Am 12. Dezember 2018 ist Wilhelm Genazino im Alter von 75 Jahren gestorben. Ich hatte das Glück, ihm ein paar Mal zu begegnen. Als Schriftsteller stieß ich bereits Ende der 1970er Jahre auf ihn. Ein Freund hatte mich auf die Abschaffel-Trilogie aufmerksam gemacht. Genazino wurde für mich zu dem, was man einen Lebensschriftsteller nennen könnte. Mit großer Zuverlässigkeit erschien in den letzten 40 Jahren alle zwei Jahre ein schmaler Roman von ihm. Ich erwartete den „neuen Genazino“ immer schon sehnlichst und las ihn dann prompt. Wobei lesen ein zu schwaches Wort ist: Ich stürzte mich auf die Romane, sog sie auf, kroch in sie hinein, erkannte mich in ihnen wieder.
Theorie der Verborgenheit
Leibhaftig bin ich Wilhelm Genazino zum ersten Mal bei einer Lesung in der Gießener Stadtbibliothek begegnet. Das muss 1996 gewesen sein. Das Buch, aus dem er vor kleinem Publikum las, trug den eigenartigen Titel Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Darin schildert er mit der für ihn charakteristischen Detailversessenheit, wie sich eine kleine Spinne in seine Zuckerdose verirrt und zwischen den Würfeln herumkrabbelt. Nachdem die Spinne die Dose verlassen hat, erkennt er sich in dem Tier wieder: „Es gibt keine Flucht, keine Rettung und kein Heil, es gibt nur das Versteck und auch dieses nur vorübergehend.“ Nach der Lesung ging ich zu seinem Tisch und bat ihn, das Buch zu signieren. Ich weiß noch, wie erstaunt ich über seine Erscheinung war. Er sah aus wie die personifizierte Biederkeit und hatte es doch faustdick hinter den Ohren. Ich verdanke dieser ersten Begegnung die Erkenntnis, dass es manchmal klug sein kann, seiner Entfernung von der Realitätstruppe das ironische Aussehen des Konformismus zu geben. Zu meinem „Lieblingsbuch“ von Genazino wurde Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz von 1989. Darin ist der hochaktuelle Satz versteckt: „Was wir brauchen, ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, dass das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt.“
Als ich im Butzbacher Gefängnis begann, gegen die dort grassierende kulturelle Verelendung mit Theateraufführungen, Lesungen und Diskussionsgruppen anzugehen, schrieb ich Genazino im Jahr 2009 an und fragte ihn, ob er es sich vorstellen könnte, zu einer Lesung zu kommen. Er habe in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nichts vor und komme gern. Er habe in den 80er Jahren in Bremen im Gefängnis über ein Jahr lang eine Schreibwerkstatt durchgeführt und verspüre seither eine gewisse Verbundenheit mit den in Gefängnissen einsitzenden Menschen. Spätestens damals sei ihm bewusst geworden, welche Zufälle dafür verantwortlich sind, dass wir draußen lebenden Menschen von Gefängnis und Strafe verschont geblieben sind.
Da ihm die Atmosphäre während der Lesung und der Diskussion mit den Gefangenen gefallen hatten, versprach er, mit seinem nächsten Buch wiederzukommen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ihn im Dezember 2011 erneut am Bahnhof abholte. Dieser bot das Bild eines fortschreitenden Zerfalls. Eine Wand war aufgebrochen und ein Heizkörper ragte aus dem Inneren des Gebäudes auf den Bahnsteig. „Es sieht hier so aus, als seien die Menschen weggegangen“, kommentierte Genazino. Die stellvertretende Anstaltsleiterin hatte den Wunsch geäußert, dem Gast vorgestellt zu werden. Als wir ihr Büro betraten, ging sie auf ihn zu und begrüßte ihn mit den Worten: „Sie sind also der berühmte Schriftsteller Genozino!“ Wilhelm Genazino zuckte unmerklich zusammen, reagierte aber gelassen auf die üble Verballhornung seines Namens. Als wir wieder unter uns waren, konnte er es sich nicht verkneifen, leicht abgewandelt einen Satz von Ludwig Thoma zu zitieren: „Wahrscheinlich eine Einser-Juristin und auch sonst von mäßigem Verstand.“
Laufende Zettelwirtschaft
Die Lesung wurde wieder ein „echter Kracher“, wie die Gefangenen es ausdrückten. Genazino las aus Wenn wir Tiere wären. Angeregt durch den letzten Butzbach-Besuch landet die Hauptfigur prompt im Gefängnis. Ihm gefiel gut, dass die Gefangenen ihn unverblümt fragten, ob man mit der Schriftstellerei reich werden könne. Als würden sie ernsthaft in Erwägung ziehen, statt Banken zu überfallen Bücher zu schreiben. „Einige schon“, sagte er, „ich allerdings nicht.“ Aber er beklage sich nicht. Er schreibe alle zwei Jahre einen nicht sehr umfangreichen Roman, von dessen Verkauf er dann bis zum nächsten leben könne. Er gehe viel in der Umgebung seiner Wohnung umher, stelle Beobachtungen an und halte diese auf kleinen Zetteln fest, die er im Gehen beschrifte. Auf diese greife er dann beim Schreiben eines der nächsten Bücher zurück. Er arbeite relativ diszipliniert zu bestimmten Tageszeiten und schreibe nach wie vor auf der Schreibmaschine. Ein Computer komme für ihn nicht infrage. Das vernichte die Sorgfalt beim Formulieren. Als Vorbilder nannte er Kafka und Robert Walser, dessen Schilderungen des scheinbar Nebensächlichen ihn stark beeinflusst hätten. Gegen Ende zitierte er einen Satz Walsers, der an einem Ort, an dem das Rubrizieren und Diagnostizieren endemisch ist, eine ungeahnte Sprengkraft entfaltete: „Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.“
Als ich ihn zum Bahnhof brachte, gerieten wir in einen Kampf mit dem Fahrkartenautomaten. Als es uns nach längeren Bemühungen gelungen war, ihm eine Fahrkarte zu entlocken, waren wir uns einig, dass wir als unverbesserliche analoge Menschen bald in die Situation von Heizern geraten würden, die nach der Elektrifizierung der Eisenbahn noch ein paar Stationen mitfahren dürfen. Als er in seinen Mantel gehüllt und mit seiner Schirmmütze auf dem Kopf den Zug nach Frankfurt bestieg, sah ich ihn zum letzten Mal. Zu einer ins Auge gefassten Lesung im Gießener Georg-Büchner-Club wird es nun nicht mehr kommen. Wilhelm Genazino hat den Zug verlassen. In seinem letzten Roman überlegt er, welchen neuen Namen er einer trostlosen Straßenbahnhaltestelle geben könnte. Er stellt sich vor, wie schön es wäre, wenn der Straßenbahn-Fahrer eine Haltestelle „Ewiger Mangel“ ausrufen würde.
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