Geschichte wird Mythos, wenn ihr das Geschehen ausgetrieben wird. Die Zeitlosigkeit der Zeit ist erreicht, wenn niemand mehr an ihr beteiligt ist. Sie steht still in ihrer Beschleunigung, oder sie beschleunigt sich in ihrem Stillstand. Dort kann sie mit einem durchdrehenden Rad verglichen werden, hier mit einem Fortschritt, der sich in Lichtgeschwindigkeit auflöst. Für die Geschichte heißt dies, daß sie einerseits unter einem Wiederholungszwang steht, der sich automatisiert, während sie andererseits vor sich selber flieht. Ihr in Lichtgeschwindigkeit sich auflösender Fortschritt bleibt sich selbst überlassen, indem die Geschichte sich aus sich selbst zurückzieht. Sie reproduziert die Zeitform des Mythos, indem sie sich enthistorisiert. Denn die Zeitf
Mythenzeit - die Bomben des Lichts
Blumen führen durch das Jahr Schneeglöckchen
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itform des Mythos verhält sich, als ob alles immer und nie geschehen sei.Auch die Zeitbezeichnung »Abendland« wird durch die Zeitform des Mythos bestimmt. ÂWenn in Capri die rote Sonne im Meer versinktÂ, dann besingt sich das Abendland selbst, als sei alles immer so gewesen, daß in Capri ein Da Capo erklingt - da Capo: wenn am Morgen die rote Sonne dem Meer entsteigt, dann begrüßt sich dieses Land in ihr - verjüngt. Auf die Frage, was dieses Land im Dunkel getrieben hat, antworten seine Mythen, es habe vom Abend bis zum Morgen gegen das Dunkel gekämpft, als ob der Geschichts- ein Sonnenlauf, als ob zwischen dem Rad des Wiederholungszwangs und der Lichtgeschwindigkeit des Fortschritts kein Unterschied sei.Himmelsschlüssel Die jüngste Reprise dieses, das Licht aus den »Krallen« des Dunkels befreienden Kampfs begann ihrerseits am 24.3.1999 gemäß dieses Timings des Sonnenlaufs um 18.55 Uhr in der Dämmerung. Das Grauen ihres Zeitenwandels illustriert seit Jahrtausenden den Sturz von Göttern und Götzen, deren »Antlitz von der Erde getilgt« werden muß. Denn das Grauen der Dämmerung ist Krise, ist Krieg. Seitens des Lichts starteten siebzig Jets, als wiederhole sich der alteuropäische, den Winter austreibende Weihefrühling, das ver sacrum. »Orangene Blitze« erhellten die Nacht. Seitens des Dunkels gelingt gegen 24.00 Uhr der Abschuß eines B-2-Modells - laut Licht: ein »veralteter« Tribut an den Winter, der es auf seiner Bahn nicht hemmt. Denn das Licht bewegt sich immer wie ein Fisch in seinem Element, der sich im Abendland-Latein nato nennt (vgl. Taschen-Heinichen, lat. nato ptc.präs. = Fisch/Schwimmendes).Man könnte diesen Fisch mit dem Leviathan gleichsetzen, dem Drachen, der nicht nur die Metapher für den modernen Staat abgibt, sondern der auch das Licht in seinen »Krallen« hält, ob es die des Dunkel sind oder die des Winters. Weil sich dieser Fisch Nato aber gleichzeitig wie das Licht in seinem Element bewegt, ergibt sich ein Widerspruch? Er ist keiner, wenn das Licht mit dem von ihm bekämpften Dunkel im Bunde ist. Nato ist ein Verteidigungsbündnis - ein Bündnis des Lichts. Und Nato ist dem Atlantik entstiegen - dem Element des Fischs, in dem die rote Sonne untergeht. Daraus ergibt sich eine Kombination aus Licht und Fisch, die dem Drachenkampf entspricht. Denn er ist für das Grauen jenes Zeitenwandels der Götter- oder Götzendämmerung das zeitlose Bild, das aus Lichtgestalt und Leviathan zusammengesetzt ist.Schwertlilien Nato ist also ein Licht-Fisch, der, ununterbrochen Krisen als Krieg provozierend, Wasser und Luft durchschwimmt - nichts darf seine streamline im Kampf um die anbrechende Zeit behindern. Doch das Ziel seiner Luftschläge, die keine Âins Wasser sein sollen, ist stets der mit Menschen überfüllte Boden. Die eroberte Zeit muß sich den Raum unterwerfen. Sein Boden muß leer sein, als habe ein »Tornado« gefegt, wenn seine Schlacht- zu Kornfeldern werden sollen. Die Ernte des Kriegs kann nur dann wachsen, blühen und reifen, wenn sich zuvor eine Sintflut aus Blut- und Menschenströmen ergießt. Flüchtlinge machen Bodentruppen Platz, das ist der Lauf der Zeit, falls ihre Drachensaat gedeiht. Der Schlachtruf der coloni, der alteuropäischen Siedler, gilt darum weiterhin: »Wer einen Krieg gewinnen will, muß auch bereit sein, ihn zu führen«.Das Wie seiner Führung ist nicht nur in den Sonnenlauf eingeschrieben, sondern auch aus dem Bild des Drachenkampfs abzulesen, der mit dem Untertauchen des Angreifers beginnt, mit dem des Lichts. An seiner Stelle taucht das Dunkel auf, das Angegriffene. Alles erscheint im erbleichenden Schein des Lichtes so, als ob die im Meer versunkene, rote Sonne ein Opfer des Dunkels geworden sei. Derweil schlägt ihr Feuerball als »Tarnkappenbomber« zu. Denn das Licht ist mit dem Dunkel - gegen das Dunkel - im Bunde, das gespalten wird, als wiederhole der Schöpfergott sein schneidendes Wort »Es werde Licht!« Der Leviathan wird erlegt und in Dienst genommen. Teile und herrsche, ist das Motto der Führung, die sich im Dunkel verbirgt. Sie führt Âhinters LichtÂ. Der Schein seines augenscheinlichen Unter- und Aufgangs beglaubigt ihr Versprechen, daß das Licht aus dem Schoß der Zeiten stets aufs Neue aufersteht.Johanniskraut Das Licht des Friedens wird leuchten über uns, wenn wir die sich verfinsternde Welt gegen das Dunkel »verteidigen«. Dabei »führen wir keinen Krieg, sondern wir sind aufgerufen eine friedliche Lösung mit militärischen Mitteln durchzusetzen«. Eine prophetische Stimme ruft uns auf, als ob es unsere eigene sei. Sie rüttelt uns wach im Namen des Lichts, das Weg, Wahrheit, Logos, Vernunft und Aufklärung ist. »Wir heute können uns dem Erbe dieser Aufklärung nicht entziehen«, so Derrida, der die Apokalyptik dieser Aufklärung untersucht, »wir können und dürfen nicht - so lautet unser Gesetz und unser Geschick - auf die Aufklärung verzichten, die in sich ein apokalyptisches Verlangen bewahrt, was auf die Vision, das bevorstehende Ende, die Theophanie, die Parusie, das jüngste Gericht« spekuliert. Die Propheten dieser Aufklärung sind heute chiliastische Börsianer, die mit Kriegs- als Friedensgewinnen ohne eschatologischen Aufschub handeln.Geboten wird dabei, erstens, Notwendigkeit: Die Verteidigung von »Freiheit, Demokratie und Menschenrechten« ist unfreiwillig. Zweitens, Schicksal: Es selbst ruft zu den Waffen, die »Nothilfe« sind. Sie wehren nicht nur eine »menschliche Tragödie« ab, sondern sie verhindern eine »humanitäre Katastrophe«. Drittens, Gesetz: Wir selbst werden in den Abgrund gerissen, wenn wir die »Last des Krieges« nicht tragen. Viertens wird Gesetzlosigkeit angepriesen: Das »Morden« sich freiwillig mit Kriegsbeilen erschlagender, primitiver Ethnizitäten. Ihr »Morden« verweist wiederum auf die Notwendigkeit, daß die unfreiwillige Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten »Tomahawks« und »Apaches« erfordert. Denn nur diese »militärischen Mittel« sind imstande, die Kriegsbeile auf jene Ethnizitäten zurückzuschleudern, da sie mit dem Dunkel - gegen das Dunkel - im Bunde sind. Der Krieg des Lichts hat mit »Morden« nichts zu tun. Er ist eine »chirurgische« Operation, die von sich sagen kann, daß sie im schmutzigen Kampf mit dem Dunkel sauber geblieben ist.Herbstzeitlose Dieser saubere Krieg zielt, wie eh und je, auf den Tod. Ihm entspricht seit dem biblischen Sündenfall und dem Eisernen Zeitalter der Antike (Hesiod) ein Lebensanfang, der wert ist, daß er zugrunde geht. Heute kompensiert diese Entwertung des Lebens kein Paradies oder Goldenes Zeitalter mehr, außer man nähme den »Westen« selbst dafür, der diese Vision als seine eigene mit »militärischen Mitteln« aufrechterhält. Die im Krieg explodierende Gewalt ist in die Zeitstruktur des Lebens eincodiert - waltend als Schicksal, verwaltend als Gericht. Niemand, der nicht mit der Zeit zu gehen hat - und wenn es ein Exodus ist. Denn alle haben ihr Leben von Geburt an verwirkt. Deshalb haben sie es entsprechend dem Wert ihrer Arbeitszeit zurückzuverdienen, bevor der Tod sie ereilt - und sei es als »Begleiterscheinung« des Krieges im Bus, der von Bomben zerrissen wird.Das Schicksalsrad rollt noch immer bis hin zum durchgedrehten Wiederholungszwang, der Menschen zu Dingen macht. Die Zeit des Eisernen Zeitalters der Antike ist inmitten ihrer Beschleunigung stehen geblieben: »Darein, woraus die Dinge ihre Entstehung haben, finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße, gemäß der Verordnung der Zeit«. Die Zuteilung der Zeit als Strafmaß gilt nicht nur bei Anaximander, sie gilt auch für den biblischen Sündenfall. Sein Soll der Buße wird ebenso wie sein Haben von Sühne ins apokalyptische Buch des Lebens eingetragen. Aufgeschlagen am Tag des Gerichts, der sich die Zeit unterwirft, werden »die Toten gerichtet, jeder einzelne nach seinen Werken. Und wenn jemand nicht im Buch des Lebens verzeichnet gefunden wurde, wurde er in den Feuerpfuhl geworfen«, so Johannes, der eine göttliche Buchführung im Jenseits verkündet, die vom Diesseits noch unterschieden ist.Christrose Seitdem wird der Tag des Gerichts aufgeschoben, weil er auch die Richtenden selbst erfassen würde. Längst ist der apokalyptische Endkampf, der den Anfang einer neuen Ordnung als die sich Âenthüllende Wahrheit von Logos, Vernunft und Aufklärung begründen sollte, identisch mit jenem Feuerpfuhl, in dem ein »zweiter Tod« gestorben wird, der endgültig ist. Von der Apokalyptik der Aufklärung ist nur die Katastrophe geblieben, die sich heute nicht nur als Hilfsaktion oder »chirurgische« Operation im Reich des Friedens darstellt, sondern als die Realisierung dieses Reichs selbst. So wird in jenem »ersten Krieg, in dem das Vereinigte Europa gegen das Europa der Vergangenheit steht«, die Wegsäuberung von Geschichte durchexerziert. Eben darin besteht das Neue dieses Kriegs.Sein Reich des Friedens Âenthüllt nichts mehr, da es mit einer Zerstörung identisch ist, an deren »militärischen Mitteln« niemand mehr beteiligt scheint. Sie erledigen eine Operation, die sich von selbst erledigt, sonst nichts. Das »Morden« ist ihnen in dem Maß ausgetrieben, wie sich der Wiederholungszwang der Geschichte automatisiert. Die Geschichte wechselt damit ihre Zeitform. Sie verhält sich wie die des Mythos - als ob alles immer und nie geschehen sei. Immer, soweit ihr Schicksalsrad durchdreht. Nie, soweit ihr Fortschritt sich in Lichtgeschwindigkeit auflöst.Der Siegeslauf dieses Fortschritts, seiner »militärischen Mittel«, stellt sich als Sonnenlauf dar. Er kulminiert in einer Zeitlosigkeit, die mit der Lichtgeschwindigkeit dieser »militärischen Mittel« korrespondiert. Sie sind der Geschichte keine Rechenschaft mehr schuldig - wie es scheint. Das Licht braucht kein Mandat, weil es seine eigene Vollmacht ist.
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