Meine einzige persönliche Begegnung mit Helmut Kohl fand 1976 statt. Ich war 14 und er 46, und ich war eigens ihm zuliebe mit dem Zug von Meppen nach Lingen gereist, wo er eine Rede im letztlich gegen Helmut Schmidt verlorenen Wahlkampf hielt. Ich wollte mir ein Autogramm holen, und das bekam ich. Kohl manövrierte sich, nachdem er ausgeredet hatte, autogrammeschreibend und -verteilend durch die anbrandenden Massen. Er war schon damals ein Koloss.
Mein Ausflug hatte rein sportliche Gründe. Ich besaß auch Autogramme von Otto Waalkes, Uwe Seeler, Herbert Wehner, Gerd Müller, Walter Scheel, Eberhard Gienger, Willy Brandt und Bruce Low. Für die CDU hatte ich nichts übrig – im Gegenteil. Nach allem, was ich wusste, wurde diese Partei seit ihrer Gründung von reaktionären Finsterlingen geführt, die einen autoritären Ständestaat konservieren oder restaurieren wollten. Die CDU stand für die Wiederbewaffnung, den Kalten Krieg, die Beförderung alter Nazis, den Kuppeleiparagrafen und das ganze brechreizerregende Spießbürgertum, das sich am Rande der studentischen Demonstrationszüge zusammengeschart und der Forderung Ausdruck verliehen hatte, alle Gammler ins KZ zu stecken.
Ach, der arme Hölderlin
Kohl selbst beging als Kanzlerkandidat im Sommer 1976 den schwerwiegenden Fehler, sich mit dem Schriftsteller Walter Kempowski auf ein Gespräch über Literatur einzulassen. Es erschien unter dem Titel „Was lesen Sie, Herr Kohl?“ im Zeit-Magazin. Er sei, so sagte Kohl, „in Hölderlin gut“ gewesen, und er habe ihn „als alles andere totschlagend“ wahrgenommen. Damit erübrigte sich jeder weitere Gedanke über die geistige Reputation des Kandidaten der Unionsparteien.
Seine Wahlkampfberater hatten ihm die klotzige Hornbrille aus den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidententagen weggenommen und sie durch ein moderneres Modell ersetzt. Aber wo und wie auch immer Kohl auftrat und das Wort ergriff, verbreitete sich – spürbar selbst für einen seinerseits tapsigen und sozial inkompetenten Vierzehnjährigen aus einer provinziellen Kleinbürgerfamilie – ein quälendes Gefühl der Peinlichkeit: Dieser Mann redete dummes Zeug. Und er war sowohl seinen schärfsten innerparteilichen Widersachern als auch den sozialdemokratischen Spitzenpolitikern intellektuell hoffnungslos unterlegen. Der CSU-Chef Franz-Josef Strauß persönlich hatte seinem Intimfeind Kohl in einer dem Spiegel zugespielten und von der Redaktion genüsslich enthüllten Geheimrede die Eignung zur Kanzlerschaft abgesprochen: „Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“
Und dennoch butterte Kohl alle, die sich ihm entgegenstellten, erbarmungslos unter. Sechs Jahre nach dem vergeigten Wahlkampf von 1976 hatte er es dann doch geschafft. Von den Intrigen, die er gesponnen haben muss, um sich in den langen Jahren der Opposition eine neue Hausmacht zu verschaffen und in Absprache mit spendablen Großindustriellen und unter publizistischem Flankenschutz des Springer-Konzerns die FDP aus dem sozialliberalen Regierungsbündnis herauszulösen, kann man sich als Nichteingeweihter nur eine verschwommene Vorstellung machen. Von Satirikern wurde Kohl als „Birne“ verspottet, und es erschienen mehrere Anthologien seiner närrischsten Aussprüche. Aber weder von der Deutschen Bank noch vom Wahlvolk kam Widerspruch, als er 1982 in Bonn das Regierungsgeschäft übernahm.
„Man könnte sagen, dass Geschmack und Nerven an Hubert Kah und der Neuen Deutschen Welle schon genug hätten und dieser da da da so unnötig war wie ein Ohrwurm. Man könnte fragen, ob die Bundesrepublik am Beginn der letzten Vorkriegskrise der kapitalistischen Ordnung wirklich dem geistigen und moralischen Führungsanspruch der Frau Strubbelich unterworfen werden musste“, schrieb Hermann L. Gremliza in konkret. „Man könnte, aber man sollte nicht. Helmut Kohl ist kein Objekt der Satire. Er ist Satire.“
War er das? Er berief ein wahres Gruselkabinett, mit dem illiberalen CSU-Rechtsaußen Friedrich Zimmermann als Innenminister. Und er umgab sich mit mediokren, aus Mainz ins Bonner Staatssekretariat mitgeschleppten und allgemein belachten Jugendfreunden wie Waldemar Schreckenberger, dessen Spitzname „Schrecki“ schon alles zu sagen schien. Als Pressesprecher wurde der Springer-Journalist Peter Boenisch bestallt. Mit Kohl und seiner Gefolgschaft triumphierte ein Funktionärstypus, der bis dahin vornehmlich in Sportvereinen beheimatet gewesen war und eine seiner furchtbarsten Gestalten in den fleischigen Zügen des DFB-Chefs Hermann Neuberger angenommen hatte – der wohlgenährte Provinzfürst, der in Bierkellern und Hinterzimmern die Strippen zieht, wo er mit Argwohn und Missbilligung auf jeden Einspruch reagiert und sich im Übrigen darauf verlässt, dass alle Mängel seines öffentlichen Erscheinungsbildes durch telefonisch erteilte Ordnungsrufe ausgeglichen werden können.
Wissen um die Machtentfaltung
1985, als der Briefwechsel zwischen den Schriftstellern Arno Schmidt und Alfred Andersch erschien, kam es an den Tag, was Kohl im Namen der CDU dem alten Schmidt zu dessen 65. Geburtstag angetan hatte: „Andere pikante Gaben waren etwa ein telegrafisches Lob von Helmut Kohl (dem CDU-Vorsitzenden; just think of that!).“ Kohl wusste offenbar nicht, wem und weshalb er da gratuliert hatte. In Schmidts Fall hatte es einen eingefleischten Atheisten und erbitterten Feind aller Christdemokraten getroffen. An ein ähnliches Ereignis erinnerte sich der Zeichner Horst Janssen: „Zu meinem 50. Geburtstag kriegte ich von Dr. Kohl – damals war er noch nicht Kanzler – ein Glückwunschtelegramm. Es war die wörtliche Abschrift aus Meyers Konversations-Lexikon, 20 Jahre alt. Darin ziehe ich der menschlichen Gesellschaft das Hemd aus und die Haut ab und lege die Nerven bloß. So steht das da im Lexikon. Und nun Kohls Telegramm. Dem Sinn nach zitiere ich: ‚Lieber Herr Janssen oder sehr geehrter Herr Janssen, ich gratuliere Ihnen, der Sie der menschlichen Gesellschaft das Hemd und die Haut abziehen und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg, Ihr Helmut Kohl.’“
Er hatte wahrhaftig von nichts anderem als von der eigenen Machtentfaltung eine Ahnung. Die „geistig-moralische Wende“, die er versprach, kulminierte in der energisch durchgesetzten Legalisierung des Privatfernsehens, das uns heute mit gekeuchter Telefonsexreklame und den unsäglich ordinären Rüpeleien eines Dieter Bohlen unterhält. Gesittung, Anstand, Habitus, Moral – all das, worauf das verschollene Bildungsbürgertum einst Wert gelegen haben mochte, wurde von Kohl und den Seinen verramscht, im Tausch gegen Parteispenden, die auf diversen und mitunter, wie man heute weiß, auch krümmsten Wegen zum Schatzmeister der CDU gelangten.
Wenn ein Politiker wie Kohl von links gekommen wäre, hätte die konservative Elite allen Grund dazu gehabt, die plumpen Umgangsformen, das tumbe Auftreten, das hilflose Bramarbasieren und die Stillosigkeit zu rügen, die mit Kohl zum Normalfall wurden. Doch das Unbehagen an dem schier endlos erscheinenden Siegeszug des tölpelhaften, bestenfalls viertelgebildeten und nichtsdestoweniger höchst selbstzufriedenen Kleinbürgertums in Gestalt des Kanzlers Kohl wurde nur links von der Mitte laut. „Wenn du den Mann im TV siehst oder auch nur im Radio hörst, wird er sofort vollkommen unerträglich“, schrieb der Essayist Michael Rutschky 1987, und man fragte sich, als linksaußenstehender Zeitungsleser, tagtäglich und alljährlich aufs neue, was sich wohl die ausländischen Staatsmänner dachten, die sich von Berufs wegen mit Kohl unterreden mussten, obwohl doch für ihn schon das Deutsche eine Fremdsprache war und alle Sachberater ihre liebe Mühe damit gehabt haben dürften, dem schwerfälligen Kanzler die passenden Stichworte einzuflüstern.
Dann fiel die Mauer, und Kohl stieg zum Kanzler der Einheit auf. Ich war in Berlin vor dem Reichstag als Reporter der Satirezeitschrift Kowalski zugegen, an jenem denkwürdigen 3. Oktober 1990: Aus der Ferne war Kohl nicht genau zu erkennen, doch man konnte sich ja denken, wie er dreinschaute und was in ihm vorging, als die Nationalhymne ertönte. Ich missgönnte ihm dieses Erfolgserlebnis von Herzen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die DDR-Führung besser daran getan, die ausreisewilligen Bürger in den Westen zu entlassen und das Land als Auffanglager für politisch Verfolgte aus aller Welt zu öffnen. Aber auf mich hörte natürlich keiner.
Anstelle der „blühenden Landschaften“, die Kohl den DDR-Bürgern versprochen hatte, wuchs sich im wiedervereinigten Land etwas sehr Mittelmäßiges zurecht. Die Enttäuschung über den ökonomischen Fehlschlag schlug sich auch in Kohls Gesichtszügen nieder: Im Fortgang der Jahre schaute er immer sauertöpfischer drein – ähnlich übrigens wie Günter Grass, sein sozialdemokratischer Gegenspieler, der sich ja gleichfalls von aller Welt verkannt fühlt und das Eingeschnapptsein ebenso störrisch kultiviert wie der alte Kohl. Es wäre schwer zu entscheiden, welcher der beiden Rivalen die beleidigte Leberwurst besser verkörpert. Vielleicht werden sie eines Tages als siamesische Zwillinge wiedergeboren; das geschähe ihnen recht.
Ach, der arme Altkanzler
Doch allen Widrigkeiten, Skandalen, parteiinternen Putschversuchen und oppositionellen Angriffen zum Trotz hielt Kohl sich zäh im Amt – zur Verzweiflung seiner enragiertesten Gegner, die in der Spiegel-Chefredaktion saßen und in drei Dekaden in zahlreichen Titelgeschichten das unmittelbar bevorstehende Ende seiner Karriere angekündigt hatten: „Kohl kaputt“ (3/1979), „Ist Kohl noch zu retten?“ (24/1985), „Der Minuskanzler“ (11/1986), „Was nun, Herr Kohl?“ (6/1987), „Nach dem Wahl-Schock von Berlin – Kopflose Union“ (6/1989), „Aufruhr in der Union – Kohl soll weg – aber wie?“ (12/1989), „Nach dem Wahlsieg – ratlos in die Zukunft“ (49/1990), „Wie lange noch?“ (19/1992), „Kohls Macht verfällt – Das Ende einer Ära“ (46/1993), „FDP rutscht ab: Kohls Mehrheit bröckelt – Doch Machtwechsel?“ (40/1994).
„Kohls Körper ist noch immer der Körper der Bundesrepublik“, stellte Karl Heinz Bohrer im März 1998 im Merkur fest. „Statt jenes früheren bideren Lächelns, das seinem psychischen Ausdruck nach als ein Grinsen aufgefasst werden muss, ein Grinsen zwischen Unsicherheit und Schadenfreude, ist nun Unbeweglichkeit der vorherrschende Ausdruck. Wenn man nicht die Riesensilhouette der Mutter erkennt, die in der Küche unentwegt für die Kinder vom großen Laibe Brotstücke abschneidet, immer dasselbe Brot, Tag für Tag, seit Jahren.“
Als es damit endlich vorbei war, setzte ein beispielloser Prozess der öffentlichen Selbstzerstörung ein. Nach seiner Abwahl 1998 erlebte man einen Altkanzler, der sich bei seiner Weigerung, etwas zur Aufklärung der monumentalen Parteispendenaffäre beizutragen, auf ein Ehrenwort berief, das er Kriminellen gegeben hatte. Und man durfte den Höhepunkt seiner lebenslänglichen Kooperation mit der Bild-Zeitung darin erblicken, dass er bei seiner zweiten Eheschließung den Bild-Chef Kai Diekmann als Trauzeugen aufbot. Tiefer kann man nicht sinken.
Gerhard Henschel ist Autor zahlreicher Romane und Sachbücher. In den Kohl-Jahren schrieb er unter anderem für Titanic und konkret
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