Verdrängte Realitäten

Publikumsrenner und andere Leckerbissen Eindrücke vom "24. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos" in Havanna

Das Filmfestival Havanna ist der Inbegriff eines Publikumsfestivals. Unter größter Beteiligung der einheimischen Bevölkerung findet es jeweils in über zwanzig Kinos der kubanischen Metropole statt. Manche Kubaner nehmen während der Tage des Festivals extra Urlaub oder bleiben ihrem - ohnehin nur symbolisch bezahlten - Arbeitsplatz einfach fern, um genügend Zeit für dieses Kinofest zu haben. Auch der ausländische Berichterstatter sieht die meisten Filme gemeinsam mit dem "Volk", es gibt keine gesonderten Pressevorführungen; Havanna verkörpert damit das pure Gegenteil jener Festivals, wo Spezialisten weitgehend unter sich sind. In den vergangenen Jahren war das Festival ständig gewachsen, und mit dem Rekord vom vergangenen Jahr von rund 600.000 Zuschauern drohte es nicht bloß aus allen Nähten zu platzen, sondern bisweilen gar im Chaos zu versinken.

Die letztjährige Veranstaltung stellt rückblickend einen Wendepunkt dar; sie war gekennzeichnet von endlosen Warteschlangen und einer manchmal ausufernden Begeisterung, die immer wieder mal in handfeste Hysterie umschlug. Man sah damals überforderte Polizisten, die zeitweilig die regelrechte Erstürmung von Kinos nicht verhindern konnten - was den Schreibenden auf den Gedanken brachte, in Zukunft nur noch gegen angemessene Gefahrenzulage über diesen wichtigsten Filmanlass Lateinamerikas zu berichten.

Doch in diesem Jahr war alles wieder anders. "Havanna 2002" wird wohl als einer der ruhigsten Jahrgänge der letzten Zeit in die Geschichte eingehen. Mit einem Zuschauerrückgang um fast die Hälfte - den man andernorts als dramatisch bezeichnen würde - fand das diesjährige Festival eher zur Normalität zurück, als dass es in eine Krise geraten wäre. Die Gründe für den beträchtlichen Publikumsschwund sind vielfältiger Art; sie haben jedoch nichts mit dem unverändert hohen Niveau des Programms zu tun. Die Krise findet weniger bei den Filmschaffenden der verschiedenen Länder Lateinamerikas statt, als vielmehr vor den Türen der Festivalkinos.

Das Leben des Durchschnittskubaners ist nämlich sicht- und spürbar schwieriger geworden als noch vor einem Jahr. Bei gleichbleibendem Lohn sind die Preise zahlreicher Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs gestiegen; das städtische Transportsystem leidet unter verschärfter Treibstoffknappheit (der vom Hauptlieferanten Venezuela nur noch spärlich fließt); und erstmals seit Jahren gibt es auch wieder die berüchtigten "apagones". Das Wort steht für jene unregelmäßigen Stromunterbrechungen, die abends und nachts ganze Quartiere Havannas stundenlang in völlige Dunkelheit tauchen. Angesichts solcher Lebensbedingungen verwundert es nicht, wenn manche Leute geringere Lust auf Kino haben. Aber es gibt noch andere Gründe für den drastischen Besucherrückgang, die paradoxerweise weniger mit der Krise zu tun haben, als vielmehr mit einem allgemeinen kulturellen Überangebot - was angesichts der geschilderten Lebensbedingungen umso mehr erstaunen mag. Doch die von Fidel Castro vor drei Jahren (anlässlich der Kampagne um den Flüchtlingsjungen Elián) ausgerufene "Schlacht der Ideen" befindet sich momentan auf ihrem Höhepunkt und beinhaltet neben propagandistischen Anstrengungen vor allem das: Spiele - und ein wenig Brot - für ein Volk, das bei Laune gehalten werden will. Es war in der Tat beeindruckend, was gleichzeitig mit dem Filmfestival an kulturellen Großanlässen in und um Kuba so über die Bühne ging: das 20. Internationale Jazzfestival mit breiter Beteiligung von Stars aus den USA; die Buchmesse Guadalajara (Mexiko) mit Gastland Kuba und der größten kubanischen Delegation, die je an einem kulturellen Event im Ausland teilnahm; die erste "kubanische Olympiade" - all das zog natürlich Leute an und absorbierte Kräfte, die in anderen Jahren ganz auf das Filmfestival konzentriert gewesen waren. War vor einem halben Jahrzehnt unter Durchschnittskubanern noch der Satz verbreitet, man gehe auch deshalb zum Filmfestival, weil es ja sonst nichts gäbe, so hätte eine derartige Klage heute keine Grundlage mehr. Im Gegenteil konnte man immer wieder Leute erklären hören, warum sie in diesem Jahr nicht zum Festival gingen, beziehungsweise keine Filme aus Lateinamerika anschauen wollten: Man habe genug von all dieser Depression, diesem Elend und dieser Gewalt.

Für einen der beiden Siegerfilme des diesjährigen Festivals, Cidade de Deus von Fernando Meirelles aus Brasilien liegt diese Charakterisierung in der Tat nicht so daneben. Der 1955 in São Paulo geborene Meirelles, der letztes Jahr durch seine Arbeit als Co-Regisseur in der Hausangestellten-Komödie Domésticas bei uns eine gewisse Bekanntheit ereicht hat, erzählt in Cidade de Deus in über zwei Stunden vom Werdegang eines Jungen aus der gleichnamigen Favela in Rio de Janeiro - vom Kleinkriminellen zum Gangster und dann zum fotografischen Chronisten und Reporter. Der Film ist das mutige und ungewöhnliche Projekt eines Cineasten, der im Gespräch erklärt, er habe seinen Landsleuten die andere Seite der Mauer einer Favela näher bringen wollen - eine Realität, die die brasilianische Mittelklasse vollständig verdrängt.

Cidade de Deus wurde ausschließlich mit Laien gedreht. Fernando Meirelles und sein Team gründeten für den Film eigens eine Filmschule, in der sie die rund zweihundert Mitwirkenden - alles Favela-Bewohner, und viele auch im realen Leben Mitglieder bewaffneter Gangs - monatelang in die Schauspielkunst einführten. Der ästhetisch bisweilen ans brasilianische Cinema Novo der Sechziger und das US-amerikanische "Blaxploitation"-Kino der siebziger Jahre anknüpfende Film verblüfft neben seiner kruden Authentizität mit fotografischen und kameratechnischen Glanzleistungen. Sie bescherten dem Kameramann César Charlone und dem Cutter Daniel Rezende verdientermaßen die Festivalpreise in ihren Kategorien. Und in einer eher unüblichen Geste verlieh die vom Mexikaner Paul Leduc geführte internationale Jury kurzerhand der gesamten Darstellercrew von Cidade de Deus den Preis des "Besten männlichen Darstellers". Diese Geste wiederholte die Jury für die Frauen und zeichnete alle Darstellerinnen des argentinischen Erstlingsfilms Tan de repente von Diego Lermann mit dem weiblichen Gegenstück aus. Der bereits bei seiner Weltpremiere im vergangenen August in Locarno preisgekrönte Film erhielt im übrigen ex aequo mit Cidade de Deus den Großen Preis des Festivals.

Beides waren jedoch Filme, die in der Gunst des einheimischen Publikums eher hinten lagen; das bevorzugte Filme wie El crimen del padre Amaro von Carlos Carrera aus Mexico, Tolerancia von Carlos Gerbase aus Brasilien oder Apasionados von Juan José Jusid aus Argentinien. Während El crimen del padre Amaro (mit Gael García Bernal, der nach Amores perros und Y tu mamá también hier in einer Hauptrolle als skrupelloser Pater zu sehen ist) in seiner Heimat der kaum verständliche Ruf eines Skandalfilms vorauseilte, handelte es sich bei letzteren um belanglos-konventionelle Mittelschichts-Beziehungskisten, die zeigten, dass beim einheimischen Publikum der Wunsch nach der Flucht aus der tristen Wirklichkeit stärker ist als jener nach cineastischen Leckerbissen.

Das kubanische Kino selbst glänzte in diesem Jahr weitgehend durch Abwesenheit, kein einziger neuer Spielfilm war rechtzeitig fertig geworden - eine Blamage, die es seit 1996 nicht mehr gegeben hatte. Das Herausragendste aus Kuba war ein Kurzfilm mit dem Titel Dos Hermanos, der anhand einer Geburtstagsfeier in ungewöhnlich direkter Weise die in der Gesellschaft schwelenden Konflikte eskalieren lässt. Dieses beachtliche Erstlingswerk von Tamara Morales nennt die Dinge ebenso beim Namen wie zwei preisgekrönte, von Ausländern realisierte Dokumentarfilme, die kubanische Themen behandeln: Balseros der Katalanen Carles Bosch und Josep M. Domenech sowie La Tropical von David Turnley aus den USA.

Während La Tropical anhand eines Porträts von Havannas populärstem Tanzlokal ein facettenreiches Bild des Lebens der schwarzen kubanischen Unterklasse entwirft, verfolgt Balseros über sieben Jahre hinweg die Lebenswege einiger kubanischer Bootsflüchtlinge, die zusammen mit 35.000 anderen in jenem traumatischen Sommer des Jahres 1994 aufgebrochen waren, um beim Feind im Norden ein besseres Leben zu suchen. Das Thema ist auf Kuba bis heute tabuisiert, um so erstaunlicher, dass der journalistisch brillante Film mehrmals gezeigt und auch in der kubanischen Presse vorsichtig-neutral gewürdigt wurde. Damit zeigte sich ein zur Zeit allgemein etwas flexiblerer Umgang der kubanischen Verantwortlichen mit Konflikt-Themen im Kulturbereich. Angesichts der äußerst angespannten wirtschaftlichen Lage des Landes erscheint das angemessener, als sich - wie noch vor wenigen Jahren üblich - mit spektakulären Zensur- und Repressionsfällen zusätzliche Feinde zu schaffen.

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