Unlängst suchte ich einen Gefangenen auf, der mir schriftlich mitgeteilt hatte, dass er gern am Anti-Aggressions-Training (AAT) teilnehmen würde. Dabei stellte ich fest, dass er gerade Resident Evil spielte, ein Computerspiel, das einen hohen "Killfaktor" aufweist. "Sie wollen also am Anti-Aggressions-Training teilnehmen, trainieren aber eben noch mal intensiv das Töten", sagte ich. "Das ist doch nur ein Spiel, mit dem ich mir die Zeit vertreibe", erwiderte der Gefangene sichtlich verlegen.
Nicht erst seit diesem Erlebnis treibt mich die Frage um, was aggressive Videospiele für die Inhaftierten bedeuten. Ist es nicht absurd, dass wir Gefangene für drei Stunden ins AAT schicken und diese danach in ihren Haftraum zurückkehren und dort 30 Stunden pro Woche irgendw
pro Woche irgendwelche Killerspiele spielen? Während es im AAT darum geht, Gewaltverzicht zu proben, aggressive Männlichkeitskonzepte zu hinterfragen, kritische Situationen sprachlich zu entschärfen, Opferempathie und alternative Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln, lassen diese Spiele nur das prompte Killen zu: Es geht um das Eliminieren im Sekundentakt. Wer dabei erfolgreich ist, wird durch das Erreichen eines höheren Levels belohnt. Dabei bleibt das Töten folgenlos, im nächsten Durchgang sind alle Figuren wieder vorhanden. Für nichts und niemanden muss der Spieler Verantwortung übernehmen.Inzwischen sind die Kinder des Digital-Zeitalters im Gefängnis angekommen, für die Ego-Shooter einen selbstverständlichen Zeitvertreib darstellen, und wir müssen uns dringend mit den damit aufkommenden Fragen auseinandersetzen. Muss ein Gewalttäter Killerspiele spielen, müssen Vergewaltiger frauenverachtende Pornofilme schauen dürfen? Pornographische Filme - jedenfalls solche, die Melk mich ab, du Sau! oder Bis der Arsch vor Schmerzen schreit heißen - bedienen Bedürfnisse nach einer Verknüpfung von Sexualität und Destruktivität, nach Demütigung und Unterwerfung der Frau, die auch vielen Sexualdelikten zu Grunde liegt.Seit etwa 15 Jahren haben die Gefangenen das Recht, sich einen kleinen Fernseher zu kaufen, und seit einigen Jahren haben sie gerichtlich erstritten, sich Spielkonsolen und DVD-Player anschaffen zu dürfen. Adriano Sofri, der Jahre in einem italienischen Gefängnis gesessen hat, vergleicht die unentwegt fernsehenden und spielenden Gefangenen mit Platons Höhlenbewohnern. Von der Realität haben sie nur die Schatten an der Wand, und diese Wand ist der Bildschirm ihres Fernsehers. "Fast als wären sie gefesselt, liegen die Gefangenen da und wenden den Kopf den Gaukeleien dieser Miniaturschatten zu. Und die Entlassung, die Konversion, die Periagogé, falls sie jemals kommt, wird ihren Augen Schmerzen bereiten und sie das Loch beweinen lassen." Die Zulassung privater Fernsehgeräte, von den Gefangenen lange gefordert und als ein Triumph gefeiert, erweist sich als Danaergeschenk: Während die Gefangenen sich im Genuss neuer Freiheit wähnen, geraten sie in den Bann eines neuen Modus der Kontrolle. Die Gefangenen werden in der doppelten Bedeutung des Wortes "zerstreut".Die Tendenzen zum elektronischen Delirium hatte der Strafvollzugsexperte Alexander Böhm vor Augen, als er kurz vor seinem Unfalltod im Frühjahr 2006 davon sprach, dass der "Verwahrvollzug" im Begriff sei, sich zum "Verwahrlosungsvollzug" zu entwickeln. Die Gefangenen selbst schätzen, dass knapp die Hälfte der Gefängnisinsassen über eine Playstation oder einen DVD-Player verfügt und dass die meisten von ihnen Mordsimulationsspiele, so genannte Ego-Shooter besitzen und sie mehr oder weniger häufig spielen. Die im Gefängnis gelandeten Spiele werden untereinander ausgetauscht. Es scheint wie draußen zu sein: Es gibt eine Gruppe von Gefangenen, die das Spielen im Griff hat, und eine andere, die von ihrer Konsole "gespielt wird".Ursprünglich bestand die Idee der Einzelhaft in der Vorstellung, dass der Übeltäter in der reizarmen Umgebung einer Zelle über seine Sünden und Missetaten nachdenkt und so zu Einsicht, Reue und Besserung gelangt. Zweifel an der Wirksamkeit und dem Realitätsgehalt dieser Idee sind allerdings so alt wie diese Form des Gefängnisses selbst. Sie basiert auf der Annahme eines bürgerlichen Subjekts, das über eine Innerlichkeit, die mehr ist als verinnerlichtes Äußeres, über entwickelte Fähigkeiten der Introspektion und Selbstreflexion, eine ausgeprägte Wahrnehmung für Beweggründe, seelische Prozesse in sich und anderen und ein integriertes Über-Ich verfügt. Die Masse der Gefängnisinsassen entstammt aber Schichten, Klassen und Kulturen, die anders strukturierte Menschen hervorbringen. Es handelt sich in der Mehrheit um Menschen, die unter der Last ihrer Lebensverhältnisse Normen und Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft nicht verinnerlichen konnten. Da sie aufgrund ihrer Bildungs- und Ausbildungsdefizite kaum imstande sind, Konflikte, Spannungen, Enttäuschungen sprachlich auszudrücken, sind sie auf "primitivere" Formen motorischer Spannungsabfuhr angewiesen, wozu ihnen das Gefängnis nur stundenweise in der Form des Sports Gelegenheit gibt. Wo das menschliche Urbedürfnis nach Bewegung derart rabiat eingeengt wird, müssen wir mit zornigen Antworten auf diese frustrierende Einengung rechnen. Es entstehen Aggressionspotenziale, die auf Entladung drängen. Möglicherweise lebt die Faszination der Ballerspiele im Gefängnis auch davon, dass sie zumindest symbolisch zur Spannungsabfuhr beitragen und Aggressionen verarbeiten. Die "kathartische" Wirkung gewalthaltiger Spiele und gewisser sportlicher Betätigungen ist allerdings umstritten. Manches spricht dafür, dass bereits existierende Gewaltneigungen durch aggressive Reize eher noch stimuliert werden. Außerdem scheinen die magisch-omnipotenten Züge der Spielinhalte verlockend für Menschen zu sein, die in der realen Welt häufig gekränkt und gedemütigt werden. Die Gefangenen verfügten in der Regel immer schon über schwach ausgeprägte Ressourcen, oder ihre Lebensgeschichte ist mit Wunden, Traumata, Ängsten und Verdrängungen durchsetzt - deshalb ist die Verlockung groß, sie im Spiel zu vergessen oder zu kompensieren. Die durch die Spiele genährte Ich-Fiktion wird zum bedeutsamen Fluchtpunkt des realen Ich, das unter Gefängnisbedingungen Mühe hat, sich durchzuhalten und zu behaupten. Hier liegt neben der brutalisierenden eine zweite der Resozialisierung abträgliche Wirkung von Computerspielen. Exzessives Spielen hinterlässt Spuren im Gehirn und kann zu süchtigen Fixierungen führen. Auf den Appell, in sich zu gehen, müssten die meisten Gefangenen antworten wie der Berliner aus dem berühmten Kalauer: "Ik bin in mir jejangen, aber da is ooch nischt." Nun muss sich der Therapeut aber mit einer irgendwann abgebrochenen positiven Entwicklungslinie verbünden können, wenn er in seiner Arbeit etwas erreichen will. Wer diese Spur im Gegenüber nicht findet, steht auf verlorenem Posten. Wenn wir den Zugang zu den neuen Gefangenengenerationen nicht völlig verlieren wollen, werden wir unsere Erstgespräche nicht mehr mit der Frage nach der Beziehung zu den Eltern beginnen, sondern nach der Konsole und den Spielen forschen, durch die jemand sozialisiert wurde. Günther Anders´ Desiderat Dingpsychologie aus den fünfziger Jahren hat angesichts heutiger Mensch-Maschine-Symbiosen und der um sich greifenden "Geräte-Sozialisation" eine viel höhere Dringlichkeit als zu der Zeit, da er es formuliert hat.Mit einem gewissen Recht sagen die Gefangenen, dass das Spielen von Computerspielen hilft, die viel zu viele leere Zeit totzuschlagen und "den Knast zu überstehen". Was für den Fernsehkonsum in Familien gilt, trifft auch im Gefängnis zu: Die einzige ehrliche Lösung ist ein Alltag, der außerhalb des Fernsehens und des Computers die größeren Reize des Lebendigen bereithält. Wer also den Gefangenen etwas nimmt, mit dem sie das Übermaß an unstrukturierter Zeit totschlagen und ihr lädiertes Selbstwertgefühl aufpäppeln können, muss ihnen etwas anbieten, was sie den Verlust verschmerzen lässt. Die Gefangenen dürfen nicht in dem Maße sich selbst überlassen bleiben, wie das augenblicklich der Fall ist. Die hinter den Zellentüren sich ausbreitende Langeweile und Leere ist das Einfallstor der medialen Dauerberieselung und der virtuellen Sensationen. Nicht nur müssten für jeden Gefangenen ein Arbeitsplatz und ausreichend betreute Sportmöglichkeiten existieren; darüber hinaus hätte die Anstalt die Freizeit sinnvoll zu strukturieren und den Gefangenen kulturelle Angebote vielfältiger Art zu unterbreiten. Dabei geht es nicht nur darum, die Gefangenen in einen Raum zu sperren und ihnen einen Ball hinzuwerfen, Skatkarten, Schachbretter oder Hanteln zur Verfügung zu stellen, sondern um Formen gestalteter und strukturierter Gemeinschaft, in denen leibhaftig anwesende Bezugspersonen für ein halbwegs sinnvolles Leben ohne Straftaten und ohne die falschen Himmelfahrten der Drogen und synthetischen Kicks der virtuellen Welt eintreten.Hier ist Enthusiasmus gefordert, das vehemente Eintreten für die Idee eines vernünftigen, sinnvollen und lebenswerten Lebens. Ob man das freilich von in Routine erstarrten und mürrisch gewordenen Mitarbeitern verlangen kann, die in ihren Büros sitzen und darauf warten, dass es Abend wird und das goldene Zeitalter der Pensionierung anbricht, ist fraglich. Hier lägen Chancen auch für viele Mitarbeiter, ihre erstarrten und ergrauten Beamtenseelen zu revitalisieren. Die Mitarbeiter eines Behandlungsvollzugs, der diesen Namen verdient, müssten den perspektivlosen Gefangenen durch die Kraft persönlicher Übertragung Hoffnung auf sich selber geben und ihnen inmitten einer flüchtigen Welt ein stabiles, uneingeschüchtertes, menschliches Gegenüber bieten. Statt die vom Gefängnisalltag arbeitsteilig abgespaltenen Behandlungsstrukturen zu stärken, die auf technikorientierte Maßnahmenkataloge zur Reparatur aktenkundiger Auffälligkeiten setzen, käme es darauf an, Bindungen zwischen Mitarbeitern und Insassen entstehen zu lassen und Behandlung wieder in den Alltag der Gefangenen zurückzuholen und zur Sache aller am Vollzug Beteiligten zu machen. Bindungen entstehen nur unter der Bedingung der leiblichen Anwesenheit und der Bereitschaft, sich als "Mensch zu geben" und in die Waagschale zu werfen. Nur auf der Basis von "Beziehungsarbeit in Näheverhältnissen" (Oskar Negt) und tragfähigen Bindungen hat das Gefängnis die Chance, die Gefangenen zur Umkehr zu bewegen und Normen und Werte menschlichen Zusammenlebens in ihnen zu verankern. Im Gefängnis gilt, was auch sonst im Leben zutrifft: Folgebereitschaft und Respekt bekunde ich nur demjenigen gegenüber, den ich anerkenne und der auch mich anerkennt. Wer Gefängnisse zu Dienstleistungsbetrieben machen möchte und an Input-Output-Modellen misst, verwechselt die Produktion von Autos mit der Herstellung von lebensgeschichtlicher Identität.Der Maßregelvollzug hat es wegen seines Therapieauftrages leichter, juristisch begründet gewisse Spiele und Filme aus seinen Einrichtungen herauszuhalten. Allerdings müsste das mutatis mutandis auch für den Strafvollzug gelten, dessen Klientel zunächst einmal nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Solange allerdings die Resozialisierung, also der Versuch, die straffällig gewordenen Menschen für die Gesellschaft zurückzugewinnen, die vornehmste Aufgabe des Strafvollzugs in einem demokratischen Rechtsstaat ist, müssen sich all seine Praktiken daran messen lassen, inwieweit sie der Verwirklichung dieses Zieles dienlich sind. Insofern dürfte die Verbannung Menschen verachtender und Gewalt verherrlichender Computerspiele und Filme aus den Gefängnissen auch juristisch begründ- und durchsetzbar sein. Moralisch geboten ist sie allemal. Götz Eisenberg, Jahrgang 1951, arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Zuletzt erschien von ihm Gewalt, die aus der Kälte kommt. Amok, Pogrom, Populismus im Psychosozial-Verlag (2002).
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