Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen sind bei dem Erdbeben in Haiti etwa zweihunderttausend Menschen ums Leben gekommen. Eine Zahl, die ebenso unvorstellbar wie abstrakt ist. Die einzelnen Schicksale treten dahinter zurück.
Das änderte sich, als ich wenige Tage nach der Katastrophe im Internet die Website des auf haitianische Literatur spezialisierten litradukt-Verlages aufrief. Die erste Nachricht auf der Startseite betraf keine Lesereise oder aktuelle Neuerscheinung, sondern lautete: „Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass unser Autor Georges Anglade und seine Ehefrau Mireille bei dem verheerenden Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen sind. Unser Mitgefühl gilt ihren Angehörigen und ihrem Land, für das sie sich so sehr eingesetzt haben.“
sehr eingesetzt haben.“Das konnte doch nicht sein: Ausgerechnet dieser vor Humor sprühende Schriftsteller, dem Gefängnis und Folter der Duvalier-Diktatur seinen Spott nicht hatten nehmen können, den es in den neunziger Jahren von seinem Lehrstuhl für Geographie an der Universität Montréal in die haitianische Politik gezogen hatte, der sich später, um einige Hoffnungen ärmer und viele Geschichten reicher, daraus wieder zurückzog und faszinierende Literatur schrieb, war von den Trümmern eines zusammenstürzenden Hauses erschlagen worden, als er sein Heimatland besuchte. George Anglade und seine Frau Mireille, eine bekannte Sozialwissenschaftlerin und Autorin von L'autre moitié du développement, dem Standardwerk über die Rolle der Frau im Wirtschaftsleben Haitis (1986), waren zu Recherchen für neue Bücher vor einigen Monaten von Montréal nach Haiti gereist.Humor und LodyansDie bevorzugte literarische Form George Anglades waren die lodyans, kurze Erzählungen, die es in dieser Form nur in Haiti gibt. Ursprünglich als orale Literatur der SklavInnen auf den Zuckerrohrplantagen entstanden, wurden die meist satirischen Geschichten in Haiti zur beliebtesten Form, das alltägliche Geschehen und die politischen Entwicklungen zu kommentieren. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begannen Zeitungen in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince erstmals, lodyans zu veröffentlichen, die fortan als mündliche und schriftliche Literaturform existierten.Wesentliches Kennzeichen dieser literarischen Miniaturen ist ihr Humor. Wobei das mit dem Humor immer so eine Sache ist: Es gibt lodyans, die sind einfach nur lustig, bei anderen bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn sich hinter der Pointe bittere Erfahrungen verstecken.Auf deutsch liegen von Georges Anglade seine 2007 erschienene brillante Politsatire Und wenn Haiti den USA erklärt und sein 2008 auf deutsch erschienener Erzählungenband Das Lachen Haitis vor, sein wichtigstes literarisches Werk. Es erhält auf 312 Buchseiten insgesamt 90 lodyans, in denen der Autor ein Panorama Haitis im 20. Jahrhundert ausbreitet. Die Gliederung der Texte ergibt sich aus dem Lebensweg des Autors. Der erste und zweifellos amüsanteste Teil des Buches sind Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend in der Provinzstadt Quina. Mit liebevollem Spott beschreibt er lokale Begebenheiten und Händel, oder er karikiert die lokale Prominenz.Im zweiten Kapitel mit der Überschrift „Port-aux-Morts“ ist dann „Schluss mit lustig“. Denn in diesen Geschichten erzählt Georges Anglade von seinen Studienjahren in Port-au-Prince während der Duvalier-Diktatur. Es ist eine bleierne Zeit, in der Angst und Gewalt omnipräsent sind. In einigen dieser lodyans führt Anglade die LeserInnen in die Kerker der Diktatur. Manches davon ist nur schwer zu ertragen, anderes, etwa die Erzählung „Totensignale“ über die täglichen Übungen der Musiker der Militärkappelle direkt über seiner Zelle, berührt auf eine ganz eigene Weise.Nédgé ist ein überwiegend von MigrantInnen bewohntes Stadtviertel der frankokanadischen Metropole Montréal, in der es eine große haitianische Gemeinde gibt. Mit „Nédgé“ sind die Geschichten des dritten Teils des Buches überschrieben, Episoden aus dem Leben der HaitianerInnen in der Diaspora. Mehr als eine Million Menschen haitianischer Abstammung haben sich in den USA und in Kanada niedergelassen. In einem Zeitungsartikel schrieb Anglade dazu einmal, Haiti sei das einzige Land, dessen kompletter Mittelstand im Ausland lebe. In den Geschichten aus Montréal gibt es skurrile Begebenheiten, viel Melancholie und die immer wieder durchscheinende Verletztheit ob der latenten Ablehnung und des Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft.Gelobtes LandDas letzte, „Gelobtes Land“ überschriebene Kapitel widmet sich der jüngeren Vergangenheit, den Hoffnungen und Enttäuschungen der HaitianerInnen in den Jahren nach dem Ende der Duvalier-Diktatur, wo es endlich aufwärts zu gehen schien, wo aber politische Grabenkämpfe, Naturkatastrophen und vor allem der Widerstand der kleinen wirtschaftlichen Elite gegen gesellschaftliche Veränderungen, immer wieder alles zunichte machen.Hier schreibt jemand, der sein Land liebt und daran leidet, dass dessen Perspektiven so düster sind, der aber auch das positive Potential erkennt. Die Erzählung Das Licht und das Ende des Tunnels wird zu einem politisch-moralischen Manifest. Er setzt sich darin mit den Mythen und Vorurteilen über Haiti auseinander. Denen die behaupten, Haiti sei ein „zerfallenes Land“ hält er entgegen: „Der Eindruck ist geprägt von vier Millionen zerstreut lebender Bauern, von Dörfern ohne Ordnung, von einer Hauptstadt, in der zwei Millionen Slumbewohner sich aufs Geratewohl irgendwo ansiedeln. Verwilderte Anbauflächen und folkloristische Märkte, heißt es ... Die drei Seiten besagten, dass sich hinter dieser Sicht nur die Unfähigkeit verbirgt, die Ordnungen, die in der Armut existieren, die Logik, die ihnen zugrund liegt, und ihr Potential für den Neuanfang und den Aufschwung zu beschreiben ... Ein zerfallenes Land? Sicherlich, aber nicht chaotisch und erst recht nicht anarchisch.“ (Auslassungszeichen im Original).Eine Stimme, die jenen entgegentritt, die in kolonialer Mentalität erklären, die HaitianerInnen seien ja nicht fähig, sich selbst zu regieren, das Land müsse eine Protektorat mit fortgesetzter internationaler Militärbesatzung werden, braucht Haiti heute mehr denn je. George Anglades Stimme ist für immer verstummt, uns bleiben seine Geschichten über das Lachen Haitis, das hoffentlich niemals verstummen wird.George Anglade: Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?, Übersetzung: Peter Trier, Litradukt-Verla1g, Kehl 2007, 98 S., 9,90 EDers.: Das Lachen Haitis, Ein Mosaik in 90 Lodyans, Übersetzung: Peter Trier, Litradukt-Verlag, Kehl 2008, 312 S., 24,80 E
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