Porträt Nedima R. hat vor zehn Jahren in Den Haag gegen ihre Peiniger ausgesagt. Ohne sie hätte es kein Urteil im Sinne der Menschenrechte gegeben. Aber wie lebt sie damit?
Nedima R. (Name von der Redaktion geändert) kostet von dem Kohlrabi, den Begzada Alatović aufgeschnitten hat. Er schmeckt nach Sommer. Gerade hat das Gemüse Saison, hier im „Garten Rosenduft“ am Gleisdreieck in Berlin, einer riesigen Brache mitten in der Stadt. In einer ihrer Ecken liegt das interkulturelle Gartenprojekt des Vereins Südost, in den Beeten sprießen Buschbohnen, Zucchini, Kürbisse und Tomaten. Die Hitze flimmert zur nachmittäglichen Stunde, die sommertrockene Erde wird von den Frauen mit Gießkannen gewässert.
Nedima hat hier noch nicht lange ein Beet, doch bereits seit längerem komme sie hierher, erzählt die 53-Jährige und lächelt schüchtern. Stolz zeigt die kleine, unscheinbare Frau mit Hochstec
t Hochsteckfrisur auf das reifende Gemüse, das sie nach ihrem Urlaub wird ernten können. Der Garten ist Treffpunkt vieler Frauen und einiger Männer, die hier ihre Beete besäen, jäten und die Früchte ernten. Ein paar kommen aus Berlin, die meisten aus Südosteuropa, aus Montenegro, Serbien, Kroatien, Bosnien oder Herzegowina. Gemeinsam ist ihnen eine Biografie, in die sich in den neunziger Jahren schlagartig Gewalt, Angst und Misstrauen einnistete.Mit einiger Verzögerung las und hörte die Welt von dem national geschürten Hass mitten in Europa, von Vergewaltigungslagern und ethnischen Säuberungen. Wer noch gestern friedlich nebeneinander wohnte, feindete sich plötzlich an. Im westeuropäischen Gedächtnis blieben Mostar, Sarajevo, Foça und Srebrenica als Synonyme für die Massaker haften. Viele Vertriebene sind unterdessen zurückgekehrt, einige sind dort geblieben, wo sie vorübergehend für ihren Alltag eine Heimat fanden.Hier in Berlin erinnern Buschbohnen an die Heimat in der Ferne. Bosnische Frauen haben das Saatgut von dort, wo sie vertrieben wurden, mitgebracht. Im Berliner Rosengarten tragen die Bohnen nicht ihren botanischen, sondern den Namen des jeweiligen Hofes der Frauen. Das ist eine bosnische Tradition und lässt den Garten in sattem Grün erblühen.Erinnern Nedima sitzt auf einem Stuhl im Schatten des Gartens. Eine Übersetzerin kommt dazu und die Bosniakin beginnt zu erzählen. Zehn Jahre ist es her, seit sie im Mai 2000 vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen drei Kriegsverbrecher aussagte. Siebzehn Jahre ist es her, dass sie über fünf verschiedene Staaten aus der ostbosnischen Stadt Foča nach Berlin geflohen ist, wo die Mutter zweier Söhne heute als Hausfrau lebt. Sie war eine von 25 Zeuginnen, die im sogenannten Foča-Prozess aussagten. Darüber, was ihr die Peiniger damals 1992 antaten, möchte Nedima nicht mehr reden. Höchstens erahnen lässt sich das Erlebte der damals 35-jährigen Frau, liest man die Anklage und Zeugenaussagen des Prozesses. Die Prozessakten erzählen detailliert, wie die muslimische Bevölkerung systematisch vertrieben, muslimische Frauen und Mädchen in Foča über Wochen hinweg in Lagern abartig misshandelt und missbraucht wurden.Der Prozess schrieb Rechtsgeschichte: Erstmals wurden im Foča-Prozess Massenvergewaltigungen in einem Krieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet. Mit der Verurteilung von Dragoljub Kunarac zu 28 Jahren, Radomir Kovač zu 20 Jahren und Zoran Vuković zu 12 Jahren bekamen die Täter ein Gesicht. Es ist ein Verdienst des Gerichtshofes, dass die Massenvergewaltigungen während des Krieges nicht mehr anonymen Tätern zugeschrieben werden können und als Kollektivschuld auf einer Bevölkerungsgruppe lasten. Die aussagenden Zeuginnen erzählten der Öffentlichkeit unter Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte und dem Schutz einer Nummer von ihren Qualen und bezeugten auch stellvertretend, was viele andere erlitten hatten.Reden oder schweigen Es war nicht leicht als Zeugin auszusagen, erzählt Nedima. „Ich musste mich an Details erinnern: an ihre Jacken, an ihre Kleider und an ihre Krawatten. Und ich musste dasselbe genauso erzählen, wie ich es zuvor schon erzählt hatte.“ Erkannt hatte sie die Angeklagten sofort, als man ihr in Berlin Fotos von ihnen zeigte. Selbst an ihrem Sterbebett würde sie sie wieder erkennen, schiebt sie wütend nach. Die Aussagen in Den Haag forderten von den traumatisierten Zeuginnen viel Mut und waren keineswegs eine Garantie, dass die Opfer Gerechtigkeit erfuhren – geschweige denn, dass sich die Vorstellungen von Gerechtigkeit der Opfer mit der juristischen Definition davon decken würden. Aber Nedima fühlte sich innerlich gedrängt, öffentlich über das Erlebte zu sprechen, worüber viele lieber schweigen würden. „Ich fühlte mich so schlecht, dass mir das von meinen Nachbarn angetan wurde, ich musste aussagen.“ Sofort nach ihrer Flucht begann sie über das Erlebte zu reden, ständig und überall. Als sie über eine Schicksalsgenossin von der Möglichkeit erfuhr, am internationalen Kriegsverbrechertribunal Aussagen gegen die damaligen Peiniger zu machen, wollte sie dies sofort tun. Sie reiste für zehn Tage zusammen mit ihren beiden Söhnen nach Den Haag, verbrachte die Zeit außerhalb des Gerichts an einem geschützten Ort, wurde in einem abgedunkelten Auto zum Gericht gefahren und von einem Arzt betreut. Den Prozess überstand sie mit einer Tablette und ihrer Wut.Den Opfern eine Stimme geben Nedimas Erzählfluss gerät immer wieder ins Stocken. Weil sie die Erinnerungen bedrücken, und weil ihre Erinnerungen von Bosiljka Schedlich ins Deutsche übersetzt werden. Die Sprache, die die beiden sprechen, ist dieselbe geblieben, auch wenn die eine in Kroatien, die andere in Bosnien aufwuchs; auch wenn die Sprache während des dunklen Jahrzehnts plötzlich mit ihren regionalen Eigenheiten in den Dienst der jeweiligen „nationalen Sache“ gestellt wurde und unterschiedlich benannt wurde.Schedlich lebt seit Ende der sechziger Jahre in Berlin, sie baute vor 19 Jahren den Verein Südost auf, zu dessen Projekten auch der Garten am Gleisdreieck gehört. Frauen wie Nedima kamen in den neunziger Jahren viele zu Schedlich. Sie wollten über das Erlebte reden, die charismatische, unterdessen gut sechzigjährige Frau hörte zu. Und realisierte schnell, dass für jede und jeden das eigene Erlebte das Schlimmste ist. Sie organisierte Gruppengespräche und vermittelte Hilfe. In den Runden ließ sie Rachegefühle zu und achtete darauf, dass diese kontrolliert blieben. Denn, erklärt sie, sobald die Wut ausgesprochen wird, muss man die Phantasien nicht mehr Wirklichkeit werden lassen. Zeigt man die Zähne, steht man oben und ist nicht mehr Opfer.Zähne zeigen Das wollte auch Nedima. „Da war eine Revolte in mir: Ich wollte aussagen.“ Das war so, bis sie in den Gerichtssaal kam. Dort aber saßen nicht jene, die sie von zu Hause gekannt hatte. Nicht jene betrunkenen Penner. Nein, die Männer im Gerichtssaal von Den Haag trugen Anzüge und Krawatten. „Da hatte ich mich gefragt: Was suche ich hier? Die sind auf meiner Augenhöhe. Ich bin ein Opfer, aber denen scheint es besser zu gehen als mir.“ In jenem Moment war sie vor Rachegefühlen nicht gefeit. Sie war froh, dass ihre Peiniger als Angeklagte am Ende des Saales saßen.Ihrer Familie gefiel nicht, dass Nedima öffentlich über „ihre“ Schande redete. Sie hätte unbedacht gehandelt, ohne darüber nachzudenken, was ihren Kindern und Angehörigen zu Hause und im Ausland hätte passieren können. Die Enttäuschung in Nedimas Stimme ist nicht zu überhören, wenn sie erzählt, wie sie sich vor ihnen rechtfertigte: „Wenn ihr das erlebt hättet, was ich durchgemacht habe, hättet ihr genauso gehandelt wie ich.“Die Zeugin ist Teil des juristischen Apparates – von der hoffnungsvollen Wut, mit der sie damals in den Gerichtssaal ging, ist heute Verbitterung geblieben. Das Gespräch über den Prozess, der jetzt zehn Jahre zurückliegt, wühlt sie auf. Gerade gestern Nacht habe sie darüber nachgedacht, sagt sie mit lauter Stimme und redet sich in Rage. Seit nun zehn Jahren sitzen ihre Peiniger in Haft und in zwei bis drei Jahren werden sie wohl wieder ihr Leben in Freiheit leben. Während sie, Nedima, ihre Qualen nie mehr loswerde. Das Gerichtsurteil, das aus juristischer Sicht ein Erfolg ist, kann für Nedima keine Gerechtigkeit sein. Wie würde sie heute, nach dem Erlebten, für sich Gerechtigkeit definieren? Sie blickt ratlos ins Leere. Im Garten ist es still. Dass hinter Nedima drei Kaninchen heiter durch das Gebüsch hoppeln, mutet seltsam an. „Das Schwerste ist, dass das meine Nachbarn waren, die das getan haben. Und wir hatten alle zusammen gelebt. Es hätte nicht sein müssen.“ Selbst der Tod ihrer Peiniger wäre ihr keine Genugtuung. Sie sagt, sie wisse keine Lösung, und delegiert das Urteil mit einer apathischen Handbewegung an Gott.Bewältigen Ein Mittel gegen die nationalistischen Kräfte im Hier und Jetzt ist die Kultur. „Misstrauen und Angst lähmen das Bewusstsein“, meint Schedlich, deren Arbeit 2000 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande gewürdigt wurde. Dass das Denken abgeschaltet wurde, das sei das Unheimliche gewesen, sagt sie, die die Geschehnisse ihrer alten Heimat aus der Ferne beobachtete. Sie habe die Menschen, die zu Südost kamen, über das Bewusstsein nicht mehr erreicht. „Kunst dagegen wirkt ohne Worte“, sagt Schedlich. Über die Vermittlung von Südost spielte Nedima kürzlich in einer Illias-Inszenierung mit anderen Laiendarstellerinnen die Rolle des Zeus. In Hamburg und Berlin stand sie auf der Bühne und spielte Szenen, die sie zurück nach Foča versetzten. Wohl helfen Theater und Garten die seelischen Verletzungen zu bewältigen, doch vergessen kann sie nicht. „Unmöglich“, sagt sie und blickt auf ihre Hände.Aus dem Takt geraten Die Angst hält sich hartnäckig in den Köpfen. Nedima erzählt von einer Freundin, deren Sohn beim Verkauf ihres Geschäftes in der alten Heimat von dort verjagt wurde. „Jetzt frage ich mich, ob es richtig war, dass ich darüber gesprochen habe. Ich habe Angst.“ Heute spricht sie mit niemandem mehr über das, was sie erlebte. Aus Rücksicht auf ihre beiden Söhne und weil sie aus einer Gesellschaft kommt, in der ihr einst ein Mann sagte, dass seine Frau nicht mehr seine wäre, wenn ihr das passiert wäre. „Da habe ich verstanden, dass ich keinen Ort habe, an dem ich darüber sprechen kann.“ In ihrer Heimat erzählte sie einzig ihren Schwestern davon. Die Schweißperlen auf ihrer Stirn sind nicht von der Sonne, die unaufhaltsam den Schatten verschiebt. Im Gegenlicht zeichnet sich Nedimas Silhouette vor den hohen Bohnenstauden im Hintergrund ab.Der Alptraum bleibt bei ihr Alltag. Täglich bringen sie viele Dinge aus dem Takt und sie verliert ihre Beherrschung darüber. Über das, was sie im Fernsehen sehe, und wie sich gewisse Menschen verhielten. Aufgebracht erzählt sie etwa von einer „Tagesschau“ neulich im Fernsehen. Da habe ein Journalist seine eigene Frau vergewaltigt. Sie meint die Freundin von Kachelmann und will nicht glauben, dass man das Wort Vergewaltigung außerhalb eines Krieges benutzt. Ungläubig fragt sie: „Gibt es das denn noch? Dass selbst in einem so schönen Leben so etwas passiert?!“Heimat finden Wie ist es, mit einer solchen Geschichte knapp zwei Jahrzehnte später nach Bosnien in den Urlaub zu fahren? Nedima relativiert das Wort Urlaub und erklärt, dass sie nicht mehr in ihre ehemalige Heimatstadt fahre, sondern lediglich zu ihren Schwestern nach Tuzla und Sarajevo. Und in die Hauptstadt reise sie höchstens, um Papiere zu organisieren. Noch immer plagt sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ging und andere zurückließ. Dass sich die Schwestern damals nicht überreden ließen, auch zu gehen. Zwar sei es schön dort, in Bosnien, doch sieben Tage Aufenthalt seien genug, sie sei dort nicht mehr zu Hause. Und hier? Nein, sie gehöre zu den Heimatlosen – die erlebte Geschichte sei immer bei ihr, sagt sie lakonisch und schweigt. Bis sie schließlich trotzig anfügt: „Ich fahre jetzt nach Bosnien und bin sieben Tage dort. Und wenn ich zurückkehre und die Schilder mit der Aufschrift Berlin sehe, dann bin ich vermutlich fröhlicher als auf der Hinfahrt.“In der Zwischenzeit hat Begzada, die das Gartenprojekt leitet, Mokka gekocht. Die anwesenden Frauen verlassen ihre Beete und setzen sich an den Tisch, der aus der Sonne in den Schatten gestellt wurde. Nedima und die Frauen reden fröhlich und wild durcheinander, rühren Zucker in ihren Kaffee. Eine erzählt, dass sie nun den 13. Sommer in Folge nicht in die Heimat fahren könne. „Da kommt es auf einen 14. Sommer auch nicht mehr an, nicht wahr?“, sagt sie und klopft ihrer etwa 16-jährigen Tochter lachend auf die Schulter. Halb im Spaß, halb im Ernst erzählt sie, sie habe den Termin beim Ausländeramt nicht wahrnehmen können, weil sie aus lauter Angst Durchfall bekommen habe. Begzada schält noch mehr Kohlrabi und stellt Stücke davon neben den Kuchen. Sie flucht über die schlechte Qualität der Küchenmesser. Die Frauen lachen.Im Dienste der GerechtigkeitDer Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) ist neben jenem für Ruanda (ICTR) einer von zwei UN-Kriegsverbrechertribunalen. Ersterer entstand 1993 auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates mit Sitz in Den Haag. Aufgabe des Gerichtshofes ist es, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verstöße gegen die Genfer Konvention, Völkermord und Verstöße gegen die Kriegsgesetze während der Jugoslawienkriege seit 1991 zu ahnden. Angeklagt werden können nur Personen, keine Regierungen oder Organisationen. Bis Juni 2010 erhob der Ad-hoc-Gerichtshof Anklage gegen 161 Personen, davon wurden 64 zu Freiheitsstrafen verurteilt; 36 Anklagen sind noch anhängig und sollen bis 2013 abgeschlossen werden.Für ein Verfahren muss der Angeklagte persönlich vor Gericht erscheinen. Die Verurteilten sitzen ihre Strafen in verschiedenen Staaten ab, die sich den Vereinten Nationen verpflichteten, Verurteilte aufzunehmen. Chefankläger des Haager Tribunals ist nach der Schweizerin Carla del Ponte seit 2008 der Belgier Serge Brammertz.Auch wenn das Tribunal umstritten ist, zählt es zu seinen Verdiensten, dass humanitäres Völkerrecht auf die Agenda der internationalen Politik gesetzt wurde. Im so genannten Foča-Prozess verurteilte das Tribunal drei Angeklagte zu hohen Haftstrafen – und stufte zum ersten Mal die Vergewaltigung von Frauen im Krieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. GB
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