"Stelle dir vor", schreibt Lukrez in seinem über 2000 Jahre alten Gedicht "De rerum natura", in dem von einer Welt aus Atomen ausgegangen wird: "Stelle dir vor, dass die Erde wie oben so auch unten sich zeigt, erfüllt von windigen Höhlen, und sobald unten die Zeit einreißt die riesigen Höhlen, zittert oben die Erde, von mächtigem Einsturz erschüttert. Auch geschieht es, wenn mächtige Schollen in große und weite Schlünde voll Wasser, vom Alter zermürbt, von der Erde sich wälzen, dass von des Wassers Flut auch die Erde geschleudert wird, schwankend. Darum", so Lukrez´ Fazit aus dieser Katastrophe, "mögen sie noch so sehr glauben, Himmel und Erde würden gediegen in Obhut gegeben ewigem Heile" - es ist nicht so.
Lukrez schreibt im Übergang von der Römischen Republik zum Imperium Romanum, also in einer Zeitenwende, die der unsrigen im Übergang von der Demokratie zum "Empire", vom Nationalstaat zur Globalisierung vergleichbar ist. Doch Lukrez blickt der Endlichkeit des Menschen und einer ihn übersteigenden Natur ins Auge, ohne nach einem Gott und einer ihm unterworfenen Natur zu rufen. Für uns gilt dagegen seit dem "Tsunami Disaster" (CNN) eine Umkehrung, obwohl und weil es mit der Geburt Christi zusammenfiel. Die auf die Flut übertragenen Straf- und Untergangsmythen, denen Lukrez eine entmythisierte Naturerkenntnis entgegensetzt, die auch deren Versprechen von Obhut und Heil bekämpft, reichen von Sintflut bis Apokalypse, von unvorstellbarer Tragödie bis Hiroshima. Eben bezogen darauf lässt sich jedoch der Unterschied zwischen uns und Lukrez fixieren, denn aus seiner Welt der Atome entstehen die "Künstlerin Erde" und der durch sie geformte Mensch; unsere Welt der Atome produzierte die Bombe, die auf Hiroshima fiel.
Wird das "Tsunami Disaster" mit Hiroshima verglichen, folgt diese Übertragung der in jene Mythen eingeschriebenen Logik, dass das Disaster der zweiten Natur, das unserer Kultur, durch die erste Natur gerechtfertigt wird. Dieser Logik entspricht nicht nur, dass die pazifische Flut unter dem Fremdwort Tsunami gehandelt wird, sondern ihr entspricht auch, dass die Wellen dieser Flut, in Ersetzung des Höllenrachens, als Killerwellen fungieren. Dass dieser Rachen Rache nehmen, dass die als Fremdwort gehandelte erste Natur innerhalb unserer Kultur zum Laut einer zitternden, bebenden, erschütternden Sprache werden könnte - denn die Flut begann mit einem unglaublichen Lärm, so berichten diejenigen, die sie überlebten. Das ist nur in dem Maße unglaublich, wie unsere Naturbeherrschung auf dem Glauben an einen unendlichen Fortschritt basiert, der keine Endlichkeit anerkennt - weder die der Welt noch die des Menschen. Weil diese Welt nur als eine Welt des Menschen, nur als eine durch ihn beherrschbare "Stümperin Erde" firmiert, der über die Kernspaltung das entrissen wird, worin bei Lukrez die Samen des Lebens zu finden sind. Denn seine Atome empfinden, sie sind Urkörper, die Mensch und Erde durch eine sie übersteigende Natur vermählen, die auch eine unermesslich steigende Flut sein kann.
Dass Grönemeyers Lied Land unter abgesetzt wurde, verweist darauf, dass Wellen, die keine Alpträume, sondern Träume sind, aus der Vorstellung verbannt werden müssen, obwohl und weil mit dieser Vorstellung im Tourismus bare Münze gemacht wird. Diesem Geschäft mit der Flucht aus dem Dunkel unserer Kultur ins Licht einer anderen entspricht als Umkehrung, dass Touristen selbst als Katastrophe gelten, da sie reisend am Trans- und Export des Kapitalismus partizipieren. Sie schleppen ihn mit und ein. Darin aber, dass der Außenminister die Toten, die das Meer behielt, obwohl sie Einwohner der BRD gewesen sind, als "nationale Katastrophe" bezeichnete, darin kommt das Paradox jener zugleich verbannten und ausgebeuteten Vorstellung von der Bläue des Meers auf den Punkt. Die Titelgeschichte des Spiegel zur "Todeswelle" spitzt das zu bis zur makabren Pointe: "Khao Lak ist so etwas wie der Ground Zero der Bundesrepublik inmitten dieses Katastrophengebiets der ganzen Welt".
Durch ein nationales Begräbnis, als ob Touristen Soldaten seien, soll dieser Ground Zero entsprechend dem a priori eingeweiht werden, das der Kanzler am Ende des Jahres als Motto für eine seit dem 11. September 2001 geltende Zeitenwende aussprach: "Wir sind durch die Katastrophe alle - unteilbar - erschüttert." Für Unteilbares gilt jedoch, dass es unerschüttert ist - außer in seiner Starre brächen Verflüssigungen auf. Dieses Unteilbare ist darum das "Herzstück" des Diskurses der Einen Welt, die seit dem New Yorker Ground Zero als Ganze Welt verkündet wird, die jede andere aus sich ausgrenzt: Von den Rändern dieser "Restwelt" holte sich jetzt das Meer die Ärmsten der Armen. Und doch drückt unsere Flut von Spenden - wird sie als ein Meer von Tränen vorgestellt - den Preis aus, den wir in diesem "Kampf gegen den Terror" einer ersten Natur zu zahlen haben, auf die unsere Kultur all das ablädt, was sie dem Untergang weiht.
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