Der Einbruch des Irrationalen und des Grauens bewegt die Gazetten, die Wissenschaft und die Politik. Ein "auffällig unauffälliger" junger Mann rastet aus und seine unerklärliche Tat benötigt einen Begriff. Das exotische Amok scheint das blutige, bis dahin in Deutschland unvorstellbare Geschehen beschreiben zu können.
Den Amoklauf definiert der Duden als einen "Anfall von Geistesgestörtheit", bei dem der Täter mit gezücktem Dolch oder einer anderen Waffe umherläuft und jeden, dem er begegnet, zu töten versucht. Doch die "blindwütige Mordsucht" und "plötzlich auftretende Raserei", die den Amok charakterisiert, ist beim Mordschützen Robert Steinhäuser nicht ersichtlich. Der Mörder von Erfurt hat das Massaker von langer Hand vorbereitet und für Maskierung und ausreichende Munition gesorgt; er wählte den Ort seiner Tat sehr bewusst, und er zielte exakt auf seine Opfer, hauptsächlich Lehrerinnen und Lehrer.
Obwohl bei dieser Tat alles auf einen lange vorher geplanten Massenmord, in der Ausführung auf gezielte Hinrichtungen und ganz und gar nicht auf eine Handlung aus Affekt hindeutet, benutzen Medien und Wissenschaft den Begriff Amok weiterhin als schlagkräftigen Begriff. Warum?
Der Einbruch des gewalttätigen Fremden
Das aus dem Malayischen stammende Fremdwort bezeichnet "Wut" und steht ursprünglich für einen spontanen, aggressiven, gewalttätigen Ausbruch von Männern, der mit anscheinend unbegründeten Tötungsangriffen auf Menschen und Tiere einhergeht, die dem Amokläufer (malayisch: pengamok) zufällig begegnen. Typischerweise zieht sich der Täter vor seinen Mordtaten oft von seiner Umgebung und in sich selbst zurück. Nach dem Massaker ist der Betreffende erschöpft, bricht zusammen oder verfällt in einen langen Schlaf und hat Erinnerungslücken. Häufig endet der Amok im Selbstmord.
Durch die Herkunft des Begriffs aus einer solch exotischen Sprache, wie es das Malayische darstellt - es gibt so gut wie keine anderen malayischen Fremdworte im Deutschen - wird der Massenmord als etwas Exotisches und Rätselhaftes aufgewertet. Der Begriff suggeriert, dass in das beschauliche Leben einer Mittelschichtsfamilie und einer intakten deutschen Landeshauptstadt ein fremdartiges Phänomen aus einer anderen Welt, quasi ein Alien, platzt.
Die populärpsychologischen Deutungsversuche tragen diese Abspaltung des Unbekannten vom Unheimlichen mit. Der Amoklauf wird als die Entladung lange gehemmter Aggressivität erklärt, wie ein Dampfkessel entweicht die angestaute Frustration nach einem Verlust eines Arbeitsplatzes oder des Verweises von der Schule. Der Psychiater Lothar Adler spricht von einer Eiterbeule, die irgendwann platzen muss. Der Erfurter Amokschütze gilt als unauffälliger Einzelgänger, bei dem es plötzlich zu einer irrationalen Enthemmung kommt. Amokläufer - so die These - verlieren durch existenzielle Kränkung die Kontrolle über ihr Leben und damit über ihr Handeln. Auch der Kriminologe Joachim Kersten nennt das Erfurter Geschehen Amoklauf, da der Täter keinerlei Empathie mit den Opfern gehabt habe und in einem rauschhaften Zustand gewesen sei.
Ein weitergehender Ansatz erklärt das individuelle "Ausrasten" im Massenmord mit den gesellschaftlichen Umbrüchen. Zwischen Amok als kulturellem Muster und der Globalisierung zieht der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg einen Zusammenhang.
Politische Psychoanalyse: Amok und entfesselter Markt
Die niedergerissenen Grenzen im Inneren des Menschen entsprechen demnach dem grenzenlosen Kapitalismus. "Die Gesellschaft des entfesselten Marktes", so dokumentiert die Frankfurter Rundschau Eisenberg, "muss sich des klassischen analen Syndroms entledigen, das die Menschen unflexibel macht und ihre Konsum- und Genussfähigkeit begrenzt, und appelliert unentwegt an narzisstische Selbstdarstellungsbedürfnisse, die durch den Erwerb irgendwelcher Konsumgüter oder Dienstleistungen zur Ruhe kommen sollen."
Der Narzissmus werde so zum Gleitmittel der Geld- und Warenzirkulation und verantwortlich für deren pathologische und zutiefst destruktive Aspekte. Die Kapitalströme reißen nicht nur gesellschaftliche Grenzen nieder, sondern sie zerstören auch die herkömmlichen Formen sozialer Integration. Immer mehr Menschen, so Eisenberg, bildeten eine fragmentarische Identität und Charakterzüge aus, welche die Psychiatrie als das pathologische Borderline-Syndrom bezeichnet.
Aus dieser Perspektive verlieren die sozialisierenden Instanzen ihren Einfluss und führen zu psychischen Defiziten: Aggressionen halten sich dicht unter der porösen Oberfläche des schwachen Ich und drohen wegen der gleichzeitig erhöhten narzisstischen Verletzbarkeit bei kleinsten Kränkungen durchzubrechen. Wird uns der Amoklauf des hochproduktiven und fiktiven Kapitals alle in einem finalen sozialen und psychischen Crash in die Selbstzerstörung reißen, wie es Eisenberg als Apocalypse Now andeutet?
Der blinde Fleck der Ursachenforschung
Unerklärlich bleibt bei dieser politischen Psychoanalyse, warum malayische Männer Amok gelaufen sind, ohne unter Globalisierungsfolgen gelitten zu haben. Das Amalgam von Psychoanalyse und antikapitalistischer Kritik übersieht auch eine herausragende Signifikanz: Frauen sind auf dem malayischen Archipel wie auch in den USA und Europa fast resistent, mit Massenmord auf sozialen Stress und "Kränkungen" zu reagieren. Adler wertete 196 Amoktaten aus und fand 95 Prozent männliche Täter. Die Täter waren durchschnittlich ca. 35 Jahre alt und eher gut ausgebildet; sie waren aber zur Tatzeit beruflich schlecht integriert. Häufig waren sie "Waffennarren". Diese eindeutige Statistik hinsichtlich der Männlichkeit des Massenmords wird zwar immer wieder hervorgehoben, nicht zuletzt vom Kriminologen und jetzigen niedersächsischen Justizminister Christian Pfeiffer. Doch für die Ursachenforschung und die Suche nach Prävention bleibt die Männerspezifik weitgehend ein blinder Fleck.
Evident wird dies bei der Diskussion über das Bildungssystem, das mit den Schüssen von Erfurt ins kritische Visier genommen wird. Das Gymnasium habe keinen "Sensor für Kränkungen" besessen, als der Täter ins Versagertum gestoßen wurde. Die Eliteeinrichtung Gymnasium, so urteilt Christian Füller (vgl. Freitag, 3. 5. 2002) sei selbst ein schrecklicher Versager.
Doch warum fand das Massaker nicht an einer Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt statt? Weshalb wurde das Massaker an der Columbine High School in Littleton von Jungmännern der weißen Mittelklasse verübt? Im Gegensatz zum Einzelgänger Robert Steinhäuser planten Dylan Klebold und Eric Harris gemeinsam den Massenmord und sie richteten jene hin, die sie am meisten hassten, ihre erfolgreichen MitschülerInnen. Erstaunlich sind diese Gewaltexzesse hinsichtlich der Schichtzugehörigkeit. Gewaltkriminalität zwischen Männern hat seinen Schwerpunkt eher in der jugendlichen Underclass-Kultur. Für die Gewalt gegen Frauen gilt dies nicht, da Männer in allen Schichten Herrschafts- und Besitzansprüche gegen Frauen geltend machen.
Geschlechtsspezifische Deklassierungsängste
Die Diskurse über geschlechtsspezifische Pädagogik, die in den achtziger Jahren von Feministinnen angezettelt wurden, werden in Zukunft wohl schärfer munitioniert. Mädchen passen sich besser an die Erfordernisse der Schule an, sie gelten als konfliktfähiger und sind erfolgreicher. Nach den Angaben des Berichts zur Berufs- und Einkommenssituation von Frauen und Männern, den das Bundesfamilienministerium Ende April vorgelegt hat, haben Frauen bei der Ausbildung gegenüber Männern aufgeholt und sie sogar überholt. Im Jahr 2000 schlossen 27 Prozent der Schülerinnen an allgemeinbildenden Schulen mit dem Abitur ab, aber nur 21 Prozent der Schüler. Das Gymnasium bietet die Chance eines sozialen Aufstiegs, aber inzwischen gilt dies eher für Mädchen als für Jungen.
Die männliche Jugend ist inzwischen weniger erfolgreich, und nicht selten wird sie auffällig. Hat das Bildungssystem versagt, wenn sie diese spezifische Problemlage der jugendlichen Männlichkeit nicht gebührend kompensiert? Im koedukativen Alltag wird störenden Jungen im Unterricht mehr Aufmerksamkeit gezollt, auf die Gefahr hin, dass sich die Schule an die männlichen Bedürfnisse angepasst. Stehen diese Anstrengungen jetzt unter der Androhung der Todesstrafe?
Der Hass auf die Schule durch den ehemaligen Gymnasiasten Steinhäuser wird erklärlich, wenn man nicht nur die soziale Deklassierung als Mittelschichtsangehöriger sieht, sondern die Deklassierung als Mann (psychoanalytisch ausgedrückt: Kastration) hinzudenkt. Dass der Erfurter Mörder acht Lehrerinnen ermordet hat, dürfte nicht nur der Tatsache geschuldet sein, dass sich die Lehrerschaft oft mehrheitlich aus Frauen rekrutiert.
Einen gezielten Frauenmassenmord hat Marc Lepine verübt. Der Francokanadier erschoss 1989 Studentinnen der École Polytechnique in Montréal aus erklärtem Frauenhass. Lepine hatte eine fanatische Leidenschaft für Waffen und Kriegsfilme. Nachdem ihm ein Studienplatz an der Hochschule verweigert wurde, drang er in einen Seminarraum ein, trennte die Studenten und Studentinnen voneinander und erschoss gezielt 14 Frauen.
Die Entscheidung zur Gewalt ist eine bewusste Entscheidung, so resümieren zahlreiche Studien über häusliche Gewalttäter. Der Mann, der seine Frau schlägt, ist nicht von Emotionen getrieben, sondern rationale Erwägungen spielen eine große Rolle. Auch im größten Stress und übermächtiger Wut werden gewaltbereite Männer in aller Regel nicht gegenüber ihren Chefs handgreiflich. Der Täter weiß, was er tut; er weiß, dass Gewalt gegen Stärkere und Mächtigere unverzügliche Konsequenzen zur Folge hat, nicht aber die Gewalt gegen seine Frau in seiner Wohnung. Der Mythos von der Gewalt als Naturereignis legitimiert Gewalthandlungen. Die Medizin geht auf die Suche nach somatischen Ursachen und glaubt im Mangel des Botenstoffes Serotonin im Gehirn einen Grund für die Massenmorde gefunden zu haben.
Nicht Amok, sondern Smash
Die Terminologie für den Gewaltexzess, wie sie von der Wissenschaft und der deutschen Öffentlichkeit festgeklopft wird, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Fachleute schlugen vor, den heute weltweit verwendeten Begriff nur auf den typisch malayischen Amok anzuwenden, ansonsten den Begriff Smash (Sudden Mass Assault Syndrome with Homicide/plötzliches Massenangriffs-Syndrom mit Tötungsabsicht) zu benutzen. Schon die Distanzwaffe Gewehr und die durchrationalisierte Schulung zum Schützen zeigen gravierende kulturelle Unterschiede.
Das Grauenhafte der Tat wird durch das Fremdwort Amok mystifiziert - eine Tendenz der westlichen Kultur, die die rauschhafte Handlung, die Exotik und die Irrationalität romantisiert. Hegemoniale Männlichkeit, wie sie die Soziologen Robert Connell und Michael Meuser beschrieben haben, basierte Jahrhunderte lang auf der bürgerlich-männlichen Rationalität. Der soziale Aufstieg der Frauen enteignet die Männer, vor allem solche, die in einer prekären sozialen Lage stecken, auch dieser Ressource, und insbesondere junge Männer bauen auf massive Gewalt. In ihrem Buch On Violence tritt Hannah Arendt der Ansicht entgegen, dass Ohnmacht Gewalt provoziere, dass diejenigen welche keine Macht haben, besonders geneigt seien, zur Gewalt zu greifen. "Politisch ist ausschlaggebend, dass Machtverlust sehr viel eher als Ohnmacht zur Gewalt verführt, als könne diese die verlorene Macht ersetzen."
Gerhard Hafner ist Psychologe und arbeitet mit männlichen Gewalttätern in Berlin.
Weiterführende Literatur:
Lothar Adler: Amok. Eine Studie. belleville, München 1999
Hannah Arendt: Macht und Gewalt. (On Violence) München: Piper 1970
Götz Eisenberg: Amok - Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Haß. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000
Suzanne E Hatty: Masculinities, Violence, and Culture. London: Sage 2000
Joachim Kersten: Gut und (Ge)schlecht. Männlichkeit, Kultur und Kriminalität. Berlin: de Gruyter 1997
Michael Meuser: Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und "doing masculinity". In: Kriminologisches Journal, 7. Beiheft, Das Patriarchat und die Kriminologie.Weinheim: Juventa 1999
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