Ganz langsam spürt man, dass den Wachstumspredigern die Luft ausgeht. Zwar reden Politiker unermüdlich von der Schaffung neuer Arbeitsplätze, doch viele Städte in den neuen Bundesländern schrumpfen. Die historische Altstadt wirbt zwar noch immer mit denkmalgeschützten Fassaden, doch die leer stehenden Häuser und ausgeräumten Läden widerlegen das schöne Bild von einem wirtschaftlichen Aufwärtstrend. Es ist ein melancholischer Abgesang, wenn man in die Wohnhöhlen renovierter Häuser blickt: eine Leere, die nachdenklich macht.
Der Überhang an Wohnraum in den neuen Bundesländern ist unübersehbar: 1,3 Millionen Wohnungen stehen leer. Bis zum Jahre 2030, so die Prognose der Experten, wird die Zahl 2 Millionen erreicht. Die solide Ausbildung in der DDR nutzt zu Hause wenig - die Abwanderung in die alten Bundesländer ist seit 1991 mit einer Million Menschen unverändert hoch. Marode Industrieanlagen wurden abgebaut, doch die neuen Industriestandorte benötigen immer weniger Beschäftigte. Ein Industriezeitalter, das sich dem Ende zuneigt, hinterlässt die Kommunen im Zustand wirtschaftlicher Auszehrung. Nötig wäre ein Mentalitätswandel, um mit neuen Konzepten die abnehmende Produktivkraft gerechter zu verteilen.
Wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht, wächst auch der Wohnungsleerstand. 450.000 Wohnungen werden in den nächsten Jahren mit öffentlichen Mitteln in der Bundesrepublik - vornehmlich in den neuen Bundesländern - abgerissen werden. Die Stadt schrumpft, ohne dass die Kommunen bisher wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln vermögen. Trotzdem hoffen die Städte noch immer auf Wachstum, obwohl die Statistik eindeutig dagegen spricht. Das ohnehin vorhandene Nord-Süd-Gefälle hat mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine Zuspitzung erfahren. Die Niedrig-Lohn-Regionen in den östlichen Bundesländern haben zu einer Steigerung der Abwanderung beigetragen. Der Luxus der Leere, eine Streitschrift des Architekturkritikers Wolfgang Kil, ist eine Auseinandersetzung mit der Wachstumswelt, ein Fragespiel über Risiko und Verantwortung, bei dem sich viele Problemfälle überlagern. Es sind die Schnittstellen zwischen einer anhaltenden ökonomischen Globalisierung und den notwendigen technologischen Eingriffen in eine marode Bausubstanz. Leerstellen, die mit Wunschbildern und Utopien besetzt werden und doch dem ökonomischen Druck nicht standhalten.
Die Berliner Ausstellung mit dem Titel Schrumpfende Städte geht noch einen Schritt weiter. Sie hat nicht nur die bundesrepublikanische, sondern die globale Entwicklung anvisiert. Denn weltweit vierhundert Städte mit über 100.000 Einwohnern haben in den letzten 50 Jahren an Wirtschaftskraft verloren und demzufolge Bevölkerungsverluste hinnehmen müssen.
Der Architekt und Publizist Philipp Oswald hatte als leitender Kurator zwei Jahre Zeit, Städteplaner, Soziologen, Filmemacher und Künstler für dieses Projekt einer Kulturstiftung des Bundes zu animieren. Mit der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift arch plus wurden zwei weitere Institutionen für die Mitarbeit an dem Thema "Schrumpfende Städte" gewonnen.
Seit langem gibt es eine ungleiche Entwicklung. Während in der Dritten Welt die Millionenstädte wachsen, verlieren die klassischen Industriestädte zunehmend an Bedeutung. Die Ausstellung konzentriert sich exemplarisch auf vier Städte: Detroit, Ivanovo (Russland), Manchester/Liverpool und Halle/Leipzig. Sie setzt auf Alltagsbeobachtungen, vertraut den individuellen Geschichten ihrer Protagonisten. Die Fülle ihrer Details verleitet dazu, in Zufälligkeiten abzugleiten, sie bedient sich der Statistik, um in einem Zahlenspiegel Entwicklungstrends anzuzeigen. Fotografen fänden in diesen Städten ein breit gefächertes Aufgabenfeld. Die Kuratoren haben diese Chance kaum genutzt. Herausragend ist ein Doppelbild von Nikolaus Brades: Der Blick durch das Fenster eines Plattenhochhauses in Halle/Neustadt zeigt eine industriell zersiedelte Landschaft, ein Alltagsmotiv, banal - und doch mit einer suggestiven Leere gefüllt. Wer hier wohnt, hat sich eingerichtet. Die Landschaft bietet keinen Fluchtraum, Innenwelt und Außenwelt sind austauschbar.
Der Niedergang der Städte ist ein Thema, das sich schwer verkaufen lässt. Die potenzielle Gewalt, die anarchischen Ausbrüche und die hohe Kriminalitätsrate sind wiederkehrende Themen, die den Abstieg und die Verwandlung in Geisterstädte begleiten. Graffitis als geheime Botschaften einer aggressiven Subkultur, verschwistert mit einem gewaltbereiten Vandalismus zeigen, wie dramatisch und traumatisch der Abschied von der europäischen Stadt verläuft, die lange als Urbild für ein Jahrhunderte altes Gemeinwesen diente.
Die Ausstellung präsentiert über vier Etagen die Probleme der vier Städte, zeigt den Verfall sozialer Bindungen, schweift ab in verwahrloste Industrieareale, verweist auf Destruktion, Anarchie und viel Eigensinn: Eine soziale Perspektive eröffnen die vielen Revolten diesen Städten nicht. Die zahlreichen Fotos, Pläne und Videos vermitteln Trostlosigkeit. Doch der neugierige Blick genügt nicht, die Hintergründe offen zu legen. Die Stadt als Abenteuerspielplatz? Die Offenheit, viele brisante Themen anzusprechen, gibt der Ausstellung eine hohe Aktualität.
Wer städtisches Lebensgefühl vermutet, der wird in die Zonen verlassener Wohnsiedlungen verwiesen. Wer Einsicht und alternative politische Konzepte sucht, wird auf immer neue Konfliktpotenziale der vier Städte stoßen. Die Ausstellung provoziert, dokumentiert die Schattenseiten der Großstädte und legt den Gedanken nahe, dass eine Rückbesinnung auf die kulturelle Tradition der europäischen Stadt kaum vorstellbar ist. Der großflächige Zerfall der stadträumlichen Beziehungen hat jedoch neben der wirtschaftlichen Seite eine politische Dimension. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensqualität von Städten verweist auf einen Formverlust, der in seinen politischen Auswirkungen schwer einzuschätzen ist. Die in der Ausstellung präsentierten Beispiele sind für Ostdeutschland kaum relevant. Die schleichende Auszehrung an Wirtschaftskraft und eine mangelnde Solidarität sind jedoch Problemfelder, mit denen sich die Stadtverwaltungen und auch die Gesellschaft insgesamt verstärkt auseinander setzen müssen. Ein Einstieg in eine notwendige Bescheidenheit könnte zu einem Wandel des Bewusstseins führen: Beispiele hierfür hält die Ausstellung in ungeordneter Fülle bereit. Sie stellt Fragen, die unsere Zukunft betreffen, sie fokussiert gravierende Probleme unserer Zeit.
Schrumpfende Städte: KunstWerke, Berlin, noch bis zum 7. November 2004,
Katalog 22 EUR
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