Lauter beste Autoren

Verfall Früher dienten die Verlagsvorschauen der Orientierung. Heute verkünden sie die immergleichen Superlative. Kritik eines unterschätzten Genres
Ausgabe 51/2013
Lauter beste Autoren

Jetzt stapeln sie sich wieder in Buchhandlungen, Redaktionen, auf den Schreibtischen der Kritiker und zunehmend auch in den elektronischen Briefkästen: die Verlagskataloge für die Herbstproduktion. In der Regel großformatige DIN-A4-Hefte, manchma l 100 und mehr Seiten umfangreich, nicht selten auf Glanzpapier vierfarbig gedruckt, broschiert, zweilen (wie bei Steidl) sogar mit Fadenheftung und Hard-Cover-Umschlag. Die Buchhändler planen danach ihr Sortiment und bereiten sich auf die Besuche der Verlagsvertreter vor. Zeitungsredakteure richten nach ihnen ihr Rezensionsprogramm und Kritiker ihre Besprechungswünsche.

Nur dem Lesepublikum bleiben sie verborgen, wenn nicht in einer Buchhandlung hier und da einmal ein Exemplar herumliegt. Ist die Herbst-oder Frühjahrssaison vorbei, landen sie im Papierkorb; sie haben dann ihren Zweck erfüllt und interessieren niemanden mehr.

So war es jedenfalls über Jahrzehnte. Niemand hob sie auf, archivierte sie systematisch. Das hat sich zum Glück geändert. Es gibt Bibliotheken, die sammeln. In Marbach befindet sich eine der größten Sammlungen von Verlagsvorschauen. Tatsächlich geben diese Kataloge, die über Vermittlung von Buchhandel und Literaturbetrieb zuletzt auf den Endverbraucher, den Leser, zielen, einen anschaulichen Begriff von dessen Vorlieben. Darüber hinaus dokumentieren sie die historischen Veränderungen in der Literatur, ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, der Rolle der Autoren, der Verlagsprofile, zuletzt der Kultur einer ganzen Gesellschaft. Auch von den Sehgewohnheiten unterrichten sie, und wer die Kataloge der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts mit den heutigen vergleicht, dem springen die Unterschiede geradezu ins Auge; er fühlt sich wie aus einer Studier-und Lesestube in das lärmende Leben eines Jahrmarkts versetzt.

Walter Benjamin notierte während der Arbeit am Katalog einer Lichtenberg-Bibliothek, dass „Buchtitel wichtiger sind als Bücher“. Seine Bemerkung lenkt uns auf die literarisch-rhetorische Gestalt dieses Werbemittles. Seit den Schiffskatalogen der Ilias, den genealogischen Katalogen des Alten Testaments, den Frauenkatalogen der griechischen Mythologie, genießen wir in ihrer Lektüre auch ein ästhetisches Vergnügen. Der griechische Ursprungsbegriff bezeichnete denn auch ein episches Verfahren – womit die Verlagskataloge gleichsam auf die Wiege der Literatur zurückführen.

Das Primat des Optischen

Heute müßte man Benjamins Feststellung entscheidend erweitern; nicht Buchtitel allein, vor allem die Bilder sind wichtiger als die Bücher. Bis in die 1960iger Jahre wurden die Bücher vor allem beschrieben, wurde ihr Inhalt nacherzählt, gab es kaum Bilder. Dann treten die Titelbilder des „Schutzumschlags“ hinzu, die typographische Vielfalt wird größer. Im Laufe der 60iger Jahre nimmt dieser Trend zu, leitet hin auf das Primat des Optischen in seiner gegenwärtigen Form.

Etwas einfach gesagt, gibt es immer mehr Bücher für immer weniger Leser. Die Verlage haben aus dem Dilemma einen zwiespältigen Ausweg gewählt: die ständige Produktion von Neuem, die nur durch schnelles Veralten und die dauernde Wiederkehr von Neuheit gelingen kann. Das hat Folgen. Die Ordnung des Nacheinander, der Entstehung und Entwicklung, löst sich auf. In den Katalogen erscheint das als Zerstreuung und Zusammenhangslosigkeit, das den Benutzern aber die Orientierung gerade erschwert. Das Ergebnis, nämlich Isolation, die Vereinzelung der Titel und Autoren, sperrt sich gegen Erinnerung.

Ein Nachteil, den die spektakuläre Inszenierung der Autoren und gewisser Handlungsfragmente („der Takt des Todes“, „uralte Mysterien eingebettet in eine vor Realismus dampfende Gegenwart“) ausgleichen soll. Die Struktur des Spektakels hat sämtliche Elemente der Kataloge ergriffen. Daher die frappierende Ähnlichkeit der Broschüren: wer eine kennt, kennt eigentlich alle, trotz der zwar schwindenden, doch immer noch spürbaren stilistischen Unterschiede etwa zwischen Suhrkamp und Blanvalet.

Die Lobrede

Farbige Autoren-Portraits beherrschen die Szene. Der ihnen eingeräumte Platz reflektiert die Erwartungen, die der Verlag mit dem Verkauf des Buches verbindet. Ob man am Anfang oder am Ende eines Katalogs steht, ob das Foto eine halbe oder eine ganze Seite füllt, das sind Rangfragen, und sollen als solche empfunden werden. Doch welcher Rang ist hier gemeint?

„Millionen von Lesern haben auf ihn gewartet“, antwortet der Katalog-Texter von S. Fischer und meint „den Autor von Drachenläufer“ der daneben aus einem ganzseitigen Portrait, im smarten Dreitagebart, sympathisch lächelnd, herausblickt. Ein andermal ist es „der angesehenste Schriftsteller Brasiliens“ oder „ein Glücksfall“ oder „ein großer Alchemist der Sprache“. Solche imperativen Zuschreibungen sind natürlich nicht neu. Auch Hans Helmut Kirst wurde einstmals als „weltbekannter Autor“ oder Hermann Kesten als „großer Moralist“ angekündigt. Doch der Kontext begründete das Urteil, sein Ton war zurückhaltender, der Stil unaufgeregt.

Das Spektakel dagegen scheut keinen Vergleich, wenn er nur hoch genug greift. „Die wichtigste Stimme der heutigen brasilianischen Literatur“ (nicht identisch mit der oben zitierten „angesehendsten“) annonciert auch Suhrkamp, der Paul Nizon gar „zu einem der besten Schriftsteller der Welt“ kürt. Das sind zwar Zitate aus literaturkritischen Würdigungen, unterscheiden sich aber von den eigen produzierten Texten der Verlage nicht. Solcher Hurra-Präsentation entgeht niemand, ob Debütant oder längst arrivierter Schriftsteller.

Dass die Lobrede von Übertreibung lebt, ist nichts neues, das Reihungsprinzip des Katalogs treibt diese Technik aber ins Absurde. Nur wer zu vergessen bereit ist, schon auf den Seiten vorher immer dem oder der Größten bereits begegnet zu sein, mag der Wiederholung noch Sinn abzugewinnen. Indem der Katalog allen Platzhaltern auf irgendeine Weise Einzigartigkeit, Meisterschaft, Genialität nachrühmt, macht er die Zeichen beliebig und verschleißt ihre Bedeutung. Man könnte wie einst Gustav Flaubert einen Phrasen-Dictionnaire zusammenstellen: von „außergewöhnlicher Erzählkunst“ und „Beweis einer großen Erzählstimme“ über „große europäische Kunst“ den „grandiosen Auftakt“ bis zum „ungeheuren Erzählwerk“, dem „virtuosen Kunstwerk“, der „wunderschönen, magischen Prosa“ und dem „Zenith der Erzählkunst“. Monströse Formeln literaturkritischer Stupidität – und doch funktionieren sie. Es sind oft namhafte Kritiker, die hier mit ihren abgegriffenen Redensarten zitiert werden. Das Markenzeichen ihres Namens oder des Feuilletons für das sie schreiben zählt, sonst nichts.

Der „neue Giordano“

Der Verfall von Bedeutung betrifft fast alle Verlagshäuser, und wenn es auch Spezialisierungen gibt, die sich noch sehr grob mit den alten Kategorien der Kunst-und der Unterhaltungsliteratur, der Belletristik und des Sachbuchs beschreiben lassen, so kann man von unverwechselbarem Profil nicht sprechen. Denn ein Zauber ist es, wie er von Schmuckstücken in der Auslage eines Juweliers ausgeht. Und wie dort ein Collier sich aus vielen Einzelteilen zusammensetzt, so bestehen auch die voneinander separierten Posten des Verlagskatalogs aus einzelnen Schmuck-Elementen. Zu den optischen Bestandteilen, Autorenfoto, Titelblatt, Bücherstapel, illustrative Ergänzungen in zeichnerischem oder fotographischem Format, treten die Textfragmente, abgekürzte Waschzettel, bibliographische Angaben („auch als E-Book erhältlich“), Stichworte zum Inhalt, Buchzitate, die üblichen Beweihräucherungen aus Kritiker – oder Kollegenmund. Sie addieren sich zu einer Kette von Hinweisen, die aber keine Aussage mehr ergeben. Kein Motiv wird ausgeführt, keine Geschichte zu Ende erzählt, keine Gedanken entwickelt.

Noch in den 1960iger Jahren konnte man Verlagskataloge finden, die ihre Nachrichten unter gleichbleibenden Rubriken ordneten: „Der Autor“, „Über das Buch“, „Kurztext“. An die Stelle eines sinnvollen Ganzen, eines in sich stimmigen Verlagsprogramms, einer zusammenhängenden „Erzählung“ über die angekündigten Bücher, ist ein Spielfeld getreten. Dessen Bestandteile kann der Benützer hin und her schieben, er begegnet den Schnipseln auf jeder dritten Seite erneut, sie sind austauschbar. Ob der „neue Giordano“ nun „Emotional. Existenziell. Eindringlich“ genannt wird oder aber „genial, kühn, erfrischend“ ist bedeutungslos. Sind „beklemmende Tragik und erzählerische Wucht“ nun Martin Walser zuzuschreiben und das „ungeheure Erzählwerk“ Wolfgang Hilbig – oder umgekehrt? Egal

Zu reden beginnen die Verlagskataloge nicht durch das, was sie sagen, sondern wie sie – nichts sagen. Wiederholung, Abkürzung, Auflösung der Satz-und Gedankenordnung, Ersatz des begründeten Urteils durch die Evidenz des schönen Bildes, Beziehungslosigkeit und Fragmentierung: das alles sind Strategien des Vergessens. So endet die Kataloggeschichte in einer doppelten Ironie. Aus dem Epos und der mythologischen Erzählung entstanden, wo der Katalog als Gefäß und Instrument der Erinnerung diente, hat ihm der moderne Verlagskatalog Zeit und Gedächtnis ausgetrieben. Und das im Namen des Buches, des wichtigsten Mittels der Überlieferung und des geschichtlichen Wissens.

Gibt es einen deutschen Verlag, der nicht das Buch als wichtigsten Träger der intellektuellen Kommunikation betonte? Aber selten finden die Sonntagsreden den Weg in die alltägliche Verlagspraxis. Die gibt sich mehr oder weniger fatalistisch den fatalen Gesetzen des Spektakels hin. Solche Feststellungen haben nichts mit Nostalgie zu tun, es gibt kein Zurück zu den Katalogen des vorigen Jahrhunderts. Doch sind die so schnell gewachsenen technischen Möglichkeiten, die Errungenschaften des modernen Designs und der Computertechnik wertneutral, haben das Potenzial , unser Gedächtnis zu erweitern oder aufzulösen, das kritische Denken zu befördern oder zu unterbinden, historisches Bewußtsein zu entwurzeln oder in neue Zusammenhänge hineinwachsen zu lassen. Auf den Gebrauch kommt es an, und probiert wird ja auch schon hier und da, in Verlagskatalogen kleinerer Häuser, denen das Ausscheren aus dem Strom leichter fällt, also Berenberg oder Matthes & Seitz oder Klöpfer & Meyer. Buchhandelskataloge könnten der ideale Ort sein für eine neue Probe aufs andere Exempel, nämlich des Buches.

Gert Ueding (geb. 1942) lehrte bis 2009 als Nachfolger von Jens Reich Rhetorik in Tübingen

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