemalung hervor. Bäumchen im Kleinformat stecken gleich starren Springbrunnen ihre Astfülle in die Luft. Was auf einen zeremoniellen Ursprung zurückgeht, rekurriert in der Ausstellung, die ihre eigenen Sinn-Bilder erschafft, auf einen autonomen Wert. Dieser drückt sich wiederum in einem ästhetischen Zusammenhang aus, was bedeutet, dass er jegliche Indienstnahme der gezeigten Objekte als unspezifisch von sich weist.Schönheit der Farben in schmeichelnder Anordnung kann durchaus im Dienst einer Aussage stehen, die Zweifel und Unerreichbarkeit vermitteln. Das gilt für Gloria Friedmans Stranger than paradise, eine Inszenierung von leuchtendem Grün und Blau, in dessen Mitte (eine Art magischer Zielscheibe) ein Kakadu steht. Mit ähnlicher Verführungskraft ruft der Argentinier Sergio Vega »das goldene Zeitalter samt Stechmücken« herbei. Auch da taucht ein buntfarbener Kakadu auf, vor einem Korb mit verlockendem Obst, über das sich Stechmücken hermachen. Das Paradies, das unser Maler vorgaukelt, ist schwer in Frage gestellt.Die Biennale bedrängt uns denn auch mit der fast unüberwindbaren Verständnisschwierigkeit des europäischen Betrachters angesichts von Werken, in deren kulturellen Hintergrund wir nicht einzudringen vermögen und den wir allein deswegen abwerten. Eine überlebensgroße, bemalte Bronzefigur starrt uns mit mandelförmigen Augen an. Exotisch kommt sie uns vor, pittoresk einen unverbindlichen Gefühlsschauer weckend. Aber welche darüber hinausgehende Resonanz sich der Plastik entringt, das bleibt uns verschlossen. Was in Indien, dem Land seines Herkommens, eine Anspielung auf rituell Vorgegebenes enthält, die der Bildhauer Reddy Ravinder fast totemartig vorbringt, das erinnert in unseren Breiten den Kenner europäischer Kunst der 30er Jahre an damals beliebte Monumentalfiguren. Ob wir es nun wollen oder nicht, dem großflächigen Frauengesicht begegnen wir auf zwei Wegen, der psychologischen Einfühlung oder der stilistischen Parallele. Als was wird es in Indien wahrgenommen? Ein Wahrzeichen welchen Lebensgefühls offenbart es dort? Austausch der Exotismen macht uns bei der Entschlüsselung einer solchen Figur vorsichtig.
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