Siggi war schon da, als ich in den späten siebziger Jahren zum ersten Mal nach Butzbach kam. Damals als Mitglied einer Handballmannschaft der Universität, die an einem Turnier im Gefängnis teilnahm. Der Sporthof war asphaltiert und um das Spielfeld herum hatten rund 800 blau gekleidete Gefangene Aufstellung bezogen, die ihre Mannschaft frenetisch anfeuerten. Siggi war Anfang 30 und der unbestrittene Chef der Knastmannschaft: ein kraftstrotzender Koloss von 125 Kilo, der die anderen das Fürchten lehrte. Wir spielten Handball und Basketball und waren soviel körperlichen Einsatz nicht gewohnt. Siggi warf seinen mächtigen Körper ins Getümmel. Aber alles blieb im Rahmen, und wir kamen in den folgenden Jahren gern wieder. Siggi, das Raubein, wurde zu einer
Ein ewiges Raubein
Haft Siggi ist schon lange im Gefängnis. Nicht durchgängig, aber regelmäßig. Selbst die Liebe hat ihn nicht gerettet. Und jetzt nähert sich sein Leben dem Ende
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ner festen Größe. Unnachahmlich sein Lachen, wenn er mich mit kräftigem Händedruck begrüßte und auf die Schulter schlug: „Wird aber auch Zeit, dass ihr euch mal wieder blicken lasst!“In den Pausen zwischen den Spielen bot Siggi mir eine selbstgedrehte Zigarette an und erzählte, dass er schon zwei Jugendstrafen und eine Erwachsenenstrafe wegen Körperverletzung, Förderung der Prostitution und Diebstahl hinter sich hatte, die er in den sechziger und frühen siebziger Jahren in einem benachbarten Jugendgefängnis beziehungsweise in Butzbach verbüßt hatte. Er hatte einen Sohn, der in einem geklauten Opel-Admiral gezeugt worden war. 12 Jahre war er mit Brigitte, der Kindsmutter, zusammen gewesen, die anfangs für ihn anschaffen gegangen war. Zwischenzeitlich hatten sie sich getrennt, waren wieder zusammen gekommen und hatten noch eine gemeinsame Tochter bekommen. Über die vierte Inhaftierung war die Beziehung dann endgültig zerbrochen, die Oma kümmerte sich um die Kinder.In der Haft lernte Siggi über Annoncen in der Zeitschrift Heim und Welt Frauen kennen, die ihm Pakete schickten. Bis zu 100 Zuschriften erhielt er auf eine Anzeige. „Wie Krähen umkreisen gewisse Frauen die Gefängnistürme und greifen sich einen Gefangenen vom Hof“, sagte Siggi. Frauen, deren Ehen gescheitert sind und die hoffen, mit den ebenfalls gescheiterten Männern im Knast ihr Glück zu finden. Einmal heiratete er eine Bekanntschaft im Vollzug. Nach seiner Entlassung ging die Beziehung schnell in die Brüche.Seine Schlagkraft ist gefürchtetNach der Schule hatte Siggi zunächst eine Lehre als Weißbinder – heute würde man Anstreicher sagen – begonnen, nach wenigen Wochen auf eine Metzgerausbildung umgesattelt. Drei Monate vor der Gesellenprüfung schmiss er „den Bettel hin“. Ältere Kollegen vom Schlachthof hatten ihn eingeladen, mit ihnen um die Häuser zu ziehen und ihn ins Rotlicht-Milieu eingeführt. Schnell begriff Siggi, dass man hier ohne Knochenarbeit viel Geld verdienen konnte. Zum Einstieg boxte er ein paar lokale Kiezgrößen weg und verschaffte sich auf diese Weise Respekt und Anerkennung. Er etablierte sich als Zuhälter, wurde eine große Nummer in der Unterwelt einer südhessischen Großstadt. Diverse Frauen gingen für ihn anschaffen und lieferten das Geld bei ihm ab, das er mit vollen Händen ausgab. Viele Frauen seien in ihn verliebt, ihm „hörig“ gewesen. Aber wenn sie nicht spurten, nicht genug Geld brachten, habe er sie schon mal geschlagen; meist aber habe die Drohung gereicht, sie zu verlassen und durch eine andere zu ersetzen.In diesen Jahren habe er gelebt wie die Made im Speck. Siggi war wegen der Schlagkraft seiner Fäuste gefürchtet. Er gründete einen Motorrad-Club und fuhr einige Jahre von Treffen zu Treffen. Polizei und Justiz ließ er im Glauben, in einem renommierten Lokal in der Küche zu arbeiten. Als ich Siggi kennen lernte, saß er seine vierte Gefängnisstrafe ab, „einen Fünfer“, also fünf Jahre wegen Körperverletzung und räuberischer Erpressung. Eine seiner Frauen hatte ihm erzählt, dass ein Freier einen größeren Bargeldbetrag dabei hatte. Siggi lauerte ihm im Park auf, schlug ihn zusammen und nahm das Geld.Nach seiner Entlassung verloren wir uns für ein paar Jahre aus den Augen. Er versuchte, aus dem Milieu auszusteigen, betrieb mit seinem Vater eine Kneipe und lebte mit einer Frau zusammen. Aber so einfach war es nicht mit dem Anständig-Sein. Siggi trank phasenweise in rauen Mengen und wurde immer wieder in Schlägereien verwickelt oder brach selbst welche vom Zaun, wenn ihm danach war oder „ihm jemand dumm kam“.Noch ein FünferMitte der neunziger Jahre landete er erneut mit einem „Fünfer“ in Butzbach, wo ich zwischenzeitlich eine Anstellung beim Psychologischen Dienst erhalten hatte. Zusammen mit einem Freund trainierte ich einmal in der Woche mit den Gefangenen Handball, woran auch Siggi teilnahm. Inzwischen war er in die Jahre gekommen, seine Lebensweise hatte ihre Spuren hinterlassen. Er tat sich schwer zu akzeptieren, dass ihm jüngere Kerle überlegen waren und kämpfte verbissen um seine Rolle als Platzhirsch. Er war streitlustig, jähzornig und rechthaberisch; gelegentlich zog er, wenn er mit einer Schiedsrichterentscheidung nicht einverstanden war, beleidigt von dannen: „Macht euren Scheiß alleine!“ Doch 14 Tage später, spätestens aber, wenn ein Spiel gegen eine Mannschaft von draußen auf dem Programm stand, tauchte er wieder auf und versuchte, das Kommando an sich zu reißen.Ende der neunziger Jahre verließ er das Gefängnis. Inzwischen war Siggi Anfang 50, und wenn er seinem Leben noch eine Wende geben wollte, dann jetzt. Er eröffnete mit einem Kumpel eine Kneipe, die sie aber bald wieder aufgeben mussten, weil die Brauerei ihnen kündigte und das Haus verkauft wurde. Alles schien wieder den Bach runter zu gehen. Mit einem anderen Kumpel zog er um die Häuser. In einer Kneipe, die ausgerechnet „Gerichtsklause“ hieß, fiel ihm eine Frau auf, die einsam an einem Tisch saß und Kaffee trank.Flirt mit der eisernen Lady„Das ist die eiserne Lady“, erklärt ihm sein Kumpel, „die lässt keinen an sich ran.“ Das reizt Siggi. Die Frau erweist sich als nicht so eisern. Sie kommen ins Gespräch und tauschen ihre Telefonnummern aus. Am nächsten Vormittag ruft er sie an und sie verabreden sich für den Abend. Sie gehen essen, tanzen, ins Kino und spazieren Händchen haltend am Rhein entlang. Mit Mitte 50 ist Siggi zum ersten Mal in seinem Leben richtig verliebt.Und, was noch besser ist, Inge erwidert sein Gefühl. Er legt sich mächtig ins Zeug, macht keine krummen Dinger, interessiert sich nicht für andere Frauen und trinkt nur mäßig. Spät im Leben wird ihm so etwas wie Glück zuteil und er kann es nicht richtig fassen. Inge und er ziehen zusammen, ein Jahr später hält er – in diesen Dingen ganz altmodisch – bei Inges Mutter um die Hand ihrer Tochter an. 2001 heiraten sie und feiern ein großes Fest. Um symbolisch einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen, nimmt er den Namen seiner Frau an. Beinahe märchenhaft scheint sich alles zum Guten zu wenden.Doch nach dem Tod der Mutter bricht bei Inge eine Depression wieder aus, unter der sie seit ihrer Pubertät immer wieder leidet. Sie versucht, die Krankheit mit Alkohol und Tabletten zu bekämpfen. Siggi erleidet 2003 einen Herzinfarkt und kommt ins Krankenhaus. Nach fünf Tagen verlässt er gegen den Rat der Ärzte die Klinik und fährt nach Hause. Inge liegt tot im Bett. Sie hat sich am ersten Tag seiner Abwesenheit mit Alkohol und Tabletten das Leben genommen. Die von ihm gerufene Polizei verdächtigt Siggi, Inge getötet zu haben und nimmt ihn fest. Erst als er nachweist, dass er im Krankenhaus gewesen ist, lässt man ihn gehen.Die Mutter bringt ihn in die PsychiatrieSiggi beerdigt seine Frau. Er lässt sich treiben, will Inge nachfolgen und sich tot saufen. Er wohnt bei seiner Mutter, die sich eines Tages nicht anders zu helfen weiß, als ihren Sohn in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Er macht eine Entgiftung und mäßigt sich etwas. Inges Mutter war wohlhabend gewesen und hat ihrer Tochter eine größere Summe hinterlassen, die Siggi nun erbt. Er kauft sich in ein renommiertes Hotel ein. Aber so recht passt die Rolle des gediegenen Hoteliers nicht zu ihm, nach zwei Jahren steigt er wieder aus.Mit einem Kumpel macht er eine Kneipe auf. Um den Abstand zu bezahlen, schießt Siggi einen größeren Betrag vor, über den es kurz darauf zum Streit zwischen ihm und seinem Teilhaber kommt. Die Situation eskaliert, Siggi traktiert den anderen mit den Fäusten, zieht ihm eine Metallstange über den Schädel, würgt ihn und nimmt Geld aus der Kasse, von dem er glaubt, dass es ihm zusteht. Der Mann trägt Platzwunden, Prellungen und eine schwere Gehirnerschütterung davon und liegt sechs Wochen in der Klinik.Er erstattet Anzeige gegen Siggi, der wegen schwerer Körperverletzung und Raub zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt wird. Ein zu Rate gezogener Sachverständiger attestiert Siggi eine nicht korrigierbare Neigung zu einer dissozialen Lebensweise, und da er sich durch alle vorangegangenen Strafen nicht eines Besseren hat belehren lassen, geht das Gericht von einem offensichtlich nicht behandelbaren „hartnäckigen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten“ aus. Es spricht im Anschluss an die Zeitstrafe Sicherungsverwahrung aus. Die ist seit der Strafrechtsreform aus dem Jahre 1998 zeitlich unbegrenzt, kann also bis zum Lebensende währen. Ein Gefangener, gegen den Sicherungsverwahrung angeordnet ist, sieht kein Licht mehr am Ende des Tunnels und lebt in gänzlicher Ungewissheit über das Ende seiner Haft.Als Siggi wieder in Butzbach eintrifft, ist er sichtlich beeindruckt. „Jetzt geht der Sargdeckel über mir zu“, sagt er. Doch die anfängliche Erschütterung legt sich, und Siggi richtet sich in der vertrauten Umgebung ein. Er kennt hier Gott und die Welt und ist immer noch eine Größe unter den Gefangenen. Er arbeitet in der Küche, er hat sein Auskommen. Und da der Mensch nicht leben kann, ohne zu hoffen, geht er davon aus, dass ihm die Sicherungsverwahrung erspart bleibt und sie zur Bewährung ausgesetzt wird. Dafür ist er sogar bereit, sich einer „therapeutischen Maßnahme“ zu unterziehen, wie es im Gefängnisjargon heißt.Er will noch wasDann bekommt er Magenschmerzen. Als er zum Arzt geht, wird Leberkrebs diagnostiziert, der bereits Metastasen gebildet hat. Auch der Darm ist befallen. Im Sommer 2009 wird die Haft für drei Monate unterbrochen, damit er sich einer Chemotherapie unterziehen kann. Er aber bricht die Behandlung ab, verlängert die Unterbrechung eigenmächtig und wird zur Fahndung ausgeschrieben. Siggi ahnt, dass es zu Ende geht, er will noch etwas haben vom Leben. Das geht ein paar Wochen gut, dann wird er verhaftet und ins Gefängnis zurückgebracht. In der Weihnachtszeit erhält er die Nachricht, dass seine Lebenserwartung noch ein paar Monate beträgt.Da sich die Staatsanwaltschaft mit einer weiteren Haftunterbrechung schwer tun wird, hofft Siggi darauf, dass die Ärzte ihn haftunfähig schreiben oder einem Gnadengesuch stattgegeben wird. Er möchte auf keinen Fall im Gefängnis sterben.
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