Die EU bleibt auch nach der Erweiterung am 1. Mai als Sozial- und Wirtschaftsraum national codiert. Die Frage wird sein, ob und wie sich "transnationales Vertrauen" herausbildet, wenn eine Union der 25 eine neue Identität finden muss. Nach einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) genießen unter den Neumitgliedern die kleinen und wohlhabenden Länder wie Schweden, Luxemburg, die Niederlande und Dänemark das größte Vertrauen als EU-Partner.
Es ist Montagmorgen. Kühler Aprilwind treibt den Tag vor sich her. Der erste Gang durch die prächtige Donaumetropole, deren Architektur zuweilen genussvoll die Habsburger Monarchie und das glorreiche Goldene Zeitalter der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zitiert, endet im Café Eckermann an der Andrássy ut., dem Prachtboulevard der Stadt. Das Café gehört zum Goethe-Institut Inter Nationes und ist Treffpunkt vor allem für die hiesigen Deutschen. Ein paar von ihnen sitzen schon an den Marmortischchen, trinken Milchkaffee - den besten der Stadt, wie es heißt - und lesen deutsche Zeitungen vom Wochenende. Man kennt sich, arbeitet als Praktikant in den deutschsprachigen Institutionen oder studiert an der Budapester Universität. So wird die Stadt zur dörflichen Gemeinde, wie nicht selten unter Minoritäten.
Der Kälteeinbruch zerrt ein wenig am Gemüt, der Frühling war schon über Budapest hereingebrochen - die Jahreszeit mit ihrer Sehnsucht nach Wandel und Erneuerung, die auch mitschwingt, wenn vom anstehenden EU-Beitritt des Landes die Rede ist. Die Zeitungen in Deutschland überschlagen sich derzeit mit Identifizierungen der in die Union strömenden Länder und räumen für Intellektuelle von dort gelegentlich gar erste Seiten frei, damit die Vorstellung des nationalen Wohnortes einen gebührenden Platz findet.
Es hat den Anschein, als müsse sich der neue Mieter mit Brot und Salz einem Einzugsritual hingeben - doch ist der neue jener alte Mieter, der schon seit Jahren das Hinterhaus bewohnt und den jeder am Schritt erkennt, wenn er den Hof betritt. Dennoch lesen alle die Neuigkeiten aus der Fremde, als sei unbekanntes Terrain zu entdecken und nicht jenes Land gemeint, das seit Jahrzehnten bereist wird, um kostengünstig Urlaub zu machen - mit Gulasch und Pálinka und Béla-Bartók-Rhythmen am Plattensee.
Was wirklich fremd sein mag an Ungarn, hat wenig mit der Sprachisolation eines lingualen Inselstatus (eingebettet in slawische und germanische Sprachen) zu tun, sondern reflektiert das teilweise merkwürdige Gebaren der Magyaren, sich mit Vorliebe in einem patriotisch durchwirkten Nationalgefühl zu verfangen. Mit Blick auf die Welt draußen vor der Tür - schrieb der Kunsthistoriker Lászlo F. Földényi dieser Tage in einer deutschen Zeitung - hüllten sich die Ungarn oft in "trotziges Schweigen", seien "innerlich aber entrüstet" und ummantelten ihr "Minderwertigkeitsgefühl gern mit Größenwahn". Nicht verwunderlich, dass er dazu ein jedem Ungarn bekanntes Vörösmarty-Gedicht zitiert, in dem es heißt:
"Und Völker stehen um das Grab / Dort wo ein Volk versinkt, / Dass aller edler Menschen Aug´ / Voll Trauertränen blinkt."
Ging man am 15. März, dem Nationalfeiertag, durch Budapest, sah man diese und ähnliche Verse auf etlichen Plakaten. Schließlich ruft der Tag eine Niederlage ins Gedächtnis. 1848 wurde der Aufstand liberaler Adliger von Habsburger Truppen blutig niedergeschlagen. Sicher wäre das Aufbegehren gegen die Despotie immer eine feierliche Erinnerung wert, wenn nicht überkommener Nationalismus zu diesem Anlass mit ebenso ernst gemeinten wie irrealen Forderungen nach alten Grenzen, verlorenem Land, nach Großungarn gar aufwarten würde. Und wenn nicht Großungarn, dann wenigstens Siebenbürgen! Die Geografie der extravaganten Träume, in Gestalt einschlägiger Gazetten und Schriften ist sie schon für ein paar Forint an jeder Budapester Ecke zu haben. Steckt darin mehr als Selbstmitleid? Mehr als negative Selbstbefriedigung? Verlusterfahrung?
"Mit Europa kommt alles Schlechte zu uns", ist eine häufige Meinung. Aussagen dieses groben Rasters scheinen die Kehrseite jener Selbstsuggestionen, wie sie der ehemalige Premierminister Viktor Orbán (Vorsitzender des FIDESZ/Bund der Jungdemokraten) kultivierte, als er Ende 2003 verkündete, nicht Ungarn gehe auf Europa zu, vielmehr lasse Ungarn Europa zu sich herein. Diese Sicht ist weit verbreitet in einem Land, das von einer real existierenden Demokratie noch einige Schritte entfernt scheint. Allzu gern begründet auch die derzeitige Regierung der ungarischen Sozialisten unangenehme Entscheidungen wie erhöhte Steuern oder gekürzte Sozialleistungen mit Beschlüssen der Europäischen Kommission in Brüssel.
Europäisierung als Dämonisierung, nach Meinung des Politologen Attila Ágh von der Budapester Wirtschaftsuniversität bedienten sich Politiker gern der Formel, alles Schlimme käme aus Brüssel. Das beziehe sich in der Regel auf konkrete Entscheidungen, weniger auf einen Wertetransfer, wie ihn Teile der Bevölkerung befürchten. Und das, obwohl ein schleichender Verfall sozialer und moralischer Werte längst Alltag ist im postsozialistischen Ungarn und nicht von außen provoziert wird.
Die Opposition spielt gern mit der Angst und Verunsicherung der Menschen, wenn sie etwa in Gestalt der Jungdemokraten (FIDESZ) durch eine Unterschriftenaktion zur Revision des Haushaltsbudgets aufruft. Die Partei hat dafür sogar beim früheren belgischen Premier Wilfried Martens Zuspruch finden können. Auf dem in eine Sportarena verlegten FIDESZ-Parteitag wurden kürzlich die Zuhörer mit demagogischen Parolen wie: "Jeder Ungar hat das Recht, ein Haus zu besitzen!" mobilisiert. Im Gegenzug verglich die Tageszeitung Népszabadság FIDESZ-Führer Viktor Orbán mit Benito Mussolini, wohl wissend, wie sehr das unter die Gürtellinie ging.
Ohnehin bleibt die Frage, was großungarische Ambitionen oder provozierte Schlammschlachten à la FIDESZ dem Volk wirklich nutzen, unbeantwortet. Vermutlich eher wenig. Schaut man genauer hin, erkennt man in der ungarischen Politik neben viel aufgeschäumten Emotionen auch den Willen, jenen Reformprozess fortzusetzen, der zum anstehenden EU-Beitritt geführt hat. Auch wenn davon nicht selten angenommen wird, er treibe Ungarn in den Abgrund. Aber schon Johann Gottfried Herder lag mit seiner Prophezeiung vom Untergang der Ungarn falsch. So sehr es mancher davon auch zu schätzen weiß, sich am Gefühl selbstquälerischer Isolation zu laben.
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