Einen Airport ohne Lärm gibt es nicht. Auch für Autobahnen, Stromtrassen oder Großbaustellen wie Stuttgart 21 gilt: Infrastrukturvorhaben, die niemanden belasten oder stören, sind in einem Land mit einer Bevölkerungsdichte von 231 Einwohnern pro Quadratkilometer nicht zu haben. Solange wir uns nicht mit dem bescheiden, was wir haben, kann es also nicht darum gehen, solche Projekte generell zu verhindern.
In München, Frankfurt und Berlin laufen Proteste von Flughafengegnern. Doch ist es denkbar, den Lärmterror innerstädtischer Airports wie Berlin-Tegel und Tempelhof zu beenden, ohne Ersatz vor den Toren der Metropole zu schaffen? Eben. Man kann auch jahrelang über Genügsamkeit oder „Suffizienz“ diskutieren – für die Komplettumstellung unserer Versorgung auf erneuerbare Energien werden wir um die Aufrüstung der Stromnetze nicht herumkommen. Auch nicht um einige tausend Windräder, jedes einzelne höher als der Kölner Dom.
Bei der Frage des Ob von Großprojekten geht es zudem immer seltener um soziale Fragen. Nicht einmal mehr Flughäfen sind heute Einrichtungen nur für Reiche, unter denen Schwache leiden. Wäre es so, wäre die Gefechtslage übersichtlich: Weg mit …! Aber Fliegen ist längst ein Massenvergnügen. Ganz zu schweigen von den Waren, die auf dem Luftweg und vornehmlich nachts einschweben und auf die nicht nur Reiche ungern verzichten.
Exekutoren des Sankt-Florian-Prinzips?
Also alles in Ordnung? Bürgerinitiativen als provinzielle Exekutoren eines überholten Sankt-Florian-Prinzips, die notfalls niedergerungen werden müssen? Auch das wäre grundfalsch. Denn tatsächlich liegen ja viele Bürgerinitiativen richtig. Nicht, weil wir neue Infrastruktur nicht brauchen, sondern weil Projekte meist schlecht geplant und ohne Bürgervoten durchgezogen werden. Heute ist es so: Die Bürgerbeteiligung setzt im Genehmigungsverfahren erst ein, wenn sich die Flughafengesellschaft, der Stromnetzbetreiber oder die Deutsche Bahn mit den Behörden mühevoll bis ins Detail verständigt haben. Was die Beteiligten dann für die „beste Lösung“ halten, wird mit Zähnen und Klauen verteidigt, in der Regel durch alle Instanzen – und gegen den Widerstand der „Querulanten“.
An der Frage, ob das so bleibt, entscheidet sich mehr als die Verlegung der einen oder anderen Höchstspannungsleitung unter die Erde. Das zeigt das Lehrstück Stuttgart 21. Es geht um einen Bahnhof, sicherlich. Aber noch vielmehr geht es um die Frage, ob die repräsentative Demokratie an ihre Grenzen stößt, weil immer mehr Menschen sich von ihr und ihren Repräsentanten abwenden. Oder ob sie ihre Grenzen verschiebt und der einst schweigenden Mehrheit mehr anbietet als ein Kreuz auf dem Wahlzettel alle vier Jahre. Wir debattieren in diesen Monaten nicht nur Flugrouten, Bahnhöfe oder Stromtrassen, sondern ein neues Gleichgewicht zwischen repräsentativer Demokratie und direkter Teilhabe. Daran entscheidet sich letztlich der künftige Charakter unseres Gemeinwesens. Wollen wir Mutbürger oder Wutbürger, Interessierte oder Frustrierte?
Ganz praktisch geht es darum, den Sachverstand und die Intelligenz der Bürger rechtzeitig einzubeziehen. Es geht darum anzuerkennen, dass Fehlplanungen vermieden und bessere Lösungen gefunden werden, wenn man Betroffene frühzeitig hört. Es kommt seltener zu jahrelangen Auseinandersetzungen vor Gericht. Denn in dieser Gesellschaft schlummert viel mehr konstruktiver Beteiligungswille als gemeinhin angenommen. Er muss gepflegt werden, damit die wirklichen Querulanten nicht zum Zuge kommen. Wir brauchen eine neue Beteiligungskultur: Es genügt nicht, einmal darüber geredet zu haben.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20 Grundgesetz. Niemand soll glauben, eine Rückverlegung der Demokratie dorthin, wo sie nach dem Wortlaut unserer Verfassung herkommt, sei einfach zu haben. Wie verbindlich sollen die neuen Beteiligungsformen sein? Wie feinziseliert dürfen sie in Gesetzen und Verordnungen geregelt werden, um tatsächlich mehr Teilhabe zu schaffen und nicht nur neue Ausschlusstatbestände? Und wichtiger als alles: Wie verbindlich ist das, worauf sich Behörden, Bauherren und Betroffene verständigen?
In Berlin hat der Aufstand der Bürger nach jahrelanger Geheimhaltung und Fehlinformation spät zu einer ernsthaften Suche nach besseren Lösungen für die Flugrouten geführt – immerhin. In Frankfurt gab es – die Erinnerung an bürgerkriegsähnliche Szenen an der Startbahn 18 West im Nacken – ein langes und vorbildliches Mediationsverfahren um die neue Landebahn. Das Ergebnis versprach den Anwohnern täglich zwischen 23 und 5 Uhr einige Stunden der Ruhe und nahm den Protesten die Spitze. „Keine neue Landebahn ohne Nachtflugverbot, kein Nachtflugverbot ohne neue Landebahn“, tönte der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch – ehe er mit Bedauern feststellte, leider lasse sich nicht realisieren, was ausgehandelt wurde. Die Empörung darüber hält bis heute an. Zu Recht. Denn wenn das Beispiel Schule macht, ist das Ansinnen, die repräsentative Demokratie weiterzuentwickeln und attraktiver zu machen, gescheitert. Zurück bleiben die Wutbürger.
Der Journalist Gerd Rosenkranz ist Leiter Politik der Deutschen Umwelthilfe
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