Donaueschingen ist ein Provinznest südlich von Villingen, wer kennt das eigentlich? Vor 50 Jahren begann dort die Ehe zwischen dem Fürstlich-Fürstenbergischen Kammermusikfest und dem Südwestfunk Baden-Baden. Daraus entstanden die Donaueschinger Musiktage, Europas berühmtes Musikfest der Avantgarde. Pierre Boulez, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, John Cage, Olivier Messiaen, György Ligeti, Luciano Berio, Vinko Globokar, Wolfgang Rihm waren einige der prägenden Namen. Kein Zweifel - dieses Musikfest hat Musikgeschichte geschrieben und für andere Festivals, den Warschauer Herbst, die Berliner Musikbiennale wie für die vielen kleineren Musikfeste der Moderne, Maßstäbe gesetzt. Als Kammermusik existierte Donaueschingen mit Unterbrechungen seit 1921, aber Weltruf erlangte es erst durch die Rundfunk-Kooperation ab 1950.
Nun wäre Grund für eine Goldene Hochzeit gewesen in diesem Herbst, sie verlief gedämpft. Die dunklen Wolken, die über dem Musikfest hängen, sind finanzieller Art. Zwar ist bis 2003 alles gesichert durch ein geschicktes Arrangement zwischen SWR, der Kulturstiftung der Deutschen Bank, des Landes Baden-Württemberg und des Bundesministeriums des Inneren, aber für die Zeit danach sind alle Fragen offen. Für weitreichende künstlerische Planungen sind diese Bocksprünge zu kurz. Außerdem ist das ständige Gerangel um Geld, das Donaueschingen ebenso wie andere bedeutende Festivals betrifft, einfach unwürdig. Donaueschingen ist längst ein Festival vom Range Bayreuths. Es hat wie jenes unsere Vorstellung von der musikalischen Kultur verändert: Erstens durch die Einführung der elektroakustischen und elektronischen Klang-Mittel in den Konzertsaal. Sie wurden nicht dort entwickelt, aber ausprobiert. Zweitens durch die Veränderungen der Konzert-Institution selbst. An die Stelle des kultischen Gegenübers von Musizierenden und Hörenden im historischen Ambiente setzte Donaueschingen das voraussetzungslose Raumklang-Erlebnis.
Donaueschingen hat keinen traditionellen Konzertsaal. In den großen Sporthallen oder den noch größeren Hallen der Viehmärkte kann man beliebig viele, um das Publikum gruppierte Orchesterpodien aufstellen. Das hat für das Musik-Erlebnis wie auch für das Komponieren selbst erhebliche Konsequenzen. Nicht in den philharmonischen Sälen liegt die Zukunft des Konzerts, sondern in unseren verlassenen Markt- und Fabrikhallen. Der Kulturbetrieb erobert sie sich, noch zögernd, auch anderswo - in Völklingen bei Saarbrücken, auf dem KWO-Gelände oder in der Kulturbrauerei in Berlin, in Vockerode an der Elbe. Die meisten Donaueschinger Kompositionen sind auch für solche Orte gemacht.
Klang-Installation und Performance sind die jüngsten Kinder der neuen Klang-Ästhetik. Das ist Theater ohne Fabel, Konzert ohne Musiker, Tönen ohne Anfang und Ende. Als Scharlatanerie erscheint es dem Professionellen, und ist es oft sicher auch noch, wie alles, was beginnt. Denn kein Werk entwickelt sich und endet, Klang ist kein Ereignis, sondern Zustand oder Raum, in den der Hörer sich hineinträumt und den er verlässt, wann es ihm gefällt. Im Programm der Donaueschinger Musiktage nehmen solche Installationen einen wachsenden Raum ein. Diesmal waren es fünf Installationen, eine von ihnen sogar als Eröffnung (Renate Hoffleit Leben ist Laut / Michael Bach Bachtischa Nurhauffügur).
Das Festivalprogramm selbst enthielt sich aller Festlichkeit, sogar der Festrede und Retrospektive. Das Neue triumphierte; jeder konnte etwas finden, das ihm missfiel. Das tonlose Rauschen, Kratzen, Schaben, Schleifen wurde zum Unereignis des Festes, ob Andreas Dohmen in seiner Musik für Gerhard Richter Diktaphone rauschen ließ, oder Mark André und Jörg Mainka dem Orchester punktuelles Knarren entlockten. Die Reminiszenzen-Musiken bezogen sich auf Eisler und Mozart statt auf den dieses Jahr obligatorischen Bach. Peter Ablinger nahm Eislers Hymne als Material zu einer Klang-Reproduktions-Maschinerie in zehn Teilen. Peter Ruzicka schrieb ein kugelförmiges Klarinettenkonzert Erinnerung für die phänomenale Solistin Sharon Kam, das auf der Vorderseite eine gemäßigte Moderne herzeigte und auf der Rückseite kaum hörbare Anklänge an Mozart.
Was mich vor allem beeindruckte, war das letzte Werk dieses Festivals, das einzige, über das ausführlicher zu sprechen lohnt. Ich spreche von Vinko Globokars Der Engel der Geschichte, dem ersten Teil einer groß angelegten Trilogie, deren beide letzten Teile noch der Vollendung harren. Zugrunde liegt auch ein Theorem, aber was für eins - Walter Benjamins bekanntes Gleichnis vom Engel der Geschichte, der der Zukunft den Rücken zuwendet und zu dessen Füßen der Sturm, der vom Paradiese her weht, die Trümmer der Vergangenheit häuft. Das ist in Musik (und Bild) gefasst und auf Heutiges bezogen.
Der Konzertsaal mutiert zum Gleichnis. Quer durch ihn zieht sich ein Stacheldraht, er teilt das Publikum in zwei Hälften, auf jeder der beiden Stirnseiten ein Orchester. Die Hörer auf der einen Seite vernehmen das auf der anderen oft nur schemenhaft, zumal wenn das eigene viel Lärm verursacht. Beide Orchester spielen ihre eigenen Partituren, die widersprüchlich miteinander verzahnt sind, denn sie präsentieren in der Ordnung des musikalischen Materials die Modelle der Diktatur und der Demokratie. So hat das eine Hymnen-Material, das in Geschrei, Trillerpfeifen, stampfende Marschtritte übergeht; das andere freie Strukturen, die in ein Chaos münden, das wiederum Diktatur gebiert. Ein Tonband bringt ein unwirkliches Moment hinein - serbische, kroatische, mazedonische Folklore, eine exotische Postkarten-Schönheit. Am Ende übertönen Panzerkettengeräusche alles andere. Vinko Globokar reflektierte die Konflikte der elterlichen jugoslawischen Heimat. Nichts könnte aktueller sein. Aber um dieses Aktuelle geht es gar nicht. Sein Stück ist ein organum mundi, ein zum Klingen gebrachtes Universum menschlicher Existenz und ihrer Gefährdung in unserer Zeit. Politische Musik? Gewiss. Politische Musik wie die von Isang Yun, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel.
Das endlose Fachgeschwätz über Strukturen und Material verstellt den Blick auf die evidente Tatsache, dass die moderne Musik eine über die moderne Welt ist. Während uns Kuschel-Klassik und Börsenberichte über unwirtliche Zeitläufte hinwegtrösten wollen, sind es die Künstler, die ihr zerstörerisches, un-bedachtes Wesen zur Sprache bringen. Ihr Tun hat etwas Prophetisches, deshalb womöglich gilt es als elitär. Damit das Notwendige auf die notwendige Weise gesagt werden kann, auch darum gibt es Donaueschingen. Das ist sein gut Hegelscher Existenzgrund. Das SWR-Orchester spielte das Eröffnungs- und das Abschlusskonzert, ersteres unter Lothar Zagrosek, letzteres unter Sylvain Cambreling, dem jetzigen Orchester-Chef, und dem jungen Roland Kluttig. Ein engagierteres Orchester für die Moderne gibt es nirgends in Europa. Auch das ist ein Resultat von 50 Jahren Donaueschingen. Klänge aus der Provinz?
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