Die Erotik der Dinge

Konsum befreit Warum Frauen sich so gerne von Warenhäusern verführen lassen

Ein großer Sonderverkauf lockt schon den ganzen Tag lang Scharen von Frauen ins Warenhaus. Stunden verbringen die meisten von ihnen dort, sie flanieren durch die Abteilungen, lassen ihre Blicke schweifen oder suchen zielstrebig nach etwas Bestimmtem, ohne jedoch dabei zu übersehen, was sonst noch angeboten wird. Erhitzt, mit zunehmend glasigen Augen, erliegen sie der Faszination durch die Überfülle der verführerischen Gegenstände, die allesamt zu haben sind. Einige wenige Männer verlieren sich in der Menge; fassungslos streifen sie durch das Schauspiel entfesselten weiblichen Begehrens, das sich hier abspielt. Sie bringen keinerlei Verständnis dafür auf, obwohl es von einem der ihren, dem Warenhausdirektor, unter Aufbietung aller psychologischen Raffinessen der Werbung in Szene gesetzt worden ist.
Eine der Kundinnen hat gerade noch genug Geld in der Tasche, um nach Hause fahren zu können, aber sie kann nicht widerstehen und lässt sich Spitzen zeigen, nur um des Vergnügens willen, sie zu sehen und zu berühren: "Der Ladentisch war überfüllt, sie tauchte ihre Hände in diese steigende Flut von Gipüren, von Brabanter, Valenciennes- und Chantillyspitzen, ihre Finger zitterten vor Begierde, ihr Gesicht erglühte allmählich von einem sinnlichen Vergnügen." Einige Wochen später wird sie die Spitzen, die sie nicht kaufen kann, schließlich stehlen, weil sie nicht anders kann: Sie muss sie einfach haben. Denn natürlich genügt das Sehen und Berühren nicht; das ist nur der erste Schritt zum Habenwollen, ja Habenmüssen. Ein kluger Kaufmann stellt die Waren folglich nicht nur auf ästhetisch anspruchsvolle Art zur Schau, sondern gibt der Kundin auch die Gelegenheit, sie zu berühren, zu riechen .... denn dann wird sie kaum noch der Verführung zum Kauf widerstehen können, auch wenn sie die Sachen nicht wirklich braucht und sie "eigentlich" nur angefasst hat, um ganz sachlich die Qualität der Ware zu prüfen.
Diese Szene könnte so oder ähnlich überall und jederzeit in den industrialisierten Ländern stattfinden; beschrieben wird sie in Emile Zolas 1882/83 erschienenem Roman Das Paradies der Damen. Schon Zola beschreibt die weibliche Kaufwut als eine Sucht, gegen die kein Kraut der Vernunft gewachsen ist. Sein Roman ist bis heute eine der besten Schilderungen weiblichen Konsumverhaltens und der Verführungsstrategien, die dieses Verhalten auslösen und steuern, um es besser ausbeuten zu können. Besser als jede nüchterne soziologische Analyse zeigt er nämlich, wovon er spricht, statt es nur zu benennen: "Frau Marty hatte jetzt das angeregte und nervöse Gesicht eines Kindes, das unvermischten Wein getrunken hat. Mit klaren Augen, die Haut kühl und frisch war sie hereingekommen. Als sie endlich fortging, nachdem sie, entsetzt über den Rechnungsbetrag, gesagt hatte, sie werde zu Hause bezahlen, hatte sie die verzerrten Züge, die geweiteten Augen einer Kranken." Der Rausch reißt die Frau mit sich und zeigt die entsprechenden körperlichen Begleitumstände, die heute mit Hilfe der Technik sogar gemessen werden können: erhöhter Pulsschlag, erhöhter Adrenalinspiegel, erhöhte Temperatur, verzerrte Miene, glasige Augen.
Der Erwerb von mehr oder weniger nützlichen Gegenständen ist der Vorwand, der die Damen ins Warenhaus oder ins Schmuckgeschäft oder in den Designermodeladen führt. Tatsächlich geht es hier um ein eminent sinnliches, ja geradezu erotisches Erleben - eine Erotik indessen, die nicht auf eine andere Person, sondern völlig narzisstisch auf die eigene bezogen ist und durch die Objekte ausgelöst und verstärkt wird. Der Schreck über die hohen aufgelaufenen Rechnungen, die Sorge, was der Ehemann, der Freund, die Freundin, zu Hause über die sinnlosen Käufe sagen wird, können die Frauen nicht vom Kaufrausch abhalten, Vernunft oder materielle Gründe spielen keine Rolle mehr, sobald das Begehren entfesselt ist: darin ist es dem sexuellen Begehren analog, ohne jedoch mit ihm in eins zu fallen. Sie beruhigen sich selbst mit der Möglichkeit, die Waren am nächsten Tag zurückzubringen, was sie in der Mehrzahl der Fälle nicht tun werden, obwohl viele ihrer Käufe schon am nächsten Tag ihren Zauber verloren haben und nur noch tote Gegenstände wie tausend andere auch sind. Aber sie haben diesen unvergleichlichen Zauber doch eben noch besessen, als sie noch im Laden und noch nicht in ihrem Besitz waren; sie bargen das kostbare Versprechen in sich, eine andere sein zu können, ihr Leben zu verändern durch den Besitz dieses und nur dieses Gegenstandes. Er hat, wenn auch nur kurz, zu der Frau gesprochen, hat sie - buchstäblich und im übertragenen Sinne - berührt: und noch immer haftet trotz der unvermeidlichen Enttäuschung die Erinnerung an dieses einstige Versprechen an ihm, auch wenn längst andere Gegenstände die gleichen Versprechungen machen (und ebenso wenig halten).
Das gilt ganz besonders, wenn es sich um Kleidungsstücke oder um Schmuck handelt, Objekte also, die frau auf dem Leibe trägt, die sie ganz unmittelbar auf der Haut fühlt, die sie sich selbst spüren lassen und die zudem das Aussehen ihres Körpers verändern. Kleider enthalten das größte Versprechen, denn als zweite Haut sind sie das Sichtbarste an uns, positionieren uns damit nach außen gegenüber der Welt und hüllen uns gleichzeitig in einen Kokon ein, der uns von der Welt abschließt. Sie erlauben uns - vermeintlich - herauszufinden, wer wir sind, oder die zu sein, die wir sein möchten: Powerfrau, Märchenprinzessin, Vamp oder Mädchen, und das nacheinander am selben Tag. Sie schmeicheln uns, provozieren uns, ermöglichen uns ästhetische Erfahrungen mitten im Alltag und versprechen uns unablässig, dass mit dem neuen Kleid alles anders wird. Einrichtungsgegenstände - Möbel, Porzellane, Stoffe - vermögen eine ähnliche Wirkung zu entfalten, sind sie doch die unverzichtbaren Requisiten unserer wechselnden privaten Bühnen, auf denen wir uns immer wieder aufs neue häuslich einrichten. Ihr Zauber ist für viele Frauen indessen nicht so unwiderstehlich wie die der Kleider, jener materiellen Artefakte, die direkt den Körper berühren, eine sinnliche Begegnung vorgaukeln, MICH ins Zentrum der Welt stellen. Die Mode enthält auch deshalb das größte Versprechen, weil sie so rasch veraltet und leichter weggeworfen werden kann. Die unvermeidliche Enttäuschung, dass sie das Versprechen, jemand anderes zu werden, nicht gehalten hat, wird sofort überdeckt vom neuen Versprechen der neuen Mode. So schützt die Mode vor Enttäuschungen, gerade weil sie die größte Täuscherin ist - immer vorausgesetzt, man verfügt über das nötige Kleingeld oder doch über den nötigen Kredit. Was aber ist schon Geld gegenüber der Chance, endlich die zu sein, die man ist? Endlich DAS Kleid, DEN Schuh gefunden zu haben, den man immer gesucht hat - und das passiert einer echten Konsumentin mit schöner Regelmäßigkeit mehrmals im Jahr.
Georg Simmel schreibt 1911, die Frauen bedürften der Abwechslung der Mode, weil ihr alltägliches Leben so eintönig sei. Ihr "Wesen" auch, übrigens. Die Männer hingegen brauchten keine Mode, denn ihr Leben sei auch so schon bunt genug. Die Geschichte hat ihn widerlegt; das Leben von Frauen ist längst ähnlich abwechslungsreich und verantwortungsvoll wie das von Männern, und trotzdem hat sich ihre Verführbarkeit durch die Mode nicht gelegt. Das heißt nicht, dass Männer nicht ebenso verführbar wären, dass sie nicht auch immense Summen Geldes für puren Konsum ausgeben - aber sie kaufen andere Gegenstände: Autos, Computer, alle jene technischen Verlängerungen des Körpers, jene Werkzeuge, mit denen man ganz unmittelbar auf die Welt einwirken und sich damit der eigenen Macht über die Welt vergewissern kann. Über diesen Konsum wird indessen weniger geredet, er wird als weniger anstößig betrachtet, weil ein Auto, ein Handy, ein Fernseher vorgeblich einen echten Nutzen und eine längere Lebensdauer haben als ein Kleid, das morgen schon unmodern ist.
Schon im Paradies wird Adam von Eva verführt, Eva hingegen von einem Gegenstand, den sie begehrt: dem Apfel. Männer können mithin, so suggeriert diese für unser Kultur bezeichnende Geschichte, zwar durch das sexuelle Wesen Frau verführt werden, aber niemals würde man sagen, Männer wären durch bloßen Konsum verführbar. Den Frauen hingegen gilt in unserer Kultur Verführbarkeit durch alles und jeden als konstitutiv eingeschrieben. Im 18. Jahrhundert fürchtete man um ihr Seelenheil (vor allem natürlich um den häuslichen Frieden), weil ihre Romanlektüren sie zu zuviel Sinnlichkeit, Phantasie, Müßiggang und Wollust verführen könnte; auch das Lesen galt als eine Form des passiven Konsums. Seit dem 19. Jahrhundert gilt eher die Mode als gefährlichste Form der Verführung von Frauen, da sie nun aufgrund industrieller Fertigungsformen immer breiteren Käuferinnenschichten erschwinglich wurde und zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wurde. Bürgerliche Frauen hatten zwar die Aufgabe, den Wohlstand ihrer Ehemänner oder Väter stellvertretend durch den Reichtum ihres modischen Auftretens vorzuführen; der Soziologe Thorstein Veblen nannte das 1899 "demonstrativen Konsum". Diese unausgesprochene Verpflichtung schützte sie jedoch nicht vor den männlichen Angriffen auf die weibliche Verschwendungs- und Putzsucht und auf ihre vorgeblich in passiver Schwäche begründete Verführbarkeit. Sie konnten es also nur falsch machen. Das gilt in gewissem Sinne noch heute. Zwar haben sich die Argumente leicht verschoben; aber weiterhin gilt entgegen dem Augenschein das Vorurteil, dass Frauen schwach und verführbar seien, irrational und narzisstisch.
Aber schon Evas Geschichte bezeugt unmissverständlich die Aktivität des weiblichen Begehrens und des weiblichen Konsums, eine Aktivität, die offiziell - auch von dem scharfsichtigen Zola - immer geleugnet wurde und wird und die doch der geheime Grund für die Angst der Männer vor den konsumierenden Frauen ist. Die Sorge, finanziell ruiniert zu werden, ist nur eine oberflächliche Rationalisierung, und sie zieht in unserer Zeit beruflich selbstständiger Frauen ohnehin nicht mehr. Tatsächlich ist Konsum, wie der französische Philosoph und Soziologe Michel de Certeau behauptet, nicht nur passive, erzwungene Reaktion, sondern eine kulturelle Aktivität, durch die Verbraucher ihre eigenen Listen und Finten entwickeln und die herrschenden Gesetze "in die Ökonomie ihrer eigenen Interessen und Regeln umfrisieren".
So beweisen die Frauen paradoxerweise ausgerechnet im Konsum ihre Selbstgenügsamkeit. Ihre Moden kaufen sie sich selber, und ihren Genuss und ihre Räusche bereiten sie sich auch selbst, im und mit Hilfe des Konsums. Das ist es letzten Endes auch, was die Männer in Zolas Roman über das größte Pariser Warenhaus des 19. Jahrhunderts so verwirrt. Zwar wird der Konsum in der Metaphorik des Romans explizit (hetero-)sexualisiert, denn der Warenhausgründer Mouret setzt seine sexuelle Männlichkeit ein, um die Frauen statt zum Sex zum - stellvertretenden - Einswerden mit den Waren zu verführen. Dennoch bleibt unter dem Strich das beängstigende Fazit: Im Kaufrausch entgleiten die Frauen den Männern. Auch wenn sie der materiellen und psychischen Verführung des Kapitalismus erliegen, so gewinnen sie doch im Konsum - und sei es nur für Momente - eine Autonomie des Schauens, Begehrens, Sich-Selbst-Entwerfens, die sie aus der Abhängigkeit von den Blicken und vom Begehren des ANDEREN zu befreien vermag.

Gertrud Lehnert, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, hat mehrere Monografien zum Thema Mode und Geschlecht verfasst.


Die deutsche Übersetzung von Emil Zolas Paradies der Damen war lange Zeit vergriffen und ist jetzt bei Edition Ebersbach neu aufgelegt (567 S., 26 Euro)

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