Was ist das, was in uns lügt, mordet und stiehlt?

Verbrechen zu Kunst machen Das Verbrechen des Magnus G. hält uns den Spiegel vor - doch in Frankfurt will man nicht hineinschauen, auch nicht auf der Bühne

Darf ein "abscheuliches Verbrechen" öffentlich zur Schau gestellt und vermarktet werden? Ist es den Opfern zuzumuten, noch einmal mit dem Täter konfrontiert zu werden, und sei es auch nur auf der Bühne? Seit mehreren Wochen tobt in Frankfurt/Main eine Debatte um das Theaterstück Die zweite Haut von Wolfgang Spielvogel, das die Entführung und Ermordung des Jungen Jakob von Metzler thematisiert und seinen Mörder Magnus Gäfgen in den Mittelpunkt stellt. Obwohl das Stück bislang noch niemand kennt, sind die Fronten bereits verfestigt. Dabei sagt die Auseinandersetzung viel darüber aus, wie der neue kriminalpolitische Konsens, Mörder wie Wesen von einem fremden Stern zu behandeln, mittlerweile Fuß fasst.

Die Chefin einer so genannten Drückerkolonne lässt einen Mitarbeiter, der nicht genug Abonnenten wirbt und "Scheine schreibt", von einer Kollegin stundenlang foltern und schließlich mit einem Spaten erschlagen, mit dem das Opfer zuvor sein eigenes Grab hatte schaufeln müssen. Die Chefin überwacht die Hinrichtung mit Pistole und Kampfhund und fotografiert die Stadien der Tortur.

Zwei spanische Gymnasiastinnen locken eine Mitschülerin in einen Hinterhalt, stechen wie besessen auf sie ein und schneiden ihr schließlich die Kehle durch. "Wir wollten eine neue Erfahrung machen und bis an die Grenze gehen", geben sie bei ihrer Vernehmung zu Protokoll.

Zwei junge Russlanddeutsche überfallen ein Juweliergeschäft, fesseln und knebeln die beiden Angestellten, plündern den Laden und schneiden den beiden vor dem Verlassen des Ladens die Kehlen durch. "Neben ihrer fast unsäglichen Brutalität trägt die Tat Züge eiskalter, fast professioneller Durchführung eines Vernichtungsplans", sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung.

Zwei Männer entführen die Geschwister Tom und Sonja aus Eschweiler bei Aachen. Um das neunjährige Mädchen ungestört sexuell missbrauchen zu können, töten sie ihren elfjährigen Bruder: "Der L. hat gesagt, der Junge muss entsorgt werden", sagt W. in der Gerichtsverhandlung. Nachdem sie sich an dem Mädchen vergangen haben, stülpt L. ihm eine Plastiktüte über den Kopf und erwürgt es. Als der Richter ihn fragt, in welchem Zustand er sich befand, als er das Kind erdrosselte, antwortet dieser: "Ich war locker drauf."

Der neue türkische Freund einer in Deutschland lebenden Polin misshandelt und quält tagelang deren dreijährige Tochter, bis er sie gegen die Wand schleudert und dann sterbend und mit kahl geschorenem Kopf auf der Toilette eines Krankenhauses ablegt.

Verstehen kann das auch ein Psychiater nicht

Die Liste solcher und ähnlicher Gewalttaten ist beliebig verlängerbar. Sie hinterlassen Öffentlichkeit, Gerichte und Angehörige ratlos. Letztere vor allem hoffen vergeblich auf Erklärungsansätze und Hinweise, die dem Tod eines ihnen nahen Menschen ein wenig Sinn verleihen, der ihnen das eigentlich Unerträgliche wenn nicht erträglich, so doch erträglicher macht. Sie wollen nicht nur, dass der Täter seine Strafe findet, sondern erwarten, dass sich das anfangs Unfassbare der Tat im Laufe der Gerichtsverhandlung in eine halbwegs plausible Erzählung verwandelt, die dem, was ihnen zugestoßen ist, wenigstens nachträglich einen Sinn geben könnte.

Selbst wenn man ahnt, dass solche Erzählungen stets etwas von einer "Sinngebung des Sinnlosen" (Theodor Lessing) haben und den Versuch darstellen, nachträglich ein Muster in das Chaos des Blind-Kontingenten zu weben, können Menschen das Bedürfnis, Unbekanntes in leidlich Bekanntes zu verwandeln und Sinn in ihre Lebensläufe bringen zu wollen, nicht abschütteln. Hilfestellung erwartet man sich an dieser Stelle vor allem von den psychiatrischen Sachverständigen, deren Aufgabe es wäre, den namenlosen Schrecken dadurch zu bannen, indem man ihm einen Namen gibt: "Nun, es handelt sich hier um einen Fall von ..."

Immer häufiger müssen aber selbst die von den Gerichten zu Rate gezogenen forensischen Gutachter eingestehen, dass es ihnen nicht möglich ist, einen Verständniszusammenhang herzustellen und den motivationalen Hintergrund der Tat aufzuhellen. Armin M., der so genannte Kannibale von Rothenburg, die Herren W. und L. aus Eschweiler, Magnus G., der Jurastudent aus Frankfurt, der den Bankierssohn von Metzler entführt und getötet hat - alles ganz normale, unauffällige Leute, an denen ihre Um- und Mitwelt vor der Tat nichts Ungewöhnliches entdecken konnte und bei denen nach der Tat die Psychiater auf keine Symptome einer gravierenden psychischen Störung oder gar psychiatrischen Erkrankung stoßen.

In den dunkelsten Phasen des Nachdenkens über solche Akte entgrenzter Gewalt beschleicht mich mitunter die Furcht, dass wir mit unseren Erklärungen und theoretischen Aneignungsversuchen der Entwicklung der Gewalt hoffnungslos hinterherhinken. Die zeitgenössischen Barbareien scheinen nicht länger im Kontext psychologisch-psychiatrischer Deutungsmuster interpretierbar zu sein, sondern allenfalls in Termini einer nahe an der Soziologie siedelnden "Dingpsychologie" (Günther Anders). Immer unvermittelter stoßen wir im Innern der Täter auf Gesellschaftliches, ihre Innerlichkeit ist bloße Reprivatisierung: die Herstellung einer Beziehung der Außenwelt zu sich selbst auf dem Wege einer flachen Verinnerlichung. Die Gesellschaft bemächtigt sich der Menschen mehr und mehr umweglos und scheint sich in ihnen als psychische Frigidität und Indifferenz zu reproduzieren.

Der gewaltsame und menschenfeindliche Charakter von Gesellschaften, die sich als ganze der Markt- und Kapitallogik und ihrer alles durchdringenden Kälte unterwerfen, wird durch solche Taten gleichsam aus der Abstraktion gerissen und zur Kenntlichkeit gebracht. Wenn die Täter krank sind - und man hat Grund daran festzuhalten -, so sind sie nicht kränker als die Gesellschaft, in der sie (und wir) leben. Die zeitgenössischen Krankheitsbilder künden weniger von tragischen Triebschicksalen und aus der Kindheit mitgeschleppten innerseelischen Konflikten, sondern besitzen den Status von "Soziosen" (Hans Kilian), die unmittelbar auf die Störung des gesellschaftlichen Ganzen verweisen.

Grenzen der juristischen Wahrheitsfindung

Das Strafverfahren erfüllt eine wichtige Funktion innerhalb des Systems sozialer Kontrolle und Integration. Verbrechen wie die des Magnus G. erschüttern das stets prekäre Gleichgewicht des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das Strafverfahren und die im Urteil ausgesprochene Strafe sollen es wiederherstellen. Obwohl die richterliche Wahrheitsfindung trotz aller Indizien, Beweise und Geständnisse immer Züge eines Konstruktes trägt, gilt das Urteil als "Ort der Wahrheit" (Hans-Georg Gadamer). Nur so bietet die forensisch gefundene Sprachregelung allen Beteiligten und der Gesellschaft Schutz vor der unendlichen Auslegbarkeit des menschlichen Lebens. Kamen während der Verhandlung noch konkurrierende Versionen und Erwägungen zu Wort, reduziert das Urteil das unendliche Rauschen der Totalität auf eine Stimme und stellt eine wie immer problematische, für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung aber unverzichtbare Eindeutigkeit her.

Der Täter ist gefasst, das Urteil gesprochen, das Unrecht gesühnt. Der Fall gilt als abgeschlossen. Und dennoch bleiben die Motive des Täters häufig im Dunkeln, wo sie "wie Fledermäuse umherschwirren" (Wolfgang Spielvogel), und sorgen unter der Oberfläche des wiederhergestellten Friedens weiter für Beunruhigung.

Die Formalien der juristischen Prozedur und das Korsett der Strafprozessordnung entscheiden darüber, was vor Gericht Gehör findet und was nicht. Alles wird auf die Person des isolierten Täters und seine individuelle Willensfreiheit und Schuld reduziert, die Fragen nach den biographischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit seiner Tat, nach den Tendenzen und Kräften, die durch den Täter hindurch wirksam werden und ohne die seine Tat nicht möglich gewesen wäre, gelten vor Gericht als etwas, "das nicht zur Sache gehört". Im Strafvollzug angelangt, wenden sich rechtskräftig verurteilte Täter, die - wenn sie sich einen Rest Gewissen bewahrt haben - meist die Strafe als wie immer problematisches Äquivalent ihrer Schuld akzeptieren, in der Hoffnung an Seelsorger, Sozialarbeiter und Psychologen, nun endlich die wahren Gründe der Tat herauszufinden.

Genau an dieser Stelle setzt das Stück von Wolfgang Spielvogel ein, das - wenn man so will - eine Art von fiktivem Gedankenlautwerden des Entführers und Kindermörders darstellt, der in seiner Zelle sitzt und - getrieben von "der Sehnsucht einer Wirkung nach ihrer Ursache" (Joseph Brodsky) - über sich und seine Tat nachdenkt. Spielvogel greift - wie viele andere Autoren und Künstler vor ihm - den vom Gericht nicht verwerteten Rohstoff auf und versucht, den abgebrochenen Aufklärungsprozess jenseits der Zwänge der juristischen Verfahrenslogik weiterzutreiben.

Den Täter "vermonstern"

Kaum berichtet die Presse über eine öffentliche Lesung aus dem Stück Die zweite Haut, bricht ein Sturm der Entrüstung über den Autor und Regisseur und sein Ensemble herein. Wer derart die Aufmerksamkeit auf die Person des Täters konzentriere, verletze allein dadurch bereits die Gefühle der Angehörigen des Opfers; wer versuche, einen Täter wie Magnus G. zu verstehen, dem gehe es in Wahrheit darum, ihn zu entschuldigen; der Autor und Regisseur wolle sich durch die Befassung mit einem spektakulären Verbrechen Aufmerksamkeit sichern und ein spektakuläres Verbrechen finanziell ausschlachten. "Darf man diesen Killer zum Bühnenstar machen?", fragt Bild, und von Seiten der CDU fordert man ihn auf, das Stück nicht aufzuführen. Warum gibt es bereits derartige Reflexe, wenn noch keiner das Stück gesehen hat, das erst am 18. September 2004 Premiere hat?

Jede Gesellschaft produziert Codes, die festlegen, wen wir als "Unsereiner", als "zu uns" gehörig begreifen und wen nicht, in wen man sich einfühlt und in wen nicht. Seit dem Fall Dutroux und einigen nachfolgenden spektakulären Verbrechen hat sich - vorangetrieben vor allem durch die privaten Fernsehanstalten und die Boulervard-Presse - die Tendenz durchgesetzt, Straftäter vom Kaliber Schmökel, Zurwehme, Meiwes, Gäfgen etc. als nicht "zu uns" gehörend zu betrachten und zu "vermonstern". Das "Monster" ist entweder derart böse oder krank oder beides zugleich, dass man es nur wegsperren und den "Schlüssel wegschmeißen", keinesfalls aber verstehen, therapeutisch behandeln und für die Gesellschaft zurückgewinnen kann. Bestimmte Kategorien von Straftätern werden außerhalb des Menschlichen situiert, was uns dazu berechtigt, ihnen jedes Mitgefühl und Verständnis aufzukündigen. Vergessen ist Goethes Einsicht, dass es kein Verbrechen gebe, das er nicht an irgendeinem Tag seines Lebens hätte begehen können. "Ich könnte so etwas nicht", sagen die anständigen Leute und weisen damit die beunruhigende Frage Büchners: "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?" von sich.

Dabei hat sich vor gar nicht so langer Zeit eine breite Öffentlichkeit dafür interessiert, wie einer zum Mörder wird und warum, und was mit einem Mörder nach seiner Verurteilung geschieht. Die Differenz zwischen den beiden Prozessen gegen Jürgen Bartsch - der erste fand 1967 statt, der zweite 1971, dazwischen lag die antiautoritäre Revolte der Schüler und Studenten - ist Beleg für die grundlegende Änderung, die sich in jenen Jahren vollzog: Das Monströse galt nicht länger als das aus der Gesellschaft Auszumerzende, sondern als der "Ernstfall der Humanität" (Gerhard Rehn), an dem diese sich zu bewähren hat. Mit einem gewissen Erschrecken erkannte man im Straftäter einen Menschen: Seine Verbrechen und unsere Tugenden sind austauschbar; er ist unsere Wahrheit, so wie wir die seine sind! Sartre brachte das in seiner Genet-Biographie auf die Formulierung: "Man muss schon wählen: Wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muss dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ich sein."

Wer spricht noch von Resozialisierung?

Im Banne eines neuen kriminalpolitischen Konsens haben wir uns inzwischen anders entschieden und beschlossen, Straftäter wie Wesen von einem fremden Stern zu behandeln und einer möglichst perfekten und dauerhaften Exklusion zu unterwerfen. Statt über die wirkliche Verbreitung von Verbrechen und ihre Ursachen aufzuklären, wird populistisch aus einer diffusen sozialen Dunkelangst, die man gezielt in Kriminalitätsfurcht überführt, Kapital geschlagen. Die parallel dazu betriebene Fokussierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Opfer führt selten dazu, sie zu rehabilitieren und ihre Lage zu verbessern. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es denjenigen, die ständig die "Sensibilität für die Opfer" im Munde führen, in erster Linie darum geht, die Exklusion der Täter zu rechtfertigen, härtere Strafen durchzusetzen und jeden Ansatz des Verstehens von Straftätern mit einem Tabu zu belegen.

Dabei liegt es durchaus im wohlverstandenen Interesse der Opfer und ihrer Angehörigen, wenn Schriftsteller, Psychoanalytiker, Filmemacher und Theaterleute den Versuch unternehmen, sich in Täter einzufühlen und hinter der Strafe und der Straftat einen Zugang zu den Motiven und zum verschütteten Gemüt des Täters zu finden. Solange Straftäter auf Zeit eingesperrt werden und nicht, wie immer lauter gefordert wird, "für immer", besteht der wirksamste Opferschutz in den Bemühungen um die Resozialisierung der Täter. Der Weg dahin führt über Einfühlung und den Versuch des Verstehens.

Freilich wird man von Fall zu Fall genau hinschauen und prüfen müssen, von welchen Interessen Projekte, die Kriminalfälle aufgreifen, angetrieben werden. Der Kriminologe Arthur Kreuzer hat, als ruchbar wurde, der Fall des "Kannibalen von Rothenburg" solle verfilmt werden, zu Recht gefordert, dem Staat müssten in Fällen obszöner Vermarktung von Straftaten, gegen die man rechtlich keine Handhabe besitze, wenigstens Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung eingeräumt werden. Griffe die mediale Ausschlachtung von Verbrechen durch die Täter selbst um sich, würde außerdem ein neues Motiv der Nachahmung geschaffen. Auf der Schattenseite der neoliberalen Gesellschaft, im trüben Milieu der Überzähligen und Herausgefallenen, ist die Ansteckungsgefahr durch den "Aufmerksamkeitsterror" (Florian Rötzer) groß und warten zahllose "Schläfer" auf ihren Beachtung garantierenden Auftritt.

Wenn es stimmt, dass sich eine Gesellschaft in der Einstellung zu ihren Randzonen als ganze enthüllt, ist es schlecht um den Zustand einer Gesellschaft bestellt, die dazu übergeht, ihre Abweichler und Außenseiter, ihre heterogenen und verfemten Teile, völlig von sich abzutrennen und auszubürgern. Je vehementer und intensiver sich eine Gesellschaft mit ihrer Kriminalität und ihren Kriminellen auseinandersetzt, je intensiver der Wechselprozess zwischen ihren homogenen und heterogenen Teilen ist, desto intakter und lebendiger ist sie. Alle Versuche, das Verbrechen mit "Stumpf und Stiel auszurotten" und die Verbrecher zum Verschwinden zu bringen, tragen den Keim zu eigenen Verbrechen schon in sich. Das Verbrechen des Magnus G. hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns erkennen können. Das Stück von Wolfgang Spielvogel lädt uns dazu ein.

Götz Eisenberg arbeitet als Gefängnispsychologe in der Justizvollzugsanstalt Butzbach.


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