Rosenblätter tröpfeln herab

Kitschcafé und Corpus Christi im spanischen Granada In der Stadt des Flamenco breitet so mancher Engel seine Flügel aus

Natürlich heißt es nicht so, das "Kitschcafé". Es liegt in Granada an der Calle Colón genau an jener Ecke, wo es zur Kathedrale hinuntergeht. Die Straße ist nach Christoph Kolumbus genannt, der im Spanischen Christobal Colón heißt und - in Kupfer gegossen - auf einem hohen Marmorsockel am Ende der Straße den Segen von Isabel la Catolica erhält, um die neue Welt für Spanien zu erobern.

Das Denkmal stammt aus einer Zeit, in der Bildhauer ihre ganze Kunst daran setzten, Metall so zu formen, dass es als Metall nicht mehr zu identifizieren war. Dies ist hier dem unbekannten Künstler vorzüglich gelungen. Der Teppich, auf dem Kolumbus kniet, fließt wie ein wirklicher Teppich über den Marmorsockel - ein bisschen stört dabei nur seine metallene Farbe.

Isabel, besagte Katholische Majestät, soll die Muslime der belagerten Stadt Granada im legendären Jahr 1492 besonders auch dadurch zur Aufgabe gezwungen haben, dass sie ihren Schwur einhielt, das Hemd erst nach der Eroberung des Fleckens zu wechseln. Die Belagerung dauerte Monate, die Temperaturen waren sehr hoch, die Hygiene der Katholischen unterentwickelt.

Hochentwickelt hingegen waren die Geruchsorgane der Belagerten - verwöhnt durch ihre Hamams, ihre öffentlichen Bäder, ihre Salben und Essenzen aus dem Orient, den Duftwassern aus Rosen und Orangen. So ergaben sie sich zu guter Letzt dann doch, Isabel und ihr Fernando zogen in die Stadt ein und nahmen Besitz von der Alhambra.

Aber wieder zurück zum "Kitschcafé" mit seinen bombastischen Stuckfiguren. Cremefarben sind sie geraten, eine goldene Harfe ragt in den Raum, sie ist riesig wie der Engel, der sie spielen soll, der aber an Höheres denkt und deshalb schon einmal seine Flügel ausbreitet.

Immer gärt in diesem Café viel Betrieb. Einmal drängen sich distinguierte ältere Herrschaften zum Morgenkaffee herein, dann stärkten sich weißgekleidete Männer an der Bar, die man später als Träger geschmückter Altäre wiedersehen wird. Alle erscheinen - in ihrer zeremoniellen Altertümlichkeit und in ihrem bühnenerprobten Auftreten - wie Einrichtungsstücke, als wären sie soeben aus den Kulissen dieses Etablissements geschoben worden.

"Corpus Christi", hier kurz "Corpus" genannt, gilt als das Hauptfest der Stadt Granada. Die Kirche zeigt an diesem Tag in den Straßen und auf den Plätzen ihre Macht und Herrlichkeit. Im - wie wir wissen - ehemals muslimischen Granada, dauert die Fiesta fast eine ganze Woche. Es gibt den großen Jahrmarkt, viel Musik und Tanz, die Stadt ist voller Touristen aus Spanien und von anderswo, die am Donnerstag die berühmte Prozession sehen wollen.

Und die dauert wie alle Demonstrationen, zumeist stehen die Teilnehmer auf dem Teppich aus Gräsern und Bergkräutern der Sierra Nevada herum, deren Duft wohl eine späte, aber angenehme Wiedergutmachung für Isabels stinkende Garderobe von 1492 sein soll. Leider ist die Prozession wenig spektakulär. Kein Rasseln von Ketten auf dem Pflaster, kein dumpfes, monotones Trommeln, kein Flackern rußender Fackeln, kein unterdrücktes Stöhnen unter spitzem Hut. Da hat die "Semana Santa" nicht nur in Sevilla, auch in mallorcinischen Landstädtchen mehr Sensationen zu bieten.

In Granada bestimmen über Stunden hinweg die unendlich vielen religiösen Bruderschaften das Bild. Voller Gold und Silber sind ihre reich geschmückten Standarten und Altäre, die gemessenen Schrittes vorangetragen werden. Wenn dieses Silber und Gold reden könnte, würde es wohl die Geschichte von Eroberung und Ausplünderung, von Verrat und Mord an den indianischen Völkern der Neuen Welt erzählen. Vielleicht von den Silberminen in Potosí, in denen Millionen von Indígenas ihr Leben ließen, vielleicht vom Goldschatz des Atahualpa, der ihm durch Betrug genommen wurde. Vielleicht auch von der Sitte der spanischen Eroberer, die Ohrläppchen gleich mit abzureißen, wenn ihnen irgendein Goldschmuck nicht sofort überlassen wurde.

Auch dazu hatte die katholische Isabel den Christoph Kolumbus ermächtigt, ohne dies im Kleingedruckten extra aufzuführen.

Am Ende der Prozession schreitet der Klerus, zuerst der niedere - Nonnen und Mönche, dann der hohe - die Priester, der Bischof und Erzbischof. Schließlich das Militär und die Polizei. Es folgen die Honoratioren Granadas mit dem Bürgermeister und die Parteien - Sozialisten, Volkspartei, zwei postfaschistische Parteien, alle sind dabei. Bis auf eine: Die Vereinigte Linke mit den Kommunisten will daran erinnern, dass in Spanien Kirche und Staat inzwischen streng getrennt sind.

Als die Prozession mit dem Allerheiligsten direkt am "Kitschcafé" um die Ecke zur Kathedrale abbiegt, öffnet sich die Balkontür im dritten Stock des Hauses gegenüber. Eine ältere Dame entleert eine Tüte mit getrockneten Blättern, dann eine zweite. Eine dritte folgt. Immer wieder entschwindet die festlich gekleidete Person, um von Neuem ihr gutes Werk tun zu können. Schon klatschen die ersten Zuschauer, die Bewegungen der Dame werden schneller, fast hektisch. Die achte Tüte, dann endlich: Schluss. Großer Applaus. Keine Verbeugung. Erschöpft verschwindet sie in ihrer Wohnung, der Balkon ist leer.

Viel später am Tag, die Straßenreinigung rückt schon mit ihren Spritzen und Besen heran, hebe ich einige der Blätter auf. Es sind Rosenblätter. Sie riechen noch schwach, aber doch süß und betörend.

Natürlich ist Granada bei allen religiösen Zeremonien zuallererst die Hauptstadt des Flamenco. Und dabei ist es wirklich egal, ob der Flamenco und der Kult um ihn nun aufgesetzt, inszeniert oder kommerzialisiert sein mögen.

Denn was versteht man schon unter "authentisch"? Ist es zum Beispiel authentisch, wenn der andalusische Saisonarbeiter von seinem Padron mit einem Hungerlohn abgespeist worden ist und deshalb in seiner Wohnhöhle in den Canto Jondo ausbricht? Oder wenn eine Gitana, Mutter von sieben Kindern, ihren Mann - vielleicht den gleichen Saisonarbeiter - in Flagranti mit der 14-jährigen Nachbarstochter erwischt und darob voller Inbrunst und Wut rhythmisch mit den Absätzen ein Stakkato auf die Steinfliesen ihrer Behausung hämmert, die Hände beschreiben dabei die schlangenförmigen Bewegungen, mit denen sie der Rivalin den Hals umdrehen will? Nein!

Der Flamenco ist Kunst, und er ist immer künstlich. Er reflektiert Lebenssituationen, Wünsche, Emotionen und Sehnsüchte. Er ist das Leben "in Form gebracht", er ist demonstrativ und spekulativ, Spontaneität ist möglich und nötig. Der Flamenco ist wie das richtige Leben, in dem ja auch nur Weniges wirklich zufällig passiert. Nichts ist ohne Vergangenheit, und alles reagiert auf alles.

So ist Granada vom Kult des Flamenco durchtränkt. Selbstverständlich gibt es hier noch andere Kulte: den "Federico Garcia Lorca"-Kult zum Beispiel, der besonders sympathisch ist, denn dieser antifaschistische Dichter wird in einer Stadt geehrt, die ansonsten kein Problem darin sieht, den Namen von Primo de Rivera y Orbaneja deutlich lesbar auf die Wand seiner Kathedrale geschrieben zu sehen. In den dreißiger Jahren war die präfaschistische Diktatur Primo de Riveras die Zeit, in der die franquistischen Mörder von Lorca schon einmal "üben" konnten.

Abends in den Restaurants und Bars Granadas beeindrucken die wandernden Gitarrenspieler mit ihren markanten Gesichtszügen, aus denen auch Verzweiflung sprechen kann ob der vielen nur vergnügungssüchtigen Zuhörer. Mit ihren streng zurückgekämmten Haaren und den überlangen polierten Fingernägeln der rechten Hand - wenn sie denn Rechtshänder sind -, um die Saiten ihrer Gitarre wahlweise zu streicheln, zu zupfen oder schlagend zu malträtieren, wenn sie der "Duende", der böse Kobold des Flamenco, fest im Griff hat.

Diese Künstler haben immer ein Köfferchen mit eigenen CDs dabei, aber selbst bei der profanen Tätigkeit des Verkaufs bewahren sie Contenance und zeigen eine Grandezza, die über der reinen Lust des Geldverdienens steht. Gern signieren sie auch ihre CDs - ein Künstler nimmt dazu erst einmal an meinem Tisch Platz, holt ohne Scheu sein Brillenetui heraus, setzt bedächtig die Brille auf, schraubt den Füllfederhalter auf und schreibt eine kalligrafische Widmung in die Hülle der Scheibe. Der Text ist voller Poesie und in der Alltagslyrik geschrieben, um die Spanien so zu beneiden ist.

Der Flamenco ist in Granada auch deshalb allgegenwärtig, weil Kinder und Erwachsene die Kleidung tragen, die dazu gehört. Und es scheint oft so, als ob die kleinen Mädchen in ihren weit schwingenden langen Röcken, die plötzlich auf der Straße in klassische Flamenco-Bewegungen fallen, zur Normalität gehören. Wie Schattenboxer, die Ausfallschritte üben, drehen sie sich um sich selbst, auch ohne Musik. Hochhackige Tanzschuhe klappern über das Pflaster. Kleine Jungen drücken das Kreuz durch, als ob sie den Stier in der Arena vorbeilassen müssten. Oder sie schlagen sich mit der Faust an die Brust, um zum großen Gesang anzuheben.

Musikläden scheinen nur Flamenco-Aufnahmen im Angebot zu haben. Hatte ich in Deutschland vergeblich versucht, Cigalos´ und Bebos´ legendäre Lagrimas Negras zu bekommen - kubanischer Jazzpianist trifft andalusischen Flamencosänger - braucht der Plattenverkäufer im erstbesten Geschäft nicht einmal aufzustehen, um mir das Gewünschte auszuhändigen, reicht doch der Stapel neben ihm bis zur Sitzhöhe.

Beim Flamenco wird geschrieen, gesungen, getanzt. Der "raue Gesang" erschreckt den Zuhörer, die Tempi der Gitarre, die Tanzschritte, das Klatschen der Hände wechseln so abrupt wie die Stimmungen. Plötzlich, ohne Ankündigung, kann der Gesang abbrechen, und der Sänger verlässt augenblicklich und grußlos die Bühne. Große, kaum zu zügelnde Emotionen in eine ritualisierte Form bringen, um sie damit beherrschbar und erträglich für den Menschen zu machen, ihn vor Selbstzerstörung zu bewahren - auch das ist ein Teil des Flamenco.


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