Die Hydra kommt zuletzt

17. MUSIK-BIENNALE BERLIN Kompositionen für das kommende Millenium

Die dümmsten Kritiken standen diesmal im ansonsten intelligenten Neuen Deutschland. Der eine Kritiker trauerte den DDR-Zeiten nach, wo man auch schon so »kühn« gewesen sei, und vergaß zu erwähnen, daß dergleichen Kühnheiten gegen ihn durchgesetzt werden mußten, und ein anderer, ein wahrer Berg von Ahnungslosigkeit mit dem zutreffenden Namen »Hackhausen«, beklagte bei einem der Konzerte des Arditti-Quartetts die »recht kleine, elitäre Genossenschaft«, die angeblich das Publikum der Moderne ausmache. Das ist nun der offene Hohn, denn das Publikum strömte in alle Konzerte, Schlangen bildeten sich Abend für Abend an den Kassen, und es gab mehr Besucher als je.

Das Bild der Biennale hat sich gewandelt. Man sieht nicht mehr die Festivalgänger von einst, die Fachkollegen und Funktionsträger Ost, von denen eine Hälfte auf der Stuhlkante saß und übelnahm und die andere in der Pause floh, und es fehlen auch die einstigen Insider West, die sich auf ihrem Terrain spiegelverkehrt identisch verhielten. Es kommen neue Leute, nicht nur junge, auch ältere, die in dieser Biennale-Musik offenbar einen Teil ihrer Identität, ihrer Lebenskultur entdecken. Neue Leute, nicht die Mischpoke aus der Kuschelklassik-Ecke, die sich empört und ekelt, weil sie nicht versteht. Wer die Aufgeschlossenheit und den Enthusiasmus des Biennale-Publikums wirklich eine Woche lang erlebte, der konnte nicht von »elitär« sprechen. Dieses aus der DDR stammende Festival hat seinen Platz im neuen Berlin gefunden, es gründet seine Legitimation auf das öffentliche Interesse, eine neue, bunte Farbe im Bilde der Hauptstadt am Ende des Jahrhunderts.

Ich rede die Leistungen der DDR-Biennale nicht klein, wenn ich behaupte, was wir heute haben, ist etwas Anderes und Schöneres. Vorbei ist es mit den Programmen nach dem Proporzschlüssel (jeder muß mal drankommen), mit den Auftragskompositionen aus Gefälligkeit, der Schar der nachwachsenden Jubilare mit ihren Jubiläumskonzerten. Vorbei ist es mit dem Sammelsurium vom elektronischen Event bis zur Schlager-Parade. Dies ist jetzt ein Festival der Konzert- und Kammermusik und der Performances und sonst nichts, und dieses Weniger ist unendlich viel mehr. Und eine klare Konzeption ist erkennbar; sie ärgert die, die darin sich vermissen. Sie gliederte sich in einen neuen Teil mit 23 von der Biennale in Auftrag gegebenen neuen Werken und einer Retrospektive auf die achtziger Jahre, in deren Zentrum Kompositionen von Luigi Nono, Helmut Lachenmann, Jannis Xenakis und Hans Werner Henze standen. Zu diesem vorletzten Dezennium des Jahrhunderts erschien, herausgegeben von Ulrich Dibelius und Frank Schneider, ein Dokumentenband »Musik im geteilten Deutschland«, der vierte und letzte Band dieser Serie, die die deutsch-deutsche Musikentwicklung von 1950 bis 1990 in authentischen Dokumenten und aktuellen Kommentaren darstellt. Dieses Kompendium gehört auf den Schreibtisch von jedem, der sich mit Musik beschäftigt. Aber es kommt nicht ohne weiteres dort hin, denn ein griesgrämiger Berliner Musikalienhändler stoppte unter Androhung einer einstweiligen Verfügung die rechtzeitige Auslieferung an den Buchhandel, weil er sich nicht mit der unterschiedlichen Preis-Politik des Verlages und der Biennale-Leitung, die ihr Werk natürlich zu einem Sonderpreis anbot, anfreundete. Wenigstens ein Erbe aus DDR-Zeiten blieb lebendig - ein halbes Verbot. Hurra!

Kehren wir zur Musik zurück, und zwar zuerst zu den Konzerten des Arditti-Quartetts, von denen es nicht, wie uns der elitäre Hackstückhausen suggeriert, nur eines gab, sondern drei. Die Ardittis aus London machen ihrem Ruf Ehre. Sie boten im Kammermusiksaal des Schauspielhauses einen einzigartigen Überblick über ihr Repertoire. Am Ende der drei Abende stand jeweils ein Hauptwerk der achtziger Jahre - Luigi Nonos »Fragmente - Stille, An Diotima«, Helmut Lachenmanns »Reigen seliger Geister« und Iannis Xenakis »Tetras«. Das waren drei Welten - Nonos hermetischer Rückzug auf die Hölderlinsche Dichtung, der gleichsam geflüsterte, kryptische Essay des Stuttgarters Helmut Lachenmann über das einstmals vielbedeutende Jahr 1789 und das funkelnde und schreiende Xenakis-Quartett. Als viertes muß genannt werden Georg Katzers heiter-nonchalantes 3. Streichquartett, das dem Gesang der Grillen abgelauscht ist. Dazu gesellte sich eine Gruppe neuer Werke, von denen besonders die Stücke der Usbekin Jamilia Jazylbekova und des Isländers Atli Ingolfsson im Gedächtnis blieben. Das Arditti-Quartett spielte virtuos, und doch muß man sagen, daß ihnen Expressivität und Vehemenz aus der Kontrolle zu geraten drohen; ihrer Spezialisierung auf das nur noch Neue fehlt die ausgleichende Balance der Klassizität.

Vom Vogler-Quartett kann man das nicht sagen. Es steuerte das eigentliche Kultstück des Festivals bei, das viereinhalbstündige 2. Streichquartett des Amerikaners Morton Feldman. Der Hamburger Bahnhof, in dessen oberer Halle man spielte, war lange vorher ausverkauft und überfüllt, aber zum Glück hatte ich nicht gewettet, daß sich das ändert. Das hätte ich haushoch verloren. Alle harrten, angenagelt auf ihren Stühlen, auf dem Boden sitzend oder liegend oder an die Wände gelehnt, bis zuletzt aus und bereiteten den Musikern kurz vor Mitternacht die verdiente Ovation. Wie dieses Quartett funktioniert, ist ein Wunder. Es besteht aus einem einzigen meist leisen Satz in langsamen Tempo, anstelle von Themen gibt es eine Handvoll »Muster«, die in Varianten wiederholt werden. Feldmans Klangphantasie ist unglaublich. Er vermag das Quartett wie ein Cembalo klingen zu lassen, wie Sphärenmusik oder wie einen in der Ferne rollenden Zug. Um dieses Quartett gibt es ganze Philosophien, aber ich denke, daß es einfach ein Stück über den Schlaf ist. Morton Feldman litt nachts unter Schlafstörungen. In Konzerten schlief er dagegen häufig ein, leider nur waren die Stücke kurz. So schrieb er sich wenigstens eines von ausreichender Länge. Darin steckt nicht nur Ironie. In den ruhigen leichten Atemzügen dieser Musik gleitet die Seele unbeschwert und entspannt dahin, man erinnert sich, wie leicht und glücklich man als Kind schlief, und diese Erinnerung ist etwas ganz anders als eine Musik zum Einschlafen, was sie auch in keiner Weise war. Die Haltung, die man ihr gegenüber einnimmt, ist im Gegenteil die der angespannten Konzentration. So waltet in diesem Werk eine Weisheit, wie man sie selten findet.

Vielleicht war dies der schönste Abend der Biennale, aber wenn ich an den Beginn oder den Schluß denke, bin ich mir nicht mehr sicher. Zum ersten Male eröffneten die Berliner Philharmoniker ein zeitgenössisches Musikfestival, und vielleicht waren sie selbst überrascht, anstelle ihres gewohnten Publikums, das schon bei Strawinsky oder Hindemith laut hustet, einen mit Enthusiasten gefüllten Saal vorzufinden, und in dem Ungarn Peter Eötvös einen kompetenten Dirigenten, der auch bei diesen Partituren den Glanz des Philharmonikerklangs zu entfalten wußte. Zwei Uraufführungen im ersten Teil: ein Klarinettenkonzert »à travers« des Berliners Hanspeter Kyburz (mit Ernesto Molinari als Solisten), und drei Orchesterlieder nach Texten Heiner Müllers von Wolfgang Rihm, vorgetragen von der vorzüglichen Iris Vermillion. Die Stücke gingen so, wie die Komponisten gehen, das erste sprunghaft, voller überraschender Gesten und Wendungen, das zweite sehr langsam und dick gepolstert. Das Finale jedoch war der krachende Abgesang des Milleniums, die »Earth Dances« des Engländers Harrison Birtwistle.

Das letzte Konzert aber, wieder in der Philharmonie, gehörte der Jungen Deutschen Philharmonie unter der Leitung von Lothar Zagrosek. Nie wieder, denke ich, werde ich so klangschön und ausdrucksvoll die »Chain 3« des Polen Witold Lutoslawski hören, nie wieder so spannungsvoll Luigi Nonos spätes, extrem leises Orchesterstück »A Carlo Scarpa architetto«, mit dem das Festival ausklang. Das schien mir symbolisch - das letzte Festi val des Jahrhunderts mit einem leisen Schluß, verklingend. Musik verklingt. Keine Bilanz, keine Zusammenfassung, keine Karteileichen. Ein Stück, das verweht und uns dem scheidenden Jahrhundert hinterherhören läßt wie einem fernen Klang.

Neben diesen Meisterwerken ein Krawall- und Effektstück von Stephan Winkler aus Görlitz mit dem mystischen Titel »comic strip v1.1«, rockmusikartige Exzesse von fünf Schlagzeugern (falls mich die Erinnerung nicht trügt) wechseln mit leichtem Klanggewölk aus Dutzenden von Diktaphonen, und es geht um alles in der Welt, um amerikanische Western, Magie und Sex, post-apokalyptisch verregnete Ruinenstädte, Bach, Mussorgski, Schönberg, Janácek und den linkspoligen goldenen Schnitt. Dieses gordische Problemknäuel durchhaut Winkler sozusagen mit dem Schwert Karls des Großen, das lang, breit und ungeheuer flach war. So beginnt man, wenn man jung ist. Die Hydra kommt später.

Mit »comic strip 1v.1« sind wir nahe an der kabarettistischen Seite der Moderne, den Performances, Klanginstallationen, Musikaktionen. Mit dem Kabarett teilen sie die Unverfrorenheiten, leider meist nicht das Lachen. Der Strasbourger Daniel Depoutot stellte seine metallisch klappernden Monster und Gerippe aus Schrott-Teilen aus, die gigantische Zungen herausstreckten und elegant tanzten, Annette Schlünz, von Dresden an den französischen Rhein gewechselt, blies dazu Blockflötiges, assistiert von zwei Sängerinnen und einem Schlagwerker. Nach neuen Klangmöglichkeiten forschten Susanne Stelzenbach und Ralf Hoyer mit Annäherung/Entfernung und Volker Staub mit »Vianden«, Wandelstücke mit traditionellen, elektronischen und selbsterfundenen Instrumenten. Bei Vinko Globokar und Dieter Schnebel gehen solche Etüden in virtuose solistische oder kollektive Aktion über; bei der Frankfurterin Carola Bauckholt (»Es wird sich zeigen«) in Theater, bei Hans-Joachim Hespos und Hans-Peter Jahn in offenbaren Nonsense.

Nicht alles kann genannt werden, daher nur drei Namen für viele. Zuerst die große Koreanerin Younghi Pagh-Paan mit ihrem tiefernsten Orchesterstück »NIM« (das koreanische Wort für die subjektive Wesenserfordernis jedes einzelnen), das Hans Zender mit dem SWF-Sinfonieorchster grandios interpretierte. Dann zwei junge Leute: die Japanerin Misato Mochizuki und der in Stuttgart lebende Amerikaner Frank Cox. Letzterer führt mit seinem Lautstück »Entstehung« die der Musik aus Gegrunz, Geschnalz und Gewisper amüsant vor. Die jetzt in Paris wirkende Misato Mochizuki hat mit »La chambre claire« das beste Kammerstück geschrieben, und das Klangforum Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling hat es vorzüglich musiziert. Das sind die Leute des kommenden Milleniums, die leichtfüßig über die Zeitgrenze springen.

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