Als „Schüssel zum Glück“ wird das Birchermüsli von einem der vielen Hersteller angepriesen – dann müsste die Welt ganz schön glücklich sein. Selbst im Billigdiscounter lachen mehrere Sorten dem Hungrigen entgegen. Längst ist das Birchermüsli nicht mehr gesundes Privileg der Reformhäuser, sondern steht auf vielen europäischen Frühstückstischen, um müde Geister zu wecken. So unterschiedlich die Morgenstunde bei den verschiedenen Müslifans sein mag, so ähnlich schmeckt das Korn im Mund: Getreideflocken mit Milch oder Joghurt, bei manchen womöglich mit Sahne. Als fester Bestandteil des kontinentalen Frühstücks schaffte es das Birchermüsli gar bis auf die internationalen Speisekarten
Aus Schrot und Korn
Mampf! Das Birchermüsli war einst Lebensphilosophie, heute ist es fester Bestandteil europäischer Frühstückskultur. Wie unsere Morgenmahlzeit gesund wurde
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ten von Rio bis Tokio.Nicht weniger verbreitet als Kellog’s Cornflakes ist das Birchermüsli dabei eine Metapher für gesunden Lebensstil, allerdings ungleich weniger gut vermarktet als die amerikanische Frühstücksvariante. Das Birchermüsli ist keine eingetragene Marke, obwohl es genau wie die Flocken von Mister Kellog einen Namenspatron hätte: Dr. Max Bircher-Benner. Der dazu auch gleich die Lebensphilosophie gesunder Ernährung lieferte, die heute zwar Allgemeingut, Anfang des vergangenen Jahrhunderts aber durchaus spektakulär war. Die Geschichte des Müslis ist damit nicht nur die des schnellen Frühstücks. Sie erzählt auch von der Entwicklung des gesunden Essens, wie wir es heute gern auf dem Tisch haben.Bircher-Benner war ein Schweizer Mediziner und Ernährungspionier. Wichtigster Bestandteil in seinem Müsli sind die zerstoßenen Äpfel, das „Mus“. Dieses ist essentieller als die Getreideflocken und somit ein erstes Argument gegen den Spott jener, die Bircher-Müsli-Fans als „Körnerfresser“ schimpfen. Für das Originalrezept nehme man einen Esslöffel Haferflocken, drei Esslöffel Wasser, einen halben geraffelten Apfel samt Haut und Kerngehäuse, den Saft einer halben Zitrone und ein Esslöffel gezuckerte Kondensmilch. Mische alles sorgfältig und streue geriebene Nüsse darüber – fertig ist das Müsli. Bircher-Benner nannte es auch „Apfeldiätspeise“ oder kurz „d’Spys“ für Speise.Nach einer Legende bekam der Arzt den zerstoßenen Apfel mit frischer Milch und Nüssen von einer Sennerin während einer seiner Wanderungen serviert. Beeindruckt von diesem „recht seltsamen Essen“ und der gesunden Lebensweise der Alphirten dachte er an die ungesund ernährten Städter, die ihn mit Blähungen und hohem Blutdruck Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Züricher Praxis aufsuchten.Kritik an EssgewohnheitenMit dem Müsli formulierte Bircher-Benner seine Kritik an den industrialisierten Essgewohnheiten, die damals als eine Folge von zunehmenden Materialismus und Urbanismus galten. Damit steht das Müsli in einer Reihe mit dem – einige Jahrzehnte davor eingeführten – Grahambrot, den Ernährungsrichtlinien Sebastian Kneipps und der Vollwertkost Werner Kollaths aus den vierziger Jahren. So unterschiedlich die Reformen, so einig waren sich die Reformer in ihrer Kritik an der Lebensmittelindustrie, die die Preise von Produkten wie Zucker und Weißmehl senkte – und diese so der breiten Bevölkerung nicht nur schmackhaft, sondern auch erschwinglich machte.Ebenso waren den Ernährungsreformern die Einführung von Konserven und ersten Fertigprodukten wie Fleischextrakt und Brühwürfel ein Dorn im Auge. Die moderne Zivilisationskost mit zu viel tierischem Eiweiß, zu vielen leeren Energieträgern und gleichzeitig zu wenig Mineralstoffen geißelten sie als Hauptursache für viele Krankheiten. Zumeist aus bürgerlichem Milieu und dem deutschsprachigen Raum, wandten sie sich an alle Schichten – wenngleich sie fast ausschließlich beim Bildungsbürgertum auf Interesse stießen –, um die Menschen wieder auf den richtigen Weg respektive „zurück zur Natur“ zu bringen. Als Alternativen zu Konserven und behandelten Lebensmittel servierten die Lebensreformer Rohkost, Vollkornprodukte und die Ideen des Vegetarismus, der seit etwa 1850 seine Anhänger fand. Die zahlreichen Bewegungen schwankten zwischen modern-revolutionär und reaktionär – Konsens herrschte einzig darin, dass zu ungesund und von allem zu viel gegessen werde. Nur möglichst naturbelassene Lebensmittel seien wirklich gesund. Das hieß pro Rohkost und Vollkorn, contra Fleisch und Genussmittel wie Tabak, Alkohol und Kaffee.Bircher-Benner formulierte in diesem Kontext seine Ernährungsempfehlungen, die er Ordnungsgesetze nannte, und sprach von Sonnenlichtnahrung, während Kollath später von Wertstufen sprach. Mit „Sonnenlichtnahrung“ meinte Bircher-Benner alle roh genießbaren Pflanzenteile wie Blätter, Früchte, Samen, Körner, Knollen und Wurzeln – oder eben den Apfel im Müsli. Das Sonnenlicht bezeichnete er als Kraftquelle für alles organische Leben. Nicht der Gehalt an Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten und Mineralsalzen entscheide letztlich über die Hochwertigkeit der Nahrung, sondern die Qualität einer in ihr enthaltenen energetischen Spannung. Mehr Energie habe die Rohkost, weil Pflanzen aus dem Sonnenlicht spezielle Energie schöpften.Das klingt heute – je nach Standpunkt – selbstverständlich oder esoterisch, aber damals war Fleisch als größter Proteinlieferant in aller Munde. Vitamine wurden gerade erst entdeckt. Bircher-Benner etwa beobachtete in seinem Züricher Sanatorium mit dem vielversprechenden Namen „Lebendige Kraft“, dass bei einer Patientin Gelenkschmerzen von Kaffee und Schwarztee herrührten. Entsprechend wurde in der Klinik statt opulent gefrühstückt einzig ein Morgenspaziergang verordnet – und natürlich das Birchermüsli. Letzteres war nicht nur als Krankendiät gedacht, es ist konkretes Ergebnis und konsequente Umsetzung der Ernährungsphilosophie von Bircher-Benner. Im Hause Bircher, erzählen seine Nachfahren, gab es immer Birchermüsli zum Frühstück und vor dem Abendbrot zuerst Früchte, Salat oder rohes Gemüse. Das war durchaus ein Luxus, denn sowohl Gemüse als auch Kondensmilch waren damals teuer. Der Rohkost schrieb der Arzt fast denselben Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratanteil wie der Muttermilch zu, die Kondensmilch im Birchermüsli reduzierte das hohe Tuberkulose-Risiko, das damals noch mit der unpasteurisierten Frischmilch verbunden war.Gesund kann auch schmecken Ursprünglich als Abendmahl gedacht, wird das Müsli – zumindest in der Schweiz – auch heute noch oft als solches aufgetischt. Wenn nicht sogar als Nachspeise, mit großzügig Schlagsahne angereichert, was dann allerdings nichts mehr mit der ursprünglichen Idee zu tun hat. Denn Bircher-Benner dachte bei seiner Apfeldiätspeise weder an Snack noch Nachspeise, sondern an eine vollwertige Mahlzeit – nicht die Cerealien sollten nähren, sondern die Früchte.Den Auszug in die Restaurants der Welt und in den internationalen Sprachgebrauch begann das Birchermüsli in Bircher-Benners Sanatorium am Zürichberg durch die unzähligen Kochbücher und Schriften von Mitgliedern der Bircher-Familie. Der Müslierfinder projizierte sein reform-medizinisches Programm im Kampf gegen die „zunehmende Konstitutionsverschlechterung der Kultur-Menschheit“ auf seine Patienten. Im Sanatorium traf sich internationale Prominenz, die sich dem gestrengen Kur-Regime unterzog.Thomas Mann bezeichnete dieses in einem Brief als „hygienisches Zuchthaus“, weil er sich als „Gras essender Nebukadnezar“ fühlte. Die bircher-bennerschen Ordnungsgesetze seien, so Dagmar Liechti, Nichte von Bircher-Benner und spätere Chefärztin der Klinik, ein ideales Terrain für die vegetarisch lebenden Anthroposophen gewesen. Die Patienten absolvierten alle brav die Kur, gleichwohl die Nachfahren munkeln, rund um die Klinik sei sehr wohl Schwarzhandel mit Genussmitteln betrieben worden.In den zwanziger Jahren kam das Müsli auf die Speisekarten in vegetarischen Restaurants, seit den Vierzigern und Fünfzigern ist es auf den Menüplänen von Gefängnissen, Heimen, Klöstern und Militärs. Doch auf die Mangeljahre der Kriegszeit folgte die „Fresswelle“ der ersten Friedensjahre. Nach durchdachten Ernährungsphilosophien gelüstete es jetzt kaum, Kompensation war die Devise.Experiment mit Joghurt-MaschineGleichwohl wurde 1953 die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gegründet, die den Begriff der „vollwertigen Ernährung“ fortsetzte und zehn gesunde Ernährungsregeln aufstellte. Das formulierte Ziel lautete: „Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung durch Anleitung zu richtiger und vollwertiger Ernährung zu erhalten und zu steigern.“ Aber erst in den siebziger Jahren erlebte die vollwertige Ernährung eine Renaissance. Das war damals, als Papa mit den fünf verschiedenen Schnitzer-Broten heimkam und Vollkorn preiste, während Mama mit einer eigenen Joghurtmaschine experimentierte. Die Kinder durften unterdessen ihre eigenen Alfalfa-Sprossen züchten. Das Müsli gehörte fortan neben Vitamin-Schokolade und Süßholz zum alternativen, ökologischen Lebensstil der 68er und ihrer Kinder. Damit feierte es seinen endgültigen Durchbruch. Im Zuge dessen kam auch der im Englischen gängige, soziologische Begriff Muesli Belt auf – für den typischen Wohngürtel der ökologie- und gesundheitsorientierten Mittelklassebürger mit Ernährungsbewusstsein. Seltsamerweise nennen die deutschsprachigen Soziologen diesen übrigens Speckgürtel.Was Bircher-Benner in der ersten Jahrhunderthälfte verpasste, gelang aber auch Kellog’s in den achtziger Jahren nicht: „Müsli“ als Markenname schützen zu lassen. Heute ist das Müsli meist mit künstlichen Zusatzstoffen versehen und steht ganz im Dienste des Functional Food. Bereits seit den vierziger Jahren kommt es als industriell hergestellte Trockenmischungen in viele Frühstücksschalen. Dabei kann man eine große Differenzierung beobachten: Einfaches Hafer-Müsli steht im Regal neben Schoko-, Kirsch- und Karibik-Müsli. Die bunten Mischungen variieren von Apfel- bis Zimt-Crunch und die Zutaten spiegeln die Moden wieder, denen das Müsli unterworfen ist: Kokosraspeln, Macadamia, Reisflocken, Gojibeeren und Quinoa.Was aber unterscheidet das Birchermüsli von all den anderen? Es hatte einst vor allem „ohne“ sein wollen: schlicht und ohne Zusatzstoffe. Das ist gesund und steht deshalb eher für das alltägliche Frühstück werktags – während das Käsebrotfrühstück für Sonntag reserviert ist. Denn das Wochenende ist Exzess, unser Alltag dagegen soll gesund sein.
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