Vornehm wird die Welt erkundet

Einsamkeit Und wo die Welt aufhört, fängt Cees Nooteboom erst an. Jetzt sind seine neuen Reiseerzählungen "Schiffstagebuch" erschienen

„Die Landschaft ist leer, aber nicht leer, die Stille ist still, aber nicht still.“ Wie paradox dies auch klingt: Wer das sagt, hat viel zu erzählen. Cees Nootebooms neue Reiseerzählungen „Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen“ führen bis in die entlegensten Winkel der Welt. Und wer Nooteboom kennt, weiß, dass es dort erst richtig anfängt. Denn auf seinen Reisen erweitert er seinen Horizont nicht in erster Linie geographisch, sondern vor allem durch das Eintauchen in die Tiefen der besuchten Orte. Egal ob Kap Agulhas am südlichsten Punkt Afrikas, ein längst verlassenes Minenstädtchen auf einer Insel im hohen Norden oder die Ruinenstädte der Maya in Mexiko: „Still ist alles und ich bedenke meinen Tag.“

Gedanklich begegnet Cees Nooteboom in seinen sieben Erzählungen der Einsamkeit in häufig abgeschiedenen, kaum bekannten Gegenden und knüpft so in bester Seefahrertradition an die Reisen des großen niederländischen Schriftstellers Jan Jacob Slauerhoff an. Einige der Reiseerzählungen in diesem Buch kannte man bereits aus niederländischen Zeitungen und 2008 erschien in Deutschland das wunderbare, mit einem Essay des Schriftstellers versehene Fotobuch Ultima Thule von Nootebooms Ehefrau Simone Sassen. Neben historischen Fotos finden sich auch im Schiffstagebuch von Sassen aufgenommene Bilder, die hier leider durch das kleine Buchformat nicht recht zur Geltung kommen. Außerdem sind sie oft rein illustrativ und fügen Nootebooms Beschreibungen wenig hinzu. So geschickt nämlich verknüpft er seine präzisen Beobachtungen mit der Vergangenheit, den politischen Umständen sowie den literarischen Traditionen seiner Reiseziele, dass miteinander verbundene Gedankencluster entstehen. Palimpsestartige Überlagerungen zeigen sich, die der Autor Schicht um Schicht freilegt, womit sie neue Bedeutung erlangen.

Diese Archäologie der Bedeutungen ist zweischneidig. Zwar führt sie einerseits zu einer beglückenden Sinntiefe und gewährt einen neuen, distanzierten Blick auf den Gegenstand der Betrachtung. Aber so faszinierend Nootebooms Schilderungen auch oft sein mögen, so stört andererseits mitunter die Haltung des betont vornehmen, gebildeten Schriftstellers, den anscheinend bei jedem Baum im mexikanischen Dschungel ein neuer tiefschürfender Gedanke überfällt und der immer wieder einen Schriftstellernamen aus dem Hut zaubern muss – was dann ziemlich peinlich wird, wenn aus B. Traven plötzlich Ben Traven wird.

Zu den gelungensten Texten gehört zweifellos das Kriegsdrama „Broome 42“ in Nordaustralien, wo sich ein wahres niederländisches Pearl Harbor ereignete. Diese Geschichte auf der anderen Seite der Erde ist nicht nur deshalb interessant, weil sie Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zum Thema hat, die in Deutschland fast unbekannt sind, sondern auch weil sie wegen ihrer menschlichen Nähe stellenweise schlichtweg ergreifend ist. Man sieht die japanischen Piloten in ihren Maschinen sitzen, spürt förmlich den Schrecken des nahenden Bombentodes, die Folgen einer fatalen Fehleinschätzung auf Seiten der Alliierten. An den Gräbern der Soldaten wird Nooteboom noch einmal still, wenn auch nicht ohne Pathos: “Sie waren den japanischen Lagern entkommen, starben nun aber fern ihres von Deutschen besetzten Landes, ohne es noch einmal wiedergesehen zu haben.”

Vielerorts folgt Nooteboom den großen europäischen Entdeckern wie Magellan und Hudson, begegnet in Neu Delhi oder Mexiko Stadt den Relikten des Kolonialismus. Denkmäler, Musik, Rituale – wie leicht könnte man hier der Versuchung des Exotisierens oder der Wehmut nachgeben – Nooteboom aber bleibt ganz bei sich, nimmt das Gesehene zwar zum Anlass, seinen Gedanken nachzugehen, geht in seiner Umgebung aber nie auf. Bezeichnend für das gesamte Buch ist eine Begebenheit auf Bali: Als Nooteboom in einem hinduistischen Tempel einen Sarong tragen muss, kommt er sich wie „ein grobschlächtiger holländischer Verwaltungsbeamter neben einem javanischen Fürstenpaar“ vor. Fremdartig ist nicht das Andere, fremdartig ist er selbst. Und wo er sich selbst durch die Augen der anderen sieht, lässt sich eine gesunde Demut erkennen, die dem Buch an keiner Stelle schadet.

Gerald Ridder ist Lyriker und übersetzt darüber hinaus niederländische Werke ins Deutsche

Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen Cees Nooteboom, mit Fotos von Simone Sassen Suhrkamp 2011, 283 S., 19,90

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