Das Bild der kranken Straße ist für eine Stadt, die unfreiwillig kleiner wird und ihre homöopathische Tradition wiederentdeckt, verlockend: Köthen in Sachsen-Anhalt schrumpft wie so manche ostdeutsche Stadt, die Ludwigstraße mit ihren leerstehenden Häusern war neben Abrissbirnen und Fabrikruinen ein weiteres Sinnbild dafür. Doch seit sich 2006 die homöopathischen Ärzte zusammen mit Stadtplanern der damals trostlosen Straße annahmen, blüht sie wieder. So heißt es in einer Selbstbeschreibung, ein Spaziergang durch die Ludwigsstraße bestätigt: Die Fassaden hier sind farbiger als andere in der Stadt. Menschen trifft man an diesem frühlingshaften Nachmittag trotzdem wenige, wer hinter den herausgeputzten Fassaden lebt, ist einzig an den liebevoll dekorierten Türschildern und grauen oder bunten Gardinen zu erahnen.
Seit der Wende ist ein gutes Viertel der einst 40.000 Menschen zählenden Stadt weg gezogen, zwischen 2003 und 2008 wurden 1.000 Wohnungen in zahlreichen Platten- wie Altbauten abgerissen. Die Sehnsüchtigen zogen gen Westen oder in die Vorstädte, endlich in ihr Eigenheim, weg von den kleinen, unsanierten Wohnungen, in denen noch der Mief der alten Zeit hing, und weg von den Orten, wo ganze Industriezweige schwanden und keine Arbeit mehr war. Der Alltag der Zurückgebliebenen ist ruhiger geworden. Schrumpfung anschaulich gemacht, das bedeutet: verwaiste Straßenzüge, geschlossene Restaurants und Arztpraxen, aber auch Senioren, die mit ihren Rollatoren gegen das Kopfsteinpflaster ankämpfen, und Klassenkameraden, die nicht mehr zu Jahresfeiern kommen, weil sie die alte Heimat nicht mehr interessiert.
Neuer Glanz
Die Internationale Bauausstellung IBA Stadtumbau 2010, im Rahmen derer Sachsen-Anhalt Projekte zu demografischem Wandel und zu Schrumpfung vorstellt, fasst dies unter dem beinahe ironischen Titel „Weniger ist Zukunft“ zusammen. Die erfolgreiche Aufwertung der Ludwigstraße im anhaltinischen Köthen ist ein Mosaikstein der zentralen Überblicksausstellung, in der sich in Dessau 19 Städte zu einem zwar sorgfältig arrangierten aber letztlich doch etwas ratlosen Stillleben drapieren. Die Städte des einst kulturell so bedeutsamen Bundeslandes leiden alle unter denselben Problemen, ein Patentrezept gegen die schwindende und vergreisende Bevölkerung gibt es trotzdem keines.
„Mein Jahrgang fehlt hier“, sagt die 40-jährige Sabine Radtke, leitende Bibliothekarin in der eben eröffneten Europäischen Bibliothek für Homöopathie in Köthen. Geblieben seien jene, die es woanders auch nicht geschafft hätten, fügt sie etwas zögerlich an. Dass das Bildungsbürgertum fehle, merke man in den kulturellen Veranstaltungen – als Einwohner schleichend, als Auswärtiger schneller. Solche Beobachtungen rühren das Mitleid von Großstädtern, das strahlende Gesicht von Radtke aber erzählt eine andere Geschichte. Sie sei halt geblieben, weil sie als eine von wenigen Arbeit habe – und unterdessen sogar ihren Traumjob gefunden hat.
Auch in der Ludwigstraße bestätigt eine Frau, die seit über 50 Jahren den Alltag in der schrumpfenden Stadt erlebt, dass der Osten nicht so traurig ist, wie fremde Besucher voreilig meinen möchten. Es lebe sich eigentlich ganz angenehm, meint sie, denn Köthen sei immer eine Kleinstadt gewesen und das geblieben – in einer Großstadt würde sie nicht leben wollen. Und ihr junger Kollege ergänzt achselzuckend: „Es tut schon weh. Doch was will man machen, wenn keiner investieren will?“ Die beiden sitzen im Ausstellungscontainer, den die IBA in die Ludwigstraße gestellt hat. Erfreut über den seltenen Besuch erklären sie in dem engen Container überschwänglich das Kartonmodell der Straße, die draußen dank der Anwendung homöopathischer Prinzipien trotz den Abrisslücken neuen Glanz versprüht.
Einst war Köthen der Zeit voraus
Köthen bewarb sich für die IBA mit der Homöopathie, dessen Begründer einst hier lebte. Samuel Hahnemann wohnte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem Fachwerkhaus an der Wallstraße, wo unter dem politischen Schutz des Köthener Freidenkertums ein großer Teil seines Organons der Heilkunst entstand. Seiner Zeit weit voraus plädierte er für die Selbstheilungskräfte des Patienten.
„Wir wussten, dass es ihn gibt, aber mehr nicht“, erzählt Radtke, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hahnemannhaus aufwuchs. Während die Inder Hahnemann bereits als Guru verehrten, wurde die Homöopathie in der DDR höchstens im Hinterzimmer praktiziert. Patienten, die sich homöopathisch behandeln ließen, kauften ihre Arzneimittel in der Apotheke unter dem Vorwand, sie wären für ihren Hund. Denn in der Tiermedizin waren sie ein durchaus probates, weil preiswertes Mittel. Auch Frau Just, die Bewohnerin und Besitzerin des Hahnemannhauses zu DDR-Zeiten, konnte die Aufregung um Hahnemann höchstens erahnen. Ab und an klopfte ein diskreter Fan an ihre Türe, der die heilige Stätte sehen wollte. Als eines Abends aber kurz vor der Wende acht französische Homöopathie-Anhänger in einem Kleinbus vorfuhren, die heimlich von einer Messe in Leipzig kamen, erhielten die Justs tags darauf ein amtliches Verbot, das Haus Fremden zu zeigen.
Heute ist das Haus ein kleines Museum, das von der Stadt besonders für indische Touristen beworben wird. Seit der Wende besuchen diese scharenweise das Haus, berühren ehrfürchtig die Wände und küssen den Boden. Frau Just schlägt stolz das vollgeschriebene Gästebuch auf und zeigt die Einträge indischer Ärzte und Heilpraktiker. Sie bedanken sich bei Hahnemann für die Erfindung der Homöopathie, für die Seelenverwandtschaft und bei „Germany“, dass es Hahnemann hervorbrachte. „In Indien geht jeder davon aus, dass es hier in Köthen eine große Universität gibt, an der Hahnemanns Homöopathie gelehrt wird“, so beschreibt Ina Rauer, die Baudezernentin der Stadt, das Potenzial der Stadt Köthen mit der Homöopathie.
Grund genug, die Homöopathie als Entwicklungskraft in Köthens Schrumpfungsprozess einzusetzen. Die Stadt sanierte das ehemalige Kloster der Barmherzigen Brüder neben dem Hahnemannhaus und eröffnete darin im vergangenen Herbst die Europäische Bibliothek für Homöopathie. Rund 2.500 Fachbücher stehen in den Gestellen und zahlreiche Übersetzungen von Hahnemanns Schriften ins Skandinavische, Japanische oder Indische, die von der internationalen Anerkennung seiner Lehre zeugen. Demnächst werden hier Studenten der Homöopathie unterrichtet, von hier führt ein homöopathischer Rundgang durch die Stadt mit den hübschen Gründerzeitbauten. Und diesen Sommer werden nicht nur Christoph Schlingensief als Redner, sondern auch 500 Gäste zum Homöopathiekongress erwartet.
Ungewöhnlicher Rollentausch
Ina Rauer hatte bis zur Ludwigstraße keine Erfahrungen mit der Homöopathie gemacht. Sie schmunzelt, wenn sie sich an die skeptischen Fragen erinnert, als die Stadtplaner das Erbe Hahnemanns auf die Stadt anwenden wollten: Ist denn die Stadt krank, wenn sie schrumpft? Und wenn sie krank ist, ist sie dann Patient? Und falls sie Patient ist, kann man sie heilen? Und könnte man sich dann am Instrumentarium der Homöopathen bedienen?
Die Zusammenarbeit zwischen Stadtplanern und Homöopathen kann man ratlos oder mutig nennen. Letztlich ging es der Stadt darum, die Bevölkerung aus der Lethargie zu reißen. Denn Schrumpfung, erklärt Rauer, sei für die Stadtplaner eine neue Situation, für die sie nicht ausgebildet seien. Höher, schneller, weiter – so lautete bisher die Devise. Durch die Schrumpfung hätte sie gelernt, dass es nicht immer einen Plan gäbe, dass das Warten dazu gehöre.
Die Ludwigstraße gehört zum Gründerzeitviertel, doch schlug man in den Siebzigern den Stuck an den Fassaden ab, damit die Häuser moderner wirkten. Die Straße war nach der Wende heruntergekommen und bot unsanierte Wohnungen in grauer Trostlosigkeit. Über die damalige soziale Situation steht in der Projektbeschreibung nüchtern: Die Bewohner neigten „in einigen Fällen zum Konsum alkoholischer Getränke und teilweise auch zu schlichten politischen Konzepten“. Heute wirkt die Straße nicht lebendiger als die benachbarten und doch ist sie bunter, aufgeräumter.
Selbstheilung durch das Auslöschen des Straßenlichts?
Damals, vor der Behandlung, wollte die städtische Wohnbaugenossenschaft die 17 leerstehenden Häuser nicht sanieren. Der Abriss wäre zwar genehmigt worden, doch städtebaulich war es nicht vertretbar, aus einem geschlossenen Gründerzeitgebiet einzelne Bausteine herauszureißen. „So wurde es zum Testfeld, das wir homöopathisch behandeln wollten“, erklärt Rauer. Der als „krank“ diagnostizierten Straße blühte eine klassische Behandlung: Anamnese, Impulssetzung, Verlaufsbeurteilung. Die Übertragung dieser Heilmethode nannten die Stadtplaner und Homöopathen in Anlehnung an Hahnemann „Coethener Methode“. Auf den ersten Impuls, ein Plakat, das ein Haus der Straße zum Abriss ausschrieb, meldete sich niemand – ungewohnt für die aus Großstädten angereisten Ärzte. Auch der zweite Impuls enttäuschte die Stadtbehörde: Die Anwohner reagierten kaum auf die Sperrung der Straße mit organisiertem Picknick und aufgestellten Pingpong-Tischen. Die Ideen zur bewussten Erstverschlimmerung, wie sie sich die Homöopathen wünschten, reichten von LKW-Durchgangsverkehr über das Einstellen der Müllabfuhr bis hin zum Löschen der Straßenlichter. Nicht alles war politisch vertretbar, die Stadt entschied sich schließlich für das Löschen der Straßenlichter an einem Dezemberabend. Damit wollte sie die Selbstheilung der Anwohner aktivieren.
Auf der anschließenden Versammlung stellten sich nicht wie üblich die Stadtplaner mit einer konkreten Idee vor die Anwohner, sondern ein homöopathischer Arzt fragte: „Hier sollen jetzt 17 Häuser abgerissen werden, wie fühlen Sie sich dabei?“ Rauer lacht zuerst, wenn sie sich an jene absurde Versammlung erinnert, und ergänzt dann: „Das tat weh. An jenem Abend, standen wir wirklich nackt da.“
Doch der Impuls schlug an. Die Anwohner hätten zum ersten Mal gemerkt, dass sie von den Abrissen betroffen sind. „Diese Hilflosigkeit, die wir da artikulierten, hat die Eigentümer überlegen lassen, wo in der Situation auch für sie eine Chance liegt“, erzählt Rauer. Es entstanden Ideen für Balkone und Grünflächen. Größter Erfolg aber war, dass durch die Aktion die Stadt in Kontakt mit Anwohnern und Interessierten kam, die einige der leerstehenden Häuser selber kauften, auf niedrigem Niveau sanierten und vor allem nutzten. Seither wurden einige Häuser für freie Flächen abgerissen, andere saniert, Fassaden bunt bemalt und werden Pläne geschmiedet. „Die Straße hat wieder eine Dynamik bekommen, die vorher nicht zu erwarten war – ohne dass die Stadt Fördergelder rein gesteckt hätte“, freut sich Rauer.
Also doch ein Patentrezept, das auch für andere Städte anwendbar ist? Nur unter bestimmten Voraussetzungen, relativiert sie. In einem öffentlichen Park etwa gelang die Methode nicht. Vielleicht, weil sich niemand so richtig verantwortlich fühlte. Die Methode brauche Energie, Beteiligte und vor allem viel Geduld. Doch genau das sei im Prozess der Rückbildung typisch: „Das Harren ist ein Teil der Schrumpfung.“
Dem Besucher bleibt das Bild der kranken Straße – ist sie denn unterdessen genesen? Was die Verantwortlichen in akademisches Vokabular zu fassen versuchen, beantworten die Stadtbewohner zwar zögerlich doch wohl überlegt: „Ja – doch … sie ist sicher am gesunden.“ Es gäbe Stellen, die sich hervorragend für Vandalismus eignen würden. „Aber da ist nichts passiert. Das beeindruckt mich als Kötherin besonders“, sagt Radtke. Die Hilfe der Homöopathie will sie dabei nicht in Abrede stellen – doch es sei die Auseinandersetzung, die Anamnese gewesen, die geholfen habe.
Zwar praktizieren noch immer wenige Homöopathen in Sachsen-Anhalt, doch immerhin ist die eingemietete Praxis für Homöopathie im Hahnemannhaus an zwei Tagen in der Woche besetzt.
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