Donaueschinger Musiktage 15. bis 17. Oktober 1999. Nur zwei Stücke könnte man aus dem Donaueschinger gläsernen Turm in das irdische Repertoire der Orchester übertragen - Ombre des jungen Franzosen Laurent Mettraux und Camera lucida der jungen Japanerin Misato Mochizuki. Denn sie verlangten nichts weiter als das alten Dampforchester ohne Tontechnik, ohne schlau ersonnene Klangmaterien oder Spielweisen, ohne Film-, Bild- und Requisitenwerk. Sie erklangen im Konzert des ausgezeichneten SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Sylvain Cambreling, das eine ein düsteres Gemälde von Pest und Tod, das andere ein kräftiges Variationsstück, frisch, einfach und temperamentvoll, con passione. Das erstaunte, weil die Passion nicht ger
Die Kunst des Zuhörens
DONAUESCHINGEN 1999 Treffpunkt der letzten Avantgardisten
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on nicht gerade als japanische Nationaleigenschaft gilt. Das wenigstens war Musik ohne Beiwerk, nur klingende Materie, und so werde ich diesen Stücken wohl gelegentlich wieder begegnen, ersterem vielleicht mit Missmut über soviel graues Klanggewölk, letzerem mit mehr Freude. Man wird mir Traditionalismus vorwerfen, denn unter Kennern - und in Donauschingen sind sie alle immer da - gilt dergleichen als konventionell. Das Geheimnis der modernen Modernität ist aber der pure Klang längst nicht mehr, und über die Erneuerung der Tonsprache durch einen neuen, ausgeklügelten technischen Kick wird im Moment nicht geredet. Das Geheimnis des neuen Klangs ist das Bild. Die neuen Kompositionen sind vollgestopft mit Bildern. Sie springen heraus aus den Partituren und bevölkern die Podien. Musiker selbst werden zu Schauspielern der Töne, sie wandeln und gestikulieren, posieren und reden, ohne das Spiel ganz aufzugeben. Natürlich steckte auch in den beiden Stücken von Mettraux und Mochizuki das Bild. Bei ersterem das vom Gastmahl während der Pestzeit, bei letzterer das Bild der Kamera. Sie behandelt die Tonfolgen gleichsam mit dem Vergrößerungsgerät, sie werden in die Ferne, in die Nähe gerückt. Das klingt gesucht und könnte es sein. Ist es aber nicht, denn hier arbeitete eine wirkliche Musikantin. War aber nun alles andere schlecht und dies das Beste? Keinesfalls.Nur: Man versteht dieses Festival nicht, wenn man es als einen Markt für neue Repertoirestücke ansieht. Nein, Donaueschingen ist kein Markt, es hat nichts zu schaffen mit dem geschäftigen Musikgetriebe und der Markendirigentenreklameschreierei und dem Gelegenheitsbedarf an gefälligen Novitäten. Was sich dort artikuliert, ist die Verachtung dieses Marktes, seine Ablehnung und Verhöhnung, man besteht wider alle Vernunft auf der Unkäuflichkeit der Kunst. Das ist immer neu und das einzige, was zählt, und auf die Dauer hat es Erfolg: das nicht Käufliche ist verkaufbar. Viele Menschen tragen ihr Geld in das kleine badische Städtchen, um eine Musikkunst zu erleben, die nicht "event", nicht "Show", nicht "Ereignis der Spitzenklasse", nicht "vom Feinsten" und schon gar keine Konsumententräumerei ist. Nicht voran geht man an der Donauquelle, sondern zur Seite. "Abseits. Wer ist's?" - das Goethe-Wort aus Brahms' Alt-Rhapsodie könnte dem Fest als Motto dienen.Was in Donaueschingen, diesem Festival der Uraufführungen, gespielt wird, erklingt zumeist zum letzten Mal, ein Ereignis: nicht wiederholbar. Im Erklingen entschwindet es aus Raum und Zeit. Eine Erinnerung an einen Klang oder an ein Bildnis bleibt. Man lasse sich durch die pseudowissenschaftlichen Erklärungen der Komponisten nicht täuschen. Ihre Musik ist nicht Montageteil am Gerüst einer neuen Musikkultur, sondern gaukelnder Schmetterling auf der Wiese unseres Müßiggangs. Die heroischen Zeiten der frühen Avantgarde, als man das Universum umstürzen wollte oder wenigstens ersatzweise die Gesellschaft, sind dahin. Das politische Engagement, der Protest, wenigstens gegen die "Konventionen", es ist einer ruhigen Kontemplation gewichen. Dahin sind Nonos Klagen, Henzes Visionen, und der Hammer ohne Meister, (Le Marteau sans Maître, Pierre Boulez) ist aus Schaumgummi. Die avantgardistische Musik ist verkommen zu einem Sonderfall unseres Musiklebens, sie ist nicht der Wegweiser, der eine Richtung gibt.Darin liegt ein Dilemma der Moderne und die Ursache ihrer fortwährenden Duldung. Aber der Gestus des empörten Kritikers ist selbst ein Klischee. In Wien liefen seinerzeit auch nicht 25 aufsässige Beethovens und 30 erzürnte Schuberts herum, sondern es gab von jedem nur einen. Donaueschingen hat etwas Barockes, ein kleiner Ort, der sich, dank eines überlebenden Fürsten, große Kunst leistet. Solche barocken Orte, wie einst Weimar, Heidelberg oder Wolfenbüttel, gibt es heute auch wieder, sie heißen Biennale von Berlin oder München, Eisler-Tage, Rheinsberg oder was weiß ich, und hier und dort geschieht ein weniges und nährt die Hoffnung, dass die Kunst den Kommerz überlebt.Wenn man auch nicht sagen kann, wohin die Moderne geht, so müssen wir immerhin konstatieren, dass sie fest steht auf ihren Füßen, deren Größe heute allerdings nicht so beträchtlich ist. Aber wenigstens verfügt sie über vielerlei Schuhwerk. Einmal wurde der Konzertsaal sogar zur Schuhhandlung. Ein Komponist namens Daniel Ott ließ das Podium in einer Sporthalle mit hunderten Paaren von Damenschuhen auslegen, großen und kleinen, Ballschuhen und Botten, Slippern und Stiefeln. Ein rothaariges Mädchen balancierte klang- und auch sonst begleitet über die Laufstege aus Schuhen, Instrumenten entwanden sich vergessene Requisiten der musikalischen Zeit, darunter eine spanische Romanze. Die Schwierigkeiten beim Verlernen des aufrechten Gangs wurden heiter vorgeführt, aber natürlich kann eine solche Vorführung (zu deutsch performance) nicht einfach "Schuh-Werk" heißen, sondern sie heißt mindestens "ojota III". Die des Ketschuanischen Kundigen wissen auf den ersten Blick, dass "ojota" bei den Indianern "Sandale" heißt, und damit ist klar, dass wir uns in einer wiederum barocken Allegorie bewegen. Die Schuhe sind nicht mehr Schuhe, sie dürfen aufrücken zu archetypischen Zeugnissen der großen Menschheitsreise durch die Geschichte. Ein Traumspiel aus Schuhen und Klängen, dessen tiefere Bedeutung sich in Gelächter auflöst.In dieser Kunstwelt voller Symbole und Allegorien spielt der Raum mit, Musik wird zum Theater. In Donaueschingen gibt es keinen philharmonischen Saal. Die beiden Donauhallen sind ursprünglich, wie man mir versicherte, Viehmärkte. Sonst verlegt Armin Köhler, der kundige Redakteur des Südwestrundfunks und Organisator des Festivals, seine Veranstaltungen vorzugsweise in städtische Sporthallen, die zum Ton-Theater mutieren. Jedes Konzert ist eine Inszenierung, und der Hörer wird zum Teilnehmer an einem irrealen Spiel. Hier träumt jeder seinen Traum.Beispiel Peter Eötvös. Dieser ungarische Musiker, einer der besten Dirigenten, über den die Moderne je verfügte, ist auch als Komponist ein origineller Kopf. Weil ein Musiker bei ihm ein Posaunenkonzert bestellte, das ihn nicht interessierte, schrieb er stattdessen die Oper, die ihn interessierte, als Posaunenkonzert. Sie trägt den langen Titel As I crossed a bridge of dreams, und das ist ein Zitat aus einem alten japanischen Tagebuch, das eine frustrierte alte Hofdame im Jahre 1008 niederschrieb, die sogenannte Lady Sarashina. Siegmund Freud hätte diesen Text mit Freuden analysiert. Eötvös macht ein Traumspiel daraus. Denn es zeigt sich bald, dass die alte Lady zwischen ihren Träumen und ihrem Leben nicht unterscheidet. Eine einsame Frau, die ihr freudloses Leben in ein Kätzchen projiziert, das elendiglich stirbt, und sich einer unendlich zarten Liebesverbindung erinnert. Aber es gab nie ein Kätzchen oder einen Mann, sie sind die Projektionen ihrer Sehnsüchte. Ein schwarzer Spiegel, in dem die Musiker erscheinen und die Lady selbst, fahles Mondlicht auf dunklem Grund, schwebende Bewegungen. Ein Nichts und eine Weltsekunde Menschenleben im Schatten eines Traums. Für sich selbst ist die Musik vielleicht ein wenig blass, aber sie leuchtet auf diesem uralten dunklen Grund.Beispiel Karlheinz Stockhausen. Lichter - Wasser. Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Sonntag aus dem Zyklus Licht. Der Komponist erläutert präzis und unverständlich (für den Laien): "Seit 1977 komponiere ich das Werk LICHT; Die sieben Tage der Woche, mit einer Superformel, die aus drei synchronen Formeln besteht. In Lichter - Wasser stehen 17 blaue Lichter bei 17 höheren Instrumenten. Sie entsprechen den 17 Tönen der MICHAEL-Formel. 12 grüne Lichter bei zwölf tieferen Instrumenten entsprechen den 12 Tönen der EVA-Formel. Die Lichter werden beim Einsatz der einzelnen Instrumente nacheinander angezündet. Gegen Schluß setzen die Instrumente nacheinander für einen Moment aus, jeder Spieler trinkt einen Schluck Wasser und geht hinaus, gehaltene Töne spielend." Sopran und Tenor duettieren, und Instrumente begleiten sie. Aber der Saal ist kein Saal, sondern ein von niemandem wahrnehmbarer Stern, den das Publikum zusammen mit den Musikern bewohnt. Er ist durch je zwei Senkrechte und Diagonalen in acht Segmente geteilt. In den Gängen wandelnd die Instrumentalisten und zwei phänomenale Sänger, Barbara van den Boom und Hubert Mayer, in die Symbolfarben grün und blau gekleidet, und musizieren und singen nach den exakten Weisungen, die Stockhausen, der große Magier, von einer Stirnseite in den Saal hineindirigierend, ihnen erteilt. Endlich sieht man einmal den Dirigenten von Angesicht zu Angesicht.Alles ist mythisch, aber gegen Schluss wird der Meister übermythisch und komponiert eine Burleske ins Weltgeschehen um Eva und Michael. Komponierter Beifall ertönt, worauf die erfreute Sängerin singend ankündigt, man werde wegen des spontanen Erfolges einen Teil des Werks sogleich wiederholen. Und sie singt den von Stockhausen komponierten Satz: "Stockhausen, bitte beginnen Sie!". Ansonsten, Superformel hin oder her, handelt es sich um ein schön klingendes Duett, so wie Eötvös' Oper eine große (allerdings auf mehrere Interpreten verteilte) Soloszene ist. Man muss die musikalischen Technizismen hörend so wenig repetieren wie den Generalbaß bei einer Händelschen Sonate. Aber leider muss ich nun sagen, so gut die Musik auch sein mag, das Theater ist nur einfühlungsmäßig und damit überhaupt mäßig. Man müsste den Protagonisten ihr Protagonistentum glauben, wenn es funktionieren sollte. Doch hier endet die Macht des Magiers: Man glaubt ihnen nicht.Trotzdem verspürt man die Macht des Besonderen - dabeigewesen zu sein in einem überfüllten Saal bei einem Ereignis, dessen man wahrscheinlich nie wieder teilhaftig werden wird. Heute, da alles technisch reproduzierbar ist, empfindet man das selten. Einmaligkeit ist der tiefste Grund des ästhetischen Erlebens, sie lässt uns einer anderen Einmaligkeit innewerden, der unseres Lebens selber.Donaueschingen gleitet dahin auf diesem schwankenden Lethe-Gewässer, in dessen Wellen sich die Musiken wie Sterne spiegeln und verflimmern, wenn der Morgen des Alltags beginnt. Am letzten Abend traf ich Friedrich Hommel, den nun pensionierten langjährigen Leiter des Darmstädter Instituts für Neue Musik, dem die Musikwelt so viel verdankt. "Warum", fragte ich ihn, "kommen Sie nach Donaueschingen?" - "Ach, wissen Sie", antwortete er mir, "hier klingeln keine Telefone." Und er erzählte mir viele Geschichten, wie die moderne Musik geworden ist, woher sie stammt und dass sie gemacht wird, damit Menschen miteinander reden können. Zum Reden gehört Zuhören, und die "Zuhörkunst lernt sich bei Musik am besten. Es war ein raunendes Gespräch über die Tiefen und Untiefen unseres Jahrhunderts und seine wundersame Musik, über die wir erschrecken würden, wenn wir begriffen, wovon sie spricht.
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