Ein Streik der Schauspieler oder Musiker läuft immer auf eine Art von Selbstverstümmelung hinaus. Im Namen eines Prinzips, das wenig mit ihrer Kunst zu tun hat, torpedieren sie ihre an sich schon dem Fluss der Zeit anheim gegebene Arbeit. Das Publikum stoßen sie vor den Kopf, aber da ihr Lebenselement die Öffentlichkeit ist, schenkt diese ihnen andererseits landesweite Resonanz.
Kunst ist jedoch in ihrer Wirkung nie allein in sich beschlossen. Das belegen jetzt die Streikaktionen in Frankreich, die bereits zur Annullierung etlicher der großen Festivals geführt haben. Im Sommer verlagert sich der theatralische Schwerpunkt des Landes in den Süden. Das Festival von Avignon ist das prangendste Beispiel dafür mit seinem weltweiten Echo. Es soll nun bestreikt werden genauso wie das Festival von Aix-en-Provence, einem der internationalen Opernhöhepunkte. Im Ausstand befindet sich eben nicht nur das künstlerische, sondern auch das technische Personal der Theater. Die audiovisuellen Medien, vorab viele Produktionen des Fernsehens, sind ebenso betroffen.
Hier kommen Probleme ans Tageslicht, die einem deutschen Theaterbesucher ganz fremd sind. Das deutsche Theatersystem mit seinem in den kommunalen Budgets verankerten festen Ensembles, dessen Mitglieder Zwölfmonatsverträge (samt Urlaubsberechtigung) in der Tasche haben, steht im schroffen Kontrast zum französischen. Für eine Inszenierung geht man in Frankreich - mit den wenigen Ausnahmen der Staatstheater (Comédie Française) und Centres dramatiques - von ad hoc zusammengestellten Truppen aus, deren Mitglieder jeweils nur Stückverträge erhalten. Am Ende der Aufführungszeit verschwinden auch die Aufführenden von der Bildfläche. Theater lässt sich in dieser französischen Organisationsweise nicht nur künstlerisch, sondern ebenso auch sozial mit einem flüchtigen Gas vergleichen: Wer daran mitwirkt, sieht sich nach einer mehr oder weniger kurzen Zeitspanne arbeitslos.
Was macht ein Schauspieler, ein Musiker oder Tänzer, oder eben auch ein Bühnenausstatter in den Wochen, da er ohne Beschäftigung ist oder in unbezahlten Proben steckt? In die gleiche Kategorie der Teilzeitbeschäftigten gehören auch die vielfältigen Handwerker von Theater und Fernsehen. Sie alle schreiben sich in der Arbeitslosenkasse ein, was in Frankreich durch Erfüllung eines bestimmten Mindest-Arbeitsstundenkontingents möglich ist. Um die Bedingungen dieses Arbeitslosengelds wogt denn auch der Streit. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Kasse hochgradig defizitär ist, was nicht zuletzt mit der zunehmenden Anzahl der Unterstützungsberechtigten zu tun hat.
Maßgebliche Schuld an diesem unhaltbaren Zustand trifft jedoch die Arbeitgeber und darunter vor allem - erstaunlicherweise - die staatlichen Kulturproduzenten. Sie greifen mit Vorliebe auf intermittents (Teilzeitbeschäftigte) zurück. Feste Anstellungen verpflichten nämlich zu hohen Soziallasten. Diese Lohnnebenkosten vermeidet man, indem man Kurzverträge abschließt. Die Arbeitslosenversicherung springt dann mit ihrer Monatsentschädigung ein. So erklärt Stefan Lissner, der Leiter des Festivals von Aix-en-Provence, dass er die Hälfte seines Personals mit Teilzeitarbeitern aufstockt. Damit verschafft er sich hochqualifizierte Mitarbeiter zu einem vergleichsweise kleinen Preis. Andere stellen befristete Verträge aus, die etwa zwei Drittel der mit den Gehaltskosten verbundenen Abgaben decken, das letzte Drittel übernimmt die Arbeitslosenkasse.
Die Arbeitslosenkasse tritt also bei solchen Manipulationen als Ersatz für nicht vorgesehene Subventionen von Seiten des Kulturministeriums ein. Bedenkt man, dass aber nicht allein die Beiträge der Theatermitarbeiter diese Kasse speisen, sondern dass das ganze Land über die Sozialabgaben indirekt in sie einzahlt, dann versteht man, wieso der Arbeitgeberverband (Medef), der zusammen mit den Gewerkschaften diese Unterstützung verwaltet, Alarm schlug und eine Modifizierung des Statuts verlangte.
Der neue Vertrag löste nun eine wahre soziale Explosion aus. Die Zahl der nachgewiesenen Arbeitsstunden wurde darin auf 507 festgelegt, die von Teilzeitarbeitern innerhalb von zehn Monaten zu erbringen sind, wollen sie danach in den Genuss der Unterstützung kommen. Deren individuelle Höhe wurde andererseits heraufgesetzt, täuscht nicht über die Benachteiligung vornehmlich der jungen Künstler oder Techniker hinweg. Für sie ist es nämlich außerordentlich schwierig, die 507 Arbeitsstunden für die Bühne in der vorgesehenen Frist zusammenzukratzen. Der Kulturminister versprach zwar 20 Millionen Euro Unterstützung für junge, das heißt freie Truppen, aber der Staat ist in Frankreich ein schlechter Zahler. Schauspielschulen sind in der großen dezentralisierten Theaterlandschaft immer stärker ins Kraut geschossen. Ihre Absolventen, jung und dynamisch, entwickeln sich als treibende Kraft hinter allen Protesthandlungen gegen den Vertrag. Sie haben ja auch nichts zu verlieren, besonders was ihren Bekanntheitsgrad betrifft. Die "großen" Regisseure wie Patrice Chéreau oder Ariane Mnouchkine, die in Avignon mit ihren Produktionen wohl nicht zur Aufführung kommen werden, argumentieren nuancierter, weisen auf die Verbesserungen des Statuts hin - und werden ausgepfiffen.
Nicht zum ersten Mal loderte die Wut der Theaterschaffenden auf. Vor zehn Jahren hatte der ehemalige Leiter der Comédie Française, Jean-Pierre Vincent, der erfolgreich eine Schlichtungsmission durchführte, die Alarmglocke geschlagen. Frankreich müsse alle Betroffenen um einen runden Tisch versammeln und sich über die Leitlinien seiner Kulturpolitik klar werden, hatte er gefordert. Nichts dergleichen geschah. Die Verzweiflung über eine verfahrene Arbeitssituation ist nun gestiegen. Nach erprobter französischer Weise wird erst unter Wutausbrüchen der frustrierten Künstler und Techniker schnell-schnell eine Lösung zusammengebastelt. Jetzt aber fehlt es, wie überall in Europa, an Geld; nun werden die arbeitslosen Kunstarbeiter eine Verschlechterung ihrer Versicherung (weniger Geld für längere Zeiträume) hinnehmen müssen.
Die Verteidiger des Status Quo weisen mit Recht darauf hin, dass in den letzten Tagen die Auseinandersetzung um die Arbeitslosenkasse und die Drohung mit Aktionen auch auf theaterfernen Gebieten schlagartig die ökonomische Bedeutung kultureller Ereignisse klar machte. Die Bürgermeister der bestreikten Städte senden Telegramme an den Staatspräsidenten; sie sehen die touristische Saison im höchsten Grade gefährdet. Nicht zum Spaß der Mitbürger allein dient also das Theater.
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