Götz Friedrich kommt aus Naumburg, am Kriegsende gerade 15, und verfällt dem Theater. Ein Theater gab es da nicht. Aber ein Dom beherrschte die Stadt, darin steht die rätselhafte Figur der Uta. Er war Absolvent des Domgymnasiums, den Sophokles las er im Original. Naumburg ist das Kaisersaschern in Thomas Manns Doktor Faustus, eine traulich-unheimliche Stadt. Seine nächste Station ist Weimar, nicht weniger unheimlich. 1949, in dem Jahr, als Thomas Mann dort seine erste Goethe-Rede hielt, begann er am Deutschen Theaterinstitut bei Armin-Gerd Kuckhoff und Ottofritz Gaillard sein Studium. Auf dem Plan stand nicht Thomas Mann, auch nicht Bertolt Brecht, sondern die Schauspieltheorie Stanislawskis. Sie studierte er gründlich und mit Nutzen. So kam er jenen Anderen, Ä
Der Mann aus Naumburg
EROS UND WISSENSCHAFT Götz Friedrich und das Ende eines Zeitalters
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deren, Älteren wieder nahe; ihm war es bestimmt, einer der Epiker des modernen musikalischen Theaters zu werden. Nun ist er gestorben.Die weihevollen Worte an seiner Bahre verdecken nicht, dass er in seinen letzten Jahren der meistgeschmähte Berliner Intendant war. Man konnte meinen, Berlin verdanke ihm nicht seinen theatralischen Ruhm, sondern seinen theatralischen Niedergang. Es war eine Schande. Als Claus Peymann dem zum Jahresende aus dem Amt geschiedenen Direktor der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, im Berliner Ensemble eine Abschiedsfeier arrangierte, sagte der Gefeierte heiter, aber nicht ohne Bitterkeit: "Ich hinterlasse nichts." Das könnte auch Friedrich uns nachrufen.Als Götz Friedrich in seinem letzten Rundfunk-Interview den Fortbestand der Berliner Opern-Trinität forderte, verteidigte er auch die Leistung seines Künstlerlebens. Die Komische Oper war es, an der er seine Laufbahn begann, die Deutsche Staatsoper Unter den Linden war das Gegenbild, großes Gesangstheater, zugleich musikalische Brecht-Filiale dank Ruth Berghaus. Und die Deutsche Oper, die er seit 1981 leitete, war sein Gebilde, ein Amalgam aus Felsensteinscher Intention und qualifiziertem Belcanto-Glanz.Ich will von seinen frühen Jahren reden, als ich ihn kannte und ihm als Kritiker begegnete. Später arbeitete ich an seinem Haus, der Komischen Oper, aber da war er längst gegangen. Als ich dort seinen Dramaturgensessel einnahm, wurde er gerade Intendant der Deutschen Oper in der Bismarckstraße, drei unüberwindbare Kilometer von der Behrenstraße entfernt. Und doch - irgendwie war er immer da. Man redete von ihm wie von einem Anwesenden, und seine Worte, seine Anekdoten, seine Haltungen bestimmten noch die Kantinengespräche, als seine Inszenierungen längst abgesetzt waren. Wer dieses halbe Land verließ, den strich es aus. Aber Götz Friedrich war nicht auszustreichen. 1979 hatte ich ihn in Bayreuth getroffen und seinen Lohengrin gesehen, ein Stück in Weiß und Grau und mit Karan Armstrong als Elsa. Diese Elsa war kein Trottel mehr, sondern eine Frau, die langsam zum Bewusstsein ihrer selbst kommt und am Ende mit Entsetzen auf den wiedergewonnenen Bruder starrt, den aus dem Schwan hervorspringenden kleinen Kriegsgott. Das war die Gralsbotschaft, Friedrichs melancholische Skepsis.Götz Friedrich begann seine Laufbahn 1953 an der Komischen Oper mit einem dramaturgischen Geniestreich, indem er das Rätsel des "Bruches" in der Zauberflöte analysierte und dem Meister Felsenstein eine neue Basis für seine Inszenierung lieferte. Mit dieser Zauberflöte begann dann 1955 der Weltruhm der Komischen Oper. Von Felsensteins Besessenheit und unermüdlicher Theaterfantasie war der junge Wissenschaftler fasziniert. Felsensteins Ansichten über das Theater waren ähnlich radikal wie die Brechts, aber sie hatten einen anderen Ausgangspunkt. Wo Brecht ein Theater der sozialen Experimente und der sozialen Erneuerung anstrebte, schufen Felsenstein und seine Mitstreiter ein Theater des Eros. Daraus wurde aber weder eine religiöse Liebesfeier noch ein pornographisches Tumultuarium, sondern eine neue theatralische comédie humaine. Die Liebe erschien als Agens der Geschichten und der Geschichte. Darin verbarg sich politischer Zündstoff. Von ihm wurde kaum je geredet, und das ganze Haus wehrte sich gegen die politische Instrumentalisierung der Künste. Aber das Publikum spürte diesen ungestümen, rebellischen Geist, der von der Bühne wehte. Was die Idee des Offenbachschen Blaubart sei, fragte der Theaterkritiker Dieter Kranz einmal Felsenstein. "Der menschliche Eros bis an seine äußersten Grenzen, in allen seinen Spielarten", erwiderte der. Auch Friedrichs Arbeiten waren von diesem Geiste.Die Regisseure damals, und er auch, waren Papiermenschen. Sie durchforsteten die Partituren und Bücher, sie suchten die Varianten und öffneten die überlieferten "Striche", sie rekonstruierten die Rezitative und übersetzten die Stücke neu. Denn literaturfähiges Deutsch war ihre Bühnensprache. Die Figuren wurden nicht nur mit Kostümen, Gängen, Gesten ausgestattet, das kam später. Zuerst erhielten sie historische Hintergründe und individuelle Biographien. Dieter Kranz beschrieb, wie Friedrich vor den Proben von Gershwins Porgy und Bess nicht nur für die Hauptpersonen, sondern für jedem der 60 Chorsolisten, 20 Tänzer und 50 Kinder eigene biografische Notizen anfertigte. Die Regiebücher und Vorbereitungsmaterialien wuchsen zu Romanvorlagen von Balzacschen Ausmaßen.Auf den Proben gab es kein "Papier". Da waltete die Magie der körperlichen und stimmlichen Aktionen. Vor einigen Tagen traf ich den alten Tenor Manfred Hopp, er hatte bei Friedrich schon den Cosi-Ferrando von 1962 gespielt. Götz Friedrich, meinte er, habe das Gefühl vermitteln können, jeder Sänger erfinde seine Rolle selbst. Meist war es Götz Friedrich, der erfand. Wir erinnerten uns der großen Friedrich-Produktionen jener Zeit, an Jenufa mit Reinhart Zimmermanns Riesen-Mühlenrad, an die Aida in einer kalten glänzenden Pyramidenwelt aus Aluminium, an Porgy und Bess, ein gesungenes Jazztanz-Drama mit Manfred Krug als einem sensationellen Sporting Life. Aber seine schönste Arbeit, meinte Hopp, sei der Don Quixotte von Jules Massenet von 1971 gewesen, die ausgegrabene lyrische Oper über die Absurdität des Erhabenen in einer lächerlichen Welt. Der lange Däne Ulrik Cold als Ritter von der traurigen Gestalt und der kleine, dicke Rudolf Asmus als Sancho Pansa waren die rührenden Protagonisten einer Schein-Revolution, die dank der finanziellen Spenden einer Luxusgesellschaft ermöglicht wird. Libusa Marova agierte als nackte Dulcinea, die erste einer langen Reihe nackter Damen auf den (Ost)-Berliner Opernbühnen. Es war eine sentimentale Satire im Stile Meyerholds oder Tairows. Das Stück kam nie richtig zum Tragen, denn kurz darauf verließ Friedrich sein Haus und Halberstadt, das damals Berlin, Hauptstadt der DDR, genannt wurde, weil, wie man munkelte, Felsenstein ihn nicht als seinen Nachfolger akzeptierte. Mag es stimmen oder nicht - für den Regisseur war es eine Befreiung. Er trat aus dem Schatten seines Künstlervaters ins freie, grelle Sonnenlicht.Der Don Quixotte war das Pendant zu einer anderen Revolutionsoper, zu Siegfried Matthus' Der letzte Schuss von 1967. Dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet, war es das Gegenteil eines heroischen Epos. Erzählt wurde die Geschichte einer tragischen Liebe zwischen den Fronten. Die Zusammenarbeit zwischen Matthus und Friedrich hatte schon einige Jahre früher begonnen mit Monteverdis Heimkehr des Odysseus. Diese Stücke begründeten eine Künstlerfreundschaft, die ein Leben lang hielt. Damals, 1967, sollte ein musiktheatralisches Triumvirat begründet werden aus Götz Friedrich, Siegfried Matthus und Peter Hacks. Hacks schrieb für Matthus drei amüsante Libretti, die Kriminaloper Noch einen Löffel Gift, Liebling? und die antikischen Persiflagen Omphale und Die Vögel. Matthus komponierte die ersten beiden, aber nur die Kriminalkomödie erblickte an der Komischen Oper ein eher schummriges Bühnenlicht. Hacks hatte eine Boulevard-Komödie geschrieben, Matthus eine lyrische Komödie, und Friedrich, zwischen Scylla und Charybdis, scheiterte und wurde vom Dichter nachträglich zerschmettert.Der Dramatiker rächte sich mit einer hinreißenden Satire. Sie traf im Zerrspiegel Friedrichs Züge genauer als manche rühmende Nachrede. Hacks erfand eine fiktive Ariadne-Oper, die durch die Einfälle des Regisseurs ruiniert wird, der auch noch die abstruseste Idee wissenschaftlich verbrämt. Ein Beispiel wenigstens sei genannt. Der fiktive Hacks'sche Regisseur lässt seinen fiktiven Theseus auf der Mittelmeerinsel Naxos im Polarfahrerkostüm, mit einer Mütze aus Rentierfell, grünen Wickelgamaschen und einem Eispickel auftreten. Auf den Protest des Autors erwidert er im unverkennbaren Friedrichschen Tonfall: "Wenn unser Haus in solch glanzvollem Maße Schule gemacht hat, so durch die Methode der wissenschaftlichen Erforschung der Werke hinsichtlich der offenen und verborgenen Absichten ihrer Schöpfer. Nichts entgeht uns, nicht der geheimste Hinweis. Wir lesen unsere Stücke." Er blätterte in der Partitur, bis er die Stelle hatte. Und wahrhaftig, da stand es: "Ein stolzer Heros naht von Norden." Wenige Jahre später ließ die Regie in die Ottavio-Arie Nur ihrem Frieden im Don Giovanni Schnee fallen, um die Erkältung der Gefühle zu charakterisieren. Die Regisseurin hieß Ruth Berghaus.Nichts mehr von den späteren Arbeiten Friedrichs soll gesagt werden, von den Wagner-Inszenierungen in Bayreuth, London und Berlin, von den Janacek-Entdeckungen, von Aribert Reimann, Hans Werner Henze. Das erzählen andere. Was er uns nachruft, ist keine Werkliste; es kommt aus seinen Anfängen. Es ist der Eros, der Dämon des musikalischen Theaters, der uns aus seinen Arbeiten entgegengrinst, das rätselhafte Lächeln der Uta des Naumburger Doms, der thüringischen Mona Lisa.
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