Zuletzt kam Pina Bausch. Eine kleine Frau in Schwarz, ein Gesicht wie von Barlach geformt, straffes gescheiteltes Haar und das faunische Lächeln Brechts. So stellte sie sich in die Reihen ihrer Tänzer, die sich erschöpft, erregt, beglückt gegen die aufbrandenden Ovationen verbeugten. Seltenes Wuppertaler Gastspiel im Schillertheater in Berlin zu den septembralen Festwochen. Ich sah nur den zweiten Teil, Le Sacre du Printemps. Für den ersten kam ich zu spät, Opfer des innerstädtischen Verkehrschaos. Die Polizei errichtet neuerdings Straßen sperren und heimtückische Umleitungen, um den Theaterbesuch zu verhindern. So verpasste ich das Café Müller, aber Sacre entschädigte für alles. Keine Dekorationen, keine Archaismen, nicht ei
Problematische Popularität
BERLINER FESTWOCHEN Ein Rückblick auf Gustav Mahler
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en, keine Archaismen, nicht einmal ein Tanzteppich, nur nackte braune Erde bedeckt den Bühnenboden. Wenn der Tanz dahinrast, staubt sie auf und bedeckt die Kleider und Körper. Es gibt nur die wirbelnde Masse, alle gleich gekleidet, die Männer in dunklen Hosen und mit nacktem Oberkörper, die Frauen in dünnen, durchscheinenden Kleidern. Lange zeigt sich kein Protagonist. 25 Jahre alt ist diese geniale Choreografie, doch nicht veraltet. Das Thema ist das Hervortreten des Einzelnen aus der Masse. Aber er tritt nicht hervor als Held, sondern als Opfer. Und es ist kein Mann: eine Frau. Die Auserwählte, die sterben wird. Von den ersten Tönen des Fagott-Solos an, mit dem Strawinskys Musik beginnt, spielt das Grauen mit. Alle Frauen zeigen es, denn alle können das Opfer werden. Ein roter Punkt auf der Bühne, auf den die Mädchen mit Entsetzen starren, kündigt die Selektion an; es ist ein Stoff, ein Kleid, das Kleid der Erwählten; eine wird es anziehen, man findet sie. Nun sind die anderen frei, sie fallen in den Status des Zuschauers, dessen Grauen nur noch ästhetisch ist; denn man ist - für diesmal noch - entkommen. Aber die arme Kreatur im roten Fetzen, das Mädchen, das dem Drachen vorgeworfen wird: zitternd vor Angst und vergeblich sucht sie zu entkommen. Zuletzt ermannt, nein: erweibt sie sich zum Tanze, dem tödlichen, kein Ritual, wie es Strawinsky dachte, sondern ein Aufschrei. In diesem Tanze dreht sich unsere Geschichte, unsere Zeit, ohne dass es der Dokumente, der Filmeinblendungen, der Symbole bedürfte. Es gibt nur dieses Mädchen, das sich rasend vor Angst und Zorn, Wut und Trotz dreht und am Ende tot hinschlägt auf die mütterliche Erde.Es war dies ein anderes Lied von der Erde als das von Gustav Mahler. Der Sturmwind des wirklichen Theaters fegte durch den Saal und vertrieb die Wolken der verinnerlichten Verinnerlichung. Aber nicht Pina Bausch, Gustav Mahler war der eigentliche Heros dieses Festivals. Bei ihm war man angekommen. Das Jahrhundert kürte ihn in seinem letzten Jahr zum Klassiker. Nun steht er, den Lorbeerkranz in die Stirn gedrückt, in einer Reihe mit Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. In dieser Reihe ist er der fünfte, die magische Quintessenz der musikalischen Alchemie. Alle seine Werke erklangen, die neun Sinfonien und die von Cooke rekonstruierte zehnte, das Lied von der Erde, die Wunderhorn- und Rückert-Lieder, die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Kindertotenlieder, das Klagende Lied, die Fragmente und einige seiner Bearbeitungen. Die besten Orchester waren versammelt, die Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado, Kurt Masur, Bernard Haitink und Simon Rattle, dem kommenden Chef dieses Orchesters, die Wiener Philharmoniker ebenfalls unter Simon Rattle, das Pittsburgh Symphony Orchestra unter Maris Jansons, das Deutsche Sinfonieorchester unter Kent Nagano und Marek Janowski, die Dresdner Staatskapelle unter Giuseppe Sinopoli, das SWR-Sinfonieorchester unter Michael Gielen, das Rundfunksinfonieorchester unter Rafael Frühbeck de Burgos und Jeffrey Tate, das Orchester de Deutschen Oper Berlin unter Christian Thielemann, das Scharoun Ensemble unter Franz Welser-Möst, das Gustav-Mahler-Jugendorchester unter Claudio Abbado, dazu der Leipziger MDR-Chor sowie der Rundfunkchor und der Ernst-Senff-Chor Berlin und eine große Zahl erstklassiger Solisten. Die Berliner Kritik wob eine erkleckliche Anzahl von Gloriolen und flocht auch etliche Disteln hinein, denn das Streben nach künstlerischer Vollendung empfindet sie allein schon als Anschlag auf ihre durchgreifende Sprachlosigkeit. Vom "Kummerkitsch" Mahlers war die Rede, und die Dirigenten wurden austariert. Man hätte gern drei Gran Gielen mehr und fünf Gran Sinopoli weniger. Das Publikum in der Philharmonie aber erhob sich Abend für Abend und schrie Bravo noch in den letzten Ton hinein. Mahler, die Kunstfigur, ist geschaffen. Das Jahrhundert darf zu Ende gehen, es hat seinen Klassiker, wenigstens einen.Wir wollen diesen Tanz nicht nachtanzen. Aber fragen, was Mahlers Musik ist und was sie bedeutet. Beides fällt nicht zusammen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war seine Sinfonik verpönt und galt als Zeichen schlechten Geschmacks. Das hat sich nun gewandelt, doch durch das alte Urteil schwingt der deutsche Antisemitismus, es ist nicht nur ästhetisch. Bevor er in der Reihe der Rühmenswerten erscheint, stand er in der Reihe der Verfemten. Trotz Willem Mengelberg, Anton Webern, der ein überragender Mahler-Dirigent war, trotz Bruno Walter blieb er unbekannt bis in die sechziger Jahre hinein. Da schlug seine Stunde, bezeichnenderweise nicht im Konzertsaal. Der Durchbruch kam mit einem Film, Lucino Viscontis Tod in Venedig nach der Novelle von Thomas Mann. Dessen morbide Atmosphäre wurde untermalt mit dem Adaghietto aus der 5. Sinfonie. Es wirkte schockierend wie eine Offenbarung. Wenig später erschien ein anderer Thomas-Mann-Film, Lotte in Weimar, eine DEFA-Produktion mit dem Hollywood-Star Lilly Palmer in der Rolle der alternden Goethe-Freundin Charlotte Buff. Während die Kamera über Weimar und den Ettersberg schweifte, erklangen Ausschnitte aus der 6. Sinfonie. Es war Mahlers Musik, die in diesem elegischen, ein scheinbar hermetisch intaktes heiter-klassisches Weimar beschwörenden Film die Schatten des KZs von Buchenwald projizierte, das auf dem Ettersberg gelegen hatte, als Thomas Mann den Roman im fernen Los Angeles schrieb.Noch eines dritten Ereignisses muss ich gedenken, das diese Erfahrung auf den Punkt brachte. In den 70er Jahren, im höchsten Glanze der Karajan-Ära, erschien zum erstenmal Leonard Bernstein am Pult der Philharmoniker und wählte die neunte Sinfonie von Gustav Mahler, Eine Abschiedssinfonie als Debüt. Denn diese letzte vollendete Partitur Mahlers ist ein Abgesang auf Kunst, Liebe und Leben, bittersüß und beklemmend. Am Ende ein Selbstzitat aus den Kindertotenliedern, ein Rückblick vom Tode her: "Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh'n." Bernstein verzauberte sein Publikum, und manchmal denke ich, so würde Mahler nie wieder gespielt werden. Richtiger wäre wohl zu sagen - nie wieder gehört werden. Ein Initialerlebnis kann man nicht zweimal bekommen. Jener Abend war Erlebnis und Lektion. Wenn Mengelberg und Alban Berg schon lange vorher vom Tod als dem Thema dieser Sinfonie gesprochen hatten und es in romantischer Manier Mahler selbst bezogen, so entdeckte Bernstein in Mahlers Musik die geschichtliche Perspektive. Um Mahler zu verstehen, meinte er 1967, bedurfte es "der weltweiten Katastrophen, des demokratischen Fortschritts verbunden mit unserer Unfähigkeit, Kriege zu verhindern, der Verherrlichung nationalen Dünkels verbunden mit der Intensivierung unseres aktiven Widerstandes gegen soziale Gleichheit - erst nachdem wir all dies erfahren haben, durch die rauchenden Öfen von Auschwitz, die zerbombten Dschungel Vietnams, durch Ungarn, Suez, durch die Schweinebucht, den Schauprozeß von Sinjawski und Daniel, durch das Wiedererstehen der Nazimaschinerie, durch den Mord in Dallas, durch die Arroganz Südafrikas, durch die Hiss-Chambers-Travestie, durch die Trotzkischen Säuberungswellen, durch Black Power, durch die Rote Garde, durch die arabische Umzingelung Israels, durch die Qualen des McCarthyismus und durch das muntere Wettrüsten, jetzt erst, nachdem wir all dies erlebt haben, können wir Mahlers Musik hören und verstehen, dass sie all dies voraussagt. Und wir erleben, dass diese Musik durch ihre prophetische Kraft einen Regen von Schönheit auf die Welt sandte, welches ihr seither nicht wieder zuteil wurde."Mahlers Stunde kam, weil die Menschen des 20. Jahrhunderts die Welt als Apokalypse erfuhren. Was uns als Mahlers rätselvolle Vorahnung erscheint, sind unsere eigenen Erfahrungen, denen sie nur als Vokabular dient. Nicht Auschwitz oder Dallas beschreibt sie, sondern das Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung, des immer möglichen Umschlags der Idylle in das Grauen. Man hat ihn verharmlost, indem man ihn musikgeschichtlich zu einem großen Formzertrümmerer zurückstutzte. Als ob im Zerschmeißen abstrakter Kategorien das ästhetischen Urvergnügen Mahlers läge. Auch wenn die heutigen Zertrümmerungsadepten sich auf Adorno zu berufen glauben, der das verhängnisvolle Bonmot prägte, dass Mahlers sinfonische Formen "windschief zu Tradition" stünden, verfehlen sie gänzlich den Geist dieser Musik (und auch Adornos) und wärmen, ohne es auch nur zu ahnen, die antisemitische Lügenfigur von der "entarteten" Kunst auf, denn was könnte entarteter sein als die Entstellung ihres inneren Maßes.Ist damit Gustav Mahler zum Künder unserer Zeit avanciert, zu Sänger des 20. Jahrhunderts? Skepsis ist angebracht. Wäre ein 19. Jahrhundert vorstellbar, das erst an seinem Ende Beethoven entdeckt und gefeiert hätte? Die Antwort lautet: Nein!, und das ist ein Urteil auch über uns. Das Bewußtsein des musikalischen Kontinuums ist uns zerbrochen. Unserer Zeit scheinen die eigenen Töne zu fehlen. "Nur böse Menschen haben keine Lieder", naja, eine schwache Erklärung, oder doch die stärkste. Problematisch an Mahlers Popularität ist die Nostalgie, ein Genie des Rückblicks hat von uns Besitz ergriffen. Rückblicke kommen in Mode, wenn die Ausblicke verstellt werden. In einer einzigen Sequenz von Pina Bauschs Sacre steckt mehr Gegenwart als in allen Mahlerschen Sinfonien. Dieses Jahrhundert war nicht das Mahlers, es war das von Strawinsky und Brecht, Schostakowitsch und Varèse, Kafka, Joyce und Beckett, Nono, Boulez und Messiaen. Es wird geschlossen, ehe es bei sich selber ankam.
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