Politik wie eine Tasse Kaffee

Held der Minidramen Jeder Spot dramatisiert einen Konflikt, in den das Produkt rettend eingreift. Wie Kanzler Schröder aus dem Werbefernsehen gelernt hat

In diesem langen Sommer sahen wir den folgenden, amüsanten Werbespot: Ein junger Mann mit seiner Freundin des nachts vor der Haustür. Die Eltern? "Die schlafen", sagt der Junge und nimmt sein Mädchen mit in die Wohnung. Er hat ihr eine Tasse Kaffee bereitet. Der verführerische Duft, das wird ihm plötzlich klar, zieht unter der Tür ins elterliche Schlafzimmer: ungewollte Nebenwirkung. Er nimmt das Schultertuch des Mädchens, verstopft die viel zu große Türritze. Nebenan ist Vati selig lächelnd und schnuppernd am Aufwachen. Dann steht er in der Tür, Mutti sieht ihm über die Schulter. Der junge Mann, noch kniend, schaut verwirrt nach oben, sagt: "Papa - Kaffee?" Hinter dem Rücken der Männer winken die Mutter und das Mädchen lächelnd einander zu. Stimme aus dem Off: "Das kann nur das Verwöhn-Aroma." Dann Standbild, in der Mitte groß eine Packung Jacobs Krönung, darunter als Schriftzug der gleichzeitig aus dem Off gesprochene Text: "Jacobs Krönung. Das Beste von JACOBS. Wunderbar."

Es lohnt sich, diesen 30-Sekunden-Spot dramaturgisch-analytisch zu sezieren. Er steht für eine Reihe ähnlicher Beispiele, für eine Tendenz, auf die ein anderer berühmter Werbespruch angewandt werden könnte: "Nicht immer - aber immer öfter." Er erzählt nämlich eine Geschichte in Gestalt eines Minidramas. Das hat, wie es sich nach überkommenen Maßstäben für ein Drama gehört, einen zentralen Konflikt: In diesem Fall den zwischen jungen Leuten auf erotischem Erkundungspfad und etwas wertkonservativen Eltern, die dergleichen nicht zu früh und vor allem nicht in der eigenen Wohnung wünschen. Es hat auch einen eindeutigen Helden, mit dem man sich gern identifiziert: den jungen Mann, der zu Beginn (sozusagen im 1. Akt) das Tabu mutig durchbricht, später (im 2. Akt) tatkräftig handelnd die drohende Gefahr abzuwenden sucht und schließlich (3. Akt) durch einen genialen Einfall Konfliktzuspitzung und Katastrophe verhindert und die glückliche Lösung, das Happy End herbeiführt - er bietet dem Vater eine Tasse Kaffee an. Nicht irgendeinen Kaffee. Jacobs Krönung!

Unser Minidrama hat aber auch seine genrespezifische Besonderheit: Die überragende Platzierung des Produktes. Dieses wird dramaturgisch herausgestellt, indem es mitspielt. Als das Glück der jungen Leute auf dem Spiel steht, greift das Produkt ein und bewirkt den Schicksalswechsel, die klassische Peripetie. Es wird zum Schwert und zum Schild des jungen Helden und schließlich sogar gleichsam zum zweiten Helden des Stücks: Es bewirkt die Versöhnung der Generationen im Zeichen des Genusses. Was für ein Kaffee, der solches vermag! Es folgt denn auch, wie eine Art Epilog, die symbolische Überhöhung und Verklärung dieses Produktes durch Standbild, Schriftzug und Stimme aus dem Off - eine dreifache Apotheose.

Aber was wird hier eigentlich dramatisiert? Wir gehen von einem Begriff der Dramatisierung aus, der besagt, dass wir als "dramatisch" erst empfinden, erfahren und bedenken, was zuvor als "dramatisch", und das heißt: als existenziell bedrohlich entdeckt, aber vor allem bezeichnet wurde. Be-zeichnen meint dabei auch: Zeichen, neue Signifikanten dafür zur Verfügung stellen. Zum Beispiel theatralische oder visuelle, wie dereinst die Turnschuhe eines hessischen Jungministers bei seinem Amtseid.

In der Tat, bevor in Deutschland die ersten Grünen die Umweltgefährdung als existenziell bedrohlich bezeichneten, weil sie sie als erste genau so empfanden, erfuhren, bedachten, erlebte kaum einer dieses Problem als ein dramatisches. Das gesellschaftliche Bewusstsein von dem, was dramatisch sei, hat sich damit und seitdem geändert.

In unserem TV-Minidrama nun wäre, gäbe es keinen Jacobs-Kaffee, die sexuelle Erfüllung einer jungen Liebe bedroht: wahrlich auch etwas Existenzielles. Dramatisiert wird also das riskante Leben, das wir ohne jenes köstliche Getränk führen müssten. Das dafür benutzte Zeichensystem ist, wie wir sahen, dass des traditionellen, "aristotelischen" Dramas, eingeschlossen eine angemessen illusionistische Spielweise der vier Darsteller, schließlich soll man sich in die jungen Leute einfühlen können.

Wenn sich denn wirklich, wie wir die Anzeichen deuten, eine generelle Werbestrategie des Minidramas abzeichnen sollte, dann wird freilich mit ihr eine weitaus grundsätzlichere Erfahrung dramatisiert: die anhaltende Konsumverweigerung der deutschen Bevölkerung. Da aber in der Konkurrenzgesellschaft jeder Produzent sein eigenes Drama erlebt, das Drama seiner Firma, seines Produktes, seiner Absatzkrise, muss auch ein jeder für sich "seinen" potentiellen Konsumenten klar machen, es sei in Wahrheit deren Drama, ja, es sei deren geradezu existenzielles Risiko, wenn sie ausgerechnet auf dieses Produkt verzichten. Eine komplette, geschlossene Dramenstruktur im Miniformat - am besten als verhinderte Tragödie - ist dafür offenbar eine besonders effektive Lösung. So wird das große Drama des Konsumverzichtes gleichsam zerlegt in tausend Kleinst-Dramen, die es erst in ihrer Summe signalisieren.

Doch Konsumzurückhaltung ist primär ein Problem des Portmonees, nicht der Psychologie: Dem mündigen Zuschauer enthüllt sich hinter der manipulativen Gebärde des Überredens, die aller Produktwerbung eigen ist, das wahre Drama der sukzessiven Enteignung der abhängig Beschäftigten, der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben.

Eine nur auf den ersten Blick kühne Analogie zum Verhalten der so genannten politischen Klasse in Deutschland in diesem Herbst und Winter bietet sich an. Aus ihrer Sicht muss verhindert werden, dass sich die Krise der sozialen Sicherungssysteme am Ende noch zu einer solchen der bestehenden Gesellschaft, vor allem des politischen Herrschaftssystems entwickelt. In einem Rollenspiel mit, genau genommen, schmaler Bandbreite betreiben die am politischen Geschäft beteiligten Parteien jene manipulative Dramatisierung, die den Millionen Arbeitern, Angestellten, Beamten verdeutlichen soll: damit eure eigenen Sicherungssysteme nicht schließlich platzen, müsst ihr den Gürtel drei Löcher enger schnallen. Die öffentliche Zerlegung dieses großen in zahlreiche mittelgroße und kleine Dramen, von der Rente bis zur Gesundheit, von der Kilometerpauschale bis zum Preis der Theaterkarte, ergibt sich hier aus der Komplexität der Materie, sie wird verstärkt durch die Kurzatmigkeit des Agierens unter dem Druck (fast) immer anstehender Wahlen. Allerdings ist die dabei zu lösende Aufgabe womöglich noch schwieriger als das Anheizen des Konsums in der kommerziellen Produktwerbung: das "Produkt" Sozialabbau als soziale Wohlfahrtsstrategie zu verkaufen, noch dazu als eine gerechte.

Naturgemäß fällt das der SPD am schwersten. Als Partei ist sie in einer existenziellen Sinnkrise. Und ihre Umfragewerte sinken ins Bodenlose. Wenn es ihr unter widrigsten Umständen gelingen sollte, den nächsten Winter als Regierungspartei zu überleben, wird sie zugleich ihre Identität verändert haben, und beides wird sie in erster Linie dem Kanzler zu verdanken haben. Er ist nicht nur, wie oft und zu Recht gesagt, ein Medientalent, er ist vor allem auch ein großer Dramatisierer. Schröders Art, das bewährte Verfahren der Personalisierung zu handhaben, ist hochdramatisch. Auf Partei- wie auf Staatsebene jagt eine Rücktrittsdrohung die nächste, die offizielle Vertrauensfrage im Parlament scheint sich als möglicher Höhepunkt der Handlung abzuzeichnen - der zeitliche Horizont des Jahresendes wurde schon vorgegeben. Die hohe Risikobereitschaft beeindruckt, sie zeigt ihre heroisierende Wirkung.

Gerhard Schröder selbst gibt den Helden der Minidramen, die er - eines nach dem anderen! - inszeniert und vorspielt, immer als Bestandteile eines größeren. Er ist der Held, und als solcher ist er zugleich, kaum anders als im Spot von Jacobs Krönung, das hervorragend platzierte, weil zu verkaufende Produkt. Und, selbstverständlich, eine Kamera ist immer dabei.

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