Wer Eduard Engels Deutsche Stilkunst nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk für den besseren Ausdruck benutzt, hat seine Größe und wahre Absicht nicht verstanden. Es ist das schönste und zugleich genaueste Porträt der deutschen Sprache, das wir besitzen. Von den kleinsten Einheiten, den Wörtern, bis zu Satz, Periode, Rede und Schrift entsteht das Bild einer reichen, geschmeidigen, unterscheidungsstarken, aber auch nicht ungefährdeten Sprache – und dieses Bildnis ist bezaubernd schön, weil der Autor nicht nur als souveräner Kenner, sondern auch als Liebender schreibt. An ihrem „unerschöpflichen Wortreichtum“, ihrer „ganz einzigen Freiheit von Wortstellung und Satzbau“ erfreut er sich und lässt auch auf die Zeichensetzung nichts kommen, ist sie doch „für das leichte Verstehen notwendig“.
Man merkt jedem Satz des Autors Begeisterung und scharfsinnige Empfindlichkeit an. So ist ein Prosawerk ersten Ranges entstanden, das an Ort und Stelle die Tugenden selber vorführt, die es beschreibt. 1911 erschien die erste Auflage, 30 weitere folgten bis zur letzten 1931. Damit verschwand das Buch vom Markt – nicht etwa, weil es keine Leser mehr fand, sondern weil der jüdische Gelehrte Engel nicht mehr veröffentlichen durfte. Das besorgte ab 1943 für ihn ein Autor, den wir alle aus dem Deutschunterricht kennen: Ludwig Reiners. Aus ihm wurde so etwas wie ein geistiger Kriegsgewinnler auf Kosten des verfemten, 1938 verstorbenen Engel, bei dem er manchmal auch abschrieb. Reiners’ Stilkunst ist bis heute Standardwerk.
Verbrüderung
Engel, dessen Stilkunst nun bei der Anderen Bibliothek in einer schönen Neuausgabe erschienen ist, kannte die gesprochene deutsche Sprache wie kein anderer aus seiner täglichen Arbeit. Von 1871 bis 1919 war er amtlicher leitender Stenograf im Deutschen Reichstag, hat also, schreibt er, „mehr Reden als irgend ein andrer mitangehört“, „zehntausende lange und kurze Reden (…) auf ihre Form geprüft“. Das Ergebnis in fast 50 Jahren: „formvollendete Redner nur vier oder fünf, sprachlich und künstlerisch schöne Reden vielleicht zwanzig, gewiss nicht dreißig“. Die niederschmetternde Erfahrung hat ihn nicht verzweifeln lassen, sondern sie wurde zum kräftigen Motor seiner Stilkunst.
Dass sie sein Bild von der deutschen Sprache nicht einschwärzte, verdankte er seiner immensen literarischen Bildung, die weit über die deutschen Grenzen hinausging. Er kannte Shakespeare so gut wie Byron oder E. A. Poe, verkehrte freundschaftlich mit Fontane, Zola oder Daudet. Der oberste Heilige in seinem literarischen Kalender aber war und blieb Goethe, mit dem er beinah wie mit einem Zeitgenossen umging, ihm gelegentlich auch mal eine Ungeschicklichkeit einräumte. Durch das familiäre Verhältnis zu „seinen“ Autoren (zu denen besonders noch der Prosakünstler Nietzsche gehörte) gewinnt seine Stilkunst ihre Lebendigkeit. Man kann das Buch auch als Wegweiser durch das Schatzhaus der deutschen Literatur seit Luther lesen. Engel war ein Meister des Zitierens, wie es – Jean Paul ausgenommen – sonst keinen in unserer Literatur gibt. Er leitet jedes Kapitel mit einem Zitat ein, bringt es als Beleg oder Glanzlicht, als ironischen Kommentar oder abschreckendes Beispiel. Niemals aufgesetzt, niemals, um mit Namen und Belesenheit zu prunken.
„An einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“, lässt er Nietzsche uns vorsprechen und folgt ihm überhaupt im Lobpreis des Hörens als Bedingung des guten Schreibens. Das sei bei uns so selten, weil der Deutsche sein inneres Ohr in der Nachttischschublade verschlossen habe. Dieser Akzent ist für den heutigen Leser die erste große Überraschung. Engel geht es um nichts Geringeres als „das Überwinden des Buches“; für die „gute Schreibe“ kennt er „keinen bessern Rat als den des möglichsten Annäherns an die gute Rede“.
Ja, dass die Deutschen trotz ihrer unvergleichlich entwickelten Sprache so schlecht schrieben, liege daran, dass sie das Schreiben vor dem Reden lernten; schon Leibniz hatte diese Überzeugung vertreten. Und wirklich: Engels Stilkunst ist eigentlich eine Redekunst, und wenn er zum Beistand fremde Autoritäten braucht, lässt er nicht etwa eine der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Stillehren zu Wort kommen, sondern Aristoteles mit seiner Rhetorik, Cicero mit seinem Buch Über den Redner oder Quintilian mit seiner Institutio oratoria. „Man schreibt nicht für sich, sondern für einen anderen“, lautet Engels wichtigste Maxime, die Wirkungsabsicht darf man nicht aus dem Auge verlieren, und sie erfüllt sich nicht in einer stummen, sondern in einer beredten Sprache. Daher muss man einen Satz hören, also laut sprechen, wenn man seine Schönheit spüren will. Wer „auf die Tonwirkung des Geschriebenen verzichtet, beraubt sich eines der stärksten Eindrucksmittel“.
Verluderung
Wie ein Bildnis Caravaggios gewinnt Engels Sprachporträt Tiefe und Körperlichkeit auch durch dunkle Kontraste. Durch diesen Widerspruch kommt eine dramatische Note ins literarische Spiel. Denn nicht bloß die „Schreibsamkeit“ der Deutschen bedroht ihre Sprache, sondern auch die so sprachverlassenen Wissenschaften und die kaum noch zu bändigende „Fremdwörterei“. Beide Gesichtspunkte spielen in der heutigen Sprachdiskussion eine wichtige Rolle; Engel hat Bedenkenswertes dazu beizutragen.
Wie verräterisch wirkt im Lichte seines Buches doch ein Appell deutscher Wissenschaftler, auf Tagungen im eigenen Lande „neben Englisch immer auch (!) Deutsch“ vorzusehen, oder die Aufforderung an deutsche Wissenschaftler vor einer germanistischen Tagung in New York, „ihre Vorträge auf Englisch zu halten“. Stil und Sprache sind „Gedankenform“, wird Engel nicht müde zu erklären. Sprechen und Denken stehen in engem Zusammenhang, den Griechen schon galten sie als so untrennbar verbunden, dass sie für beides nur einen Begriff kannten: logos. „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker, ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nicht identisch genug denken“, sagte Wilhelm von Humboldt.
Und gilt diese Einsicht nicht auch für unseren alltäglichen Sprachgebrauch? Aber natürlich, antwortet Engel und weist damit ausdrücklich den Verdacht zurück, sein Kampf gegen die „Fremdwörterei“ verdanke sich etwa „schrullenhaftem Hass“ oder bloßer „Schulmeisterei“. Ihm geht es nicht um Verdeutschung um jeden Preis, sein Grundsatz lautet: „Kein Fremdwort für das, was deutsch gesagt werden kann.“ Die Wirkungsabsicht ist auch in diesem Punkt wieder sein wichtigstes Kriterium, bestehe sie nun in formelhafter „Scheinklarheit“, im bewusst gebrauchten „Nebelwesen des Fremdworts“, in „Wissensprotzerei“, gezielter Unverständlichkeit oder der Sprachilloyalität der deutschen Sprecher. In diesen Kapiteln verwandelt sich der Sprachliebhaber in den beißenden Polemiker. Besonders lustvoll nimmt er sich der Germanisten an, die deshalb so heißen, weil sie nichts von der deutschen Sprache verstehen: Wenige von ihnen sind in der Lage, „zwei Sätze hintereinander nur in deutscher Sprache zu schreiben“ oder selbst „um ihr Leben zu retten die Hauptbegriffe eines längeren deutschen Satzes deutsch auszudrücken“. Kurz: „Vielen Germanisten versagt das Deutsche bis zum Lallen.“
Was würde ihm angesichts heutiger Schöpfungen aus geisteswissenschaftlicher Werkstatt wohl einfallen? Er hätte jedenfalls noch sehr viel mehr Grund als zu seiner Zeit zu fragen: Welches Recht haben eigentlich die Deutschen, „die Sprache anderer Völker zu bestehlen und die gestohlenen Wörter pöbelhaft verunstaltet in die eigene Sprache einzuflicken“? Und: „Mit welchem Recht untersteht sich ein Deutscher, Wörter der ihm anvertrauten Sprache zu verdrängen, zu unterdrücken, auszurotten, um an ihre Stelle die verpöbelten, gestohlenen Wörter fremder Sprache zu setzen?“
Eine Ausrichtung seines Themas hat Engel trotz der Zeitgenossenschaft zur „Lingua Tertii Imperii“, zur Sprache des „Dritten Reiches“, nicht gesehen, die für uns heute eine so wichtige Rolle spielt: die bewusste Sprachpolitik zur Durchsetzung politischer Ansprüche. „Die Globalisierung läuft nach dem Vorbild der USA ab“, stellte schon vor Jahren der Leiter der Pariser Zweigstelle von McKinsey befriedigt fest – nicht unbeteiligt an diesem Erfolg sei die Dominanz des Englischen.
Wer durch unsere Fußgängerzonen wandert, mit dem Computer arbeitet oder die Populärkultur nutzt, bekommt einen Eindruck von der wirklichen Dimension der Verluderung der deutschen Sprache und ihrer Auslieferung an ein Pidgin-Englisch, das noch dazu zur „Unternehmenskultur“ hochgejubelt wird. Immer wieder aber berichten auch Beobachter, dass die Umstellung von nationalen Konzernsprachen aufs Englische, ob bei Bertelsmann, Nissan oder Aventis, vom „kulturbedingten Widerstand unter den Beschäftigten“ behindert werde. Engel hätte ihnen den deutschen Sprachpreis verliehen.
Deutsche Stilkunst Eduard Engel Die Andere Bibliothek 2016, 976 S., 78 €
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