Was stellt man sich unter einer "Fundgrube" vor? Einen tiefen Graben, in den vielerlei hineingeschüttet wurde. Das liegt nun ziemlich chaotisch nebeneinander, übereinander, durcheinander. Manches ballt sich - je nach Schwer- oder wechselseitiger Anziehungskraft - zu Konglomeraten oder setzt sich in der Tiefe ab. Aber es ist kein Müll, was da liegt. In einer Fundgrube wühlend, findet man lauter schöne und brauchbare Dinge. Das 213. Heft der Horen unter dem Titel Hamlet und kein Ende ist eine Fundgrube.
Man findet zunächst Texte hochrangiger Literaten, die gebeten waren, sich einer beliebigen Figur, den Titelhelden ausgenommen, zu widmen. In dramatischer (wie bei Christoph Hein oder Durs Grünbein), narrativer (beispielsweise Katja Lange-Müller, Juli Zeh) oder auch essayistischer (etwa Reinhard Jirgl) Gestalt erweist sich zwölfmal: Man kann über jede Figur schreiben, vom Geist des Alten über Polonius bis zum Totengräber, man kann sie so ernst nehmen, wie dies tatsächlich alle Beteiligten tun - und schreibt doch immer auch und gleichermaßen über Hamlet. So ergeben sich wechselnde, originelle Perspektiven nicht nur auf diesen, sondern darüber hinaus auf Material und Tektonik des unausschöpfbaren Stückes in seiner Gesamtheit.
Ein Grafik-Zyklus von Armin Mueller-Stahl, essayistisch kommentiert von Hans-Dieter Sommer, beschließt den Reigen künstlerischer Originalbeiträge: 13 Lithographien zu seinem eigenen Filmdrehbuch Hamlet in Amerika - die zweite ästhetische Ebene des Bandes und eine originäre ausdruckstarke Hamletaneignung zugleich. Inmitten dieses ersten Teiles berichtet der Schauspieler Ulrich Mühe über einen anderen Glücksfall solcher Aneignung. Seit dem Sommer 1989 und noch 1990 hatte er mit Heiner Müller als Regisseur den Hamlet und Müllers Hamletmaschine probiert und gespielt. Drei deutsche Revolutionen später, nachdem der Achtundvierziger Freiligrath "Deutschland ist Hamlet" geschrieben hatte, sei - so Müller zu Mühe - die DDR Hamlet geworden, beschäftigt mit dem eigenen Verschwinden in der Geschichte wie dieser. Und der Darsteller entdeckte: "Hamlet ist kein Rächer. Hamlet ist vor allem Schauspieler". Wie in Shakeseares "Mausefalle" brach die Zeit ein ins Spiel. Der Schauspieler-Intellektuelle fand sich euphorisiert am 4. November 89 auf einem Pritschenwagen auf dem Alexanderplatz, eine Million Menschen sein Publikum: "Besoffen vor Glück warteten wir die Wirkung ab." Fünf Tage später war der utopische Augenblick vorüber, die Stunde des Schauspielers vergangen. Mühe notiert seine Befreiung von Hamlet am 27. November: "Die Rolle beginnt mit den letzten Worten." Er variiert sie: "Der Rest ist Arbeit."
Zu Ende gegangen war damit auch die "Hamlet"-Rezeptionsgeschichte im DDR-Theater. Wer den umfänglichen Reader, der den zweiten Teil des Bandes bildet, betrachtet, klagt weder Gustav Landauer noch Jan Kott ein, weder André Müller noch Robert Weimann und nicht einmal den Shakespearegegner Grabbe, die ebenso fehlen wie viele andere - solche Sammlungen werden immer höchst unvollständig sein müssen. Aber bei der DDR-Aneignung frage ich mich, warum von ihr nur dieser eine Endpunkt dokumentiert ist. Kam es dadurch, dass bei den Brechttexten ausgerechnet der berühmte Paragraph 68 ("Angesichts der blutigen und finsteren Zeitläufe, in denen ich dies schreibe...") aus dem Kleinen Organon für das Theater fehlt?
An diese hamletkritische Lesart hatte Adolf Dresen in seiner Diskurs stiftenden, bald verbotenen Greifswalder Inszenierung von 1964 angeknüpft, Hans Dieter Mädes idealisch verklärende Dresdener Aufführung war dann das apologetische Kontrastprogramm. Hamlet blieb virulent. Goethes Faust ausgenommen, lässt sich kaum eine politisch wie ästhetisch exemplarischere Klassiker-Aneignungsgeschichte in der DDR finden. Aus ihr erst lässt sich Müllers und Mühes Doppelprojekt zu Wendezeiten ganz erklären.
Ansonsten aber trifft das Wort von der Fundgrube auf diesen Leseteil aufs Schönste zu. Von Goethes Lehrjahren bis zur Hamletmaschine oder Hildesheimers Hamlet. Ein Fragment tritt nun doch der Titelheld selber in das scharfe Licht dieser Lesebühne. Eine noch stärkere Fokussierung ergab sich für die Ophelia-Gestalt. Sie wird ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt, ganz überwiegend durch großartige lyrische Texte, von Rimbaud bis zu Heym, von Achmatowa bis Benn, von Celan bis Sarah Kirsch, von Bobrowski bis Hilbig. Mehrfach trägt Ophelia die Züge der Rosa Luxemburg. Vielleicht ist es ja eine Binsenwahrheit - noch nie ist jedenfalls so deutlich geworden wie durch diese Zusammenstellung, dass das zweite große Gravitationszentrum der Tragödie Ophelia heißt. Und offenbar haben die großen Poeten des vergangenen Jahrhunderts dies früher entdeckt als unsere deutschen Theater bis heute. Hamlets Geist in der Kästnerschen Version gibt den Rausschmeißer: "Und die meisten Toggenburger fanden: / Endlich hätten sie das Stück verstanden. "
Hamlet und kein Ende / Les-Arten, Spiel-Räume Kunst-Stücke. Zusammengestellt von Jürgen Krätzer. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Band 1/2004
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