Wer sich die Zukunft der deutschen Energiewirtschaft angucken möchte, der muss in diesen Tagen nach Bitterfeld. Hier, in Sachsen-Anhalt, entsteht auf einem Feld im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen das erste „Wasserstoff-Dorf“ Deutschlands. Viel zu sehen gibt es nicht: Ein paar Kunststoffröhren, ein kleiner Ausstellungspavillon aus Glas, ein bisschen vertrocknetes Gras und ein paar Löcher, in denen offene gelbe Kabelstränge liegen.
Es ist Mitte November, Tag der offenen Tür beim „Hypos-H₂-Netz“, einem Projekt der Mitteldeutschen Netzgesellschaft Gas und dem Wasserstoff-Netzwerk Hypos, einem Zusammenschluss aus Industrie und Wissenschaft. Martin Glas, der Koordinator des Projekts, empfängt im Dorfpavillon. Für Glas, in Hemd und schweren Arbeitsschuhen, ist es bereits die zweite Tour des Tages. Am Morgen waren Vertreter von Stadtwerken da, um sich anzuschauen, wie Wasserstoff, ein farb- und geruchloses Gas, irgendwann in jeden deutschen Haushalt fließen könnte. Denn das wird hier simuliert, im kleinen Rahmen: Durch die Rohre auf dem Gelände strömt das zum „Supermolekül“ ausgerufene H₂. Regelmäßig prüfen die Projektmitarbeiter den Druck in den Leitungen und die Auswirkungen des Gases auf verschiedene Rohrmaterialien. Finanziert wird das Ganze mit Geldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, es soll mögliche Anwendungen von Wasserstoff für Privathaushalte erforschen, als Energieträger für Mobilität, Heizung und Stromerzeugung.
Jetzt soll alles schnell gehen
Das Wasserstoff-Dorf ist nur eins von vielen Projekten, um Deutschland in Sachen H₂ voranzubringen. Denn Deutschland, so schreibt das Bundesministerium für Wirtschaft, soll „bei Wasserstofftechnologien Nummer 1 in der Welt werden“ – darum gibt es die „nationale Wasserstoffstrategie“ der Bundesregierung. Neben politischen Rahmenbedingungen werden vor allem Marktanreize für den Ausbau und die Entwicklung von Technologie geschaffen. Eigentlich wollte die Bundesregierung ihre Strategie schon Ende 2019 offiziell vorstellen, dann wurde der Kabinettsbeschluss dazu auf Anfang 2020 verschoben. Derzeit befindet sich der Entwurf des Wirtschaftsministeriums in der Ressortabstimmung.
Die Idee von Wasserstoff als Energieträger ist nicht neu. Der französische Autor Jules Verne schrieb schon vor über 150 Jahren: „Das Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.“
Wasserstoff wurde zum Antrieb von Zeppelinen eingesetzt, genau wie in den Apollo-Raketen, die den Mensch zum Mond chauffierten. In den 1970ern galt Wasserstoff einige Zeit als mögliche Rettung aus der Ölkrise. Und Anfang der 1990er präsentierte der Autohersteller Mercedes das erste Brennstoffzellenauto der Welt, angetrieben durch Wasserstoff. Das Problem: Niemand wollte es kaufen. Das Modell steht heute im Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart. Auch damals schien die Zukunft greifbar – und verpuffte.
Einen ersten Einblick in die Pläne der Bundesregierung gab es Anfang November. Da luden die Ministerien für Forschung, Wirtschaft, Verkehr und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu einer Konferenz zum Thema „Wasserstoff und Energiewende“ ein. Ort der Veranstaltung: ein alter Speicher im Berliner Westhafen. Rund 700 Interessierte sind da, viele Anzüge, Vertreter der deutschen Industrie, der Autokonzerne, Stahlbauer, Wissenschaftler und Mitarbeiter der Bundesregierung. Dichtes Gedränge in den hohen Räumen. Vorne auf der kleinen Bühne sitzen gutgelaunt die Gastgeber und malen eine Zukunft, in der Deutschland zum globalen Exporteur einer neuen Technologie wird. In der Klimaziele und Rohstoffgewinnung Hand in Hand gehen.
Diesmal soll es mit dem Wasserstoff klappen. Und das so schnell wie möglich. „Wir reden über Monate, nicht über Jahre“, sagt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), und: „Gasförmige Energieträger, vor allem Wasserstoff, werden ein Schlüsselrohstoff einer langfristig erfolgreichen Energiewende sein.“ Wasserstoff für Mobilität, Verkehr und Industrie. Geht es nach den Plänen der Bundesregierung, fließt der Wasserstoff bald überall. „Ich sehe hier riesige Exportchancen. Wir können Technologieführer werden“, sagt Michael Meister, parlamentarischer Staatssekretär für Bildung und Forschung, der an diesem Morgen Bildungsministerin Anja Karliczek vertritt. Großer Applaus bei den Gästen.
Doch wird die Zukunft so, wie die Minister an diesem Tag prophezeien, wirklich eintreten? Kann der Wasserstoff zum neuen Träger der deutschen Energieversorgung werden, als Ersatz für fossile Brennstoffe? Als Energieträger, der es ermöglicht, dass Wirtschaftssystem und Wertschöpfung trotz Klimaschutz einfach so weiter laufen wie bisher?
Spricht man mit Energieexperten und Wissenschaftlern über die Wasserstoffstrategie und die damit verbundenen Versprechen der Bundesregierung, bekommen beide ziemlich schnell ein paar Risse. Oft fallen die gleichen Sätze: Bisher mangele es an Rahmenbedingungen. Man sei noch in der Grundlagenforschung und bisher nicht über Pilotprojekte hinausgekommen und im globalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig. Kurz: Bis Deutschland es zur Wasserstoffnation bringt, bleibt noch viel zu tun.
So sieht es auch Wolf-Peter Schill, stellvertretender Leiter der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wasserstoff als Energieträger sei auf jeden Fall sinnvoll, sagt Schill. Vor allem um die Dekarbonisierung der Industrie voran zu bringen. Nur brauche man dafür grünen, also CO₂-neutralen Wasserstoff, und der sei aufwendig und teuer in der Herstellung.
Grüner Wasserstoff wird durch Elektrolyse hergestellt: Wasser wird durch Strom aufgespalten in Sauerstoff und Wasserstoff. Kommt der Strom dafür aus Wind- und Solaranlagen, wird bei dem Prozess kein CO₂ produziert, der Wasserstoff ist also „grün“. Im Gegensatz zum „grauen“ Wasserstoff, der nicht klimaneutral ist und vor allem aus Erdgas gewonnen wird.
Das Problem bei der Herstellung von CO₂-neutralem Wasserstoff: Grüner Strom, der als Grundlage für grünen Wasserstoff dient, ist knapp. Deutschlandweit beläuft sich der jährliche Energieverbrauch auf 2.500 Terrawattstunden (TWh). Wind und Sonne produzieren aber nur rund 180 TWH pro Jahr. Dazu kommt: Bei der Umwandlung von elektrischer Energie in chemische Energieträger geht Energie verloren, bis zu 40 Prozent. Soll Deutschland zur Wasserstoffnation werden, müssten die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden, sagt Schill. Wie schwierig die breite Versorgung Deutschlands mit Wasserstoff wäre, zeigt auch eine aktuelle Studie des Bundeswirtschaftsministeriums. Bisher spielt Wasserstoff bei der Energieversorgung kaum eine Rolle: Bundesweit gibt es rund 40 Anlagen, die grünen Wasserstoff produzieren, meist für die lokale Versorgung. Eine verschwindend kleine Menge.
Und ein Engpass, den die Bundesregierung vor allem mit Importen aus dem Ausland ausgleichen will. In dem Konferenz-Handout ist dazu zu lesen: „Deutschland muss (…) neben der inländischen Wasserstoffindustrie parallel auch Importstrukturen für CO₂-freien Wasserstoff entwickeln und aufbauen – je früher, desto besser.“ Entwicklungsminister Gerd Müller spricht an diesem Morgen über Importe aus Nordafrika und Australien, wo mithilfe von Solarenergie Wasserstoff erzeugt und dann nach Deutschland exportiert werden könnte.
„Alleine auf den Import von Wasserstoff aus anderen Ländern zu setzen, halte ich für falsch“, sagt Constantin Zerger, Bereichsleiter für Energie und Klimaschutz der Deutschen Umwelthilfe. Der Import sei teuer und Deutschland nicht das einzige Land, das auf Wasserstoff setze. Auch China, Frankreich, die Schweiz und Japan sind dabei, sich am Wasserstoffmarkt zu positionieren. Frankreich hat 2018 eine Strategie vorgelegt, die das Land zum Marktführer machen soll, rund 100 Millionen Euro will die Regierung dafür investieren. Japan arbeitet seit 2016 an einer Strategie für CO₂-freien Wasserstoff und plant den ersten Meilenstein: Die Versorgung der Olympischen Spiele 2020 mit Wasserstoff.
Dass Teile der Bundesregierung jetzt auf den Wasserstoff aufspringen und zur Eile antreiben, hält Zerger für „politischen Aktivismus“. Erst sei die Energiewende verschlafen worden, jetzt biete der Wasserstoff eine vermeintlich kurzfristige Alternative, sagt er. Zergers Befürchtung: Durch den Import von Wasserstoff aus dem Ausland könnte sich der Ausbau der erneuerbaren Energien verzögern. Für die deutsche Klimabilanz und die Klimaziele 2050 wäre das verheerend.
In einer Studie der Umwelthilfe heißt es dazu: „Der Einstieg in die Nutzung von erneuerbarem Gas kann nur gelingen, wenn ausreichend Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung steht. Der Ausbau von Erneuerbare-Energien-Anlagen muss deshalb dringend beschleunigt … werden. Insbesondere der Ausbau von Windenergieanlagen an Land und Offshore ... muss schneller vorangehen.“
Bis jetzt 372 PKWs
Wasserstoff müsse vor allem effizient eingesetzt werden, sagt Zerger. Dort, wo es keine Alternativen gäbe: in der Industrie, im Schiff- und Flugzeugverkehr sowie im Gütertransport. Im Verkehr, Gebäudebereich und im Schienenverkehr solle besser weiterhin auf elektrische Anwendungen hingearbeitet werden.
In Bitterfeld, in dem kleinen Glaspavillon des Wasserstoff-Versuchslabors, denkt man ähnlich. Nach dem Rundgang sitzt die kleine Besuchergruppe beisammen, darunter der Vertreter einer Kunststoff-Firma und ein Ehepaar, das in die Wasserstoffindustrie zu investieren plant. Es müssten vor allem die Rahmenbedingungen stimmen, sagen sie. Momentan dürfen bis zu 10 Prozent Wasserstoff zu Erdgas beigemischt werden, mehr ist in den Leitungen nicht erlaubt. Eine Frage der Sicherheit. Zukünftig müssten dieses Grenzwerte angehoben werden, findet Martin Glas. Sein eigenes Projekt läuft bis Ende 2020. Fragt man Glas, wann es losgehe mit Deutschland als Wasserstoffnation Nummer eins, kommt eine vorsichtige Schätzung. Vermutlich sei Wasserstoff in zehn bis zwanzig Jahren ein relevanter Teil der deutschen Energieversorgung, sagt Glas. Unter anderen.
Bei der Konferenz in Berlin verspricht Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) den Ausbau von Wasserstofftankstellen, 1.000 Stück bis 2030 sollen entstehen, für geplante 1,8 Millionen Gas- und Brennstoffzellenautos. Bisher sind es 372.
Euphorie und Ernüchterung
Die Bundesregierung hat eine Wasserstoffvision. Die gab es in der Geschichte schon öfters
1783: Ballon-Manie Nachdem die Brüder Montgolfier den Heißluftballon erfinden, gelingt es dem Physiker Jacques Charles, mit Wasserstoff gefüllte Ballons über Paris steigen zu lassen
1840: Die Gas-Batterie Der englische Richter und Naturwissenschaftler Richard Grove erfindet die erste Brennstoffzelle, die aus Wasserstoff und Sauerstoff Strom produziert
1895: Go green or go home Der Däne Paul la Cour beginnt, mithilfe von Strom, den er mit einer Windmühle erzeugt, Wasserstoff zur Beleuchtung und als Brennstoff herzustellen
1900: Transatlantik-Express Ferdinand Graf von Zeppelin präsentiert sein mit Wasser stoff gefülltes Luftschiff LZ1. Es folgt die Ära der Luftschiff fahrt, einschließlich Flüge über den Atlantik. Sie endet jäh, nachdem die „Hindenburg“ 1937 in Lakehurst, New Jersey, verbrennt
1928: Wasserfahrzeug Der Österreicher Richard Erren erhält ein Patent auf einen Wasserstoffmotor; Erren geht nach London und rüstet mehrere tausend Fahrzeuge, vor allem Lkw, auf Wasserstoff um
1950er: Weltraumbatterie In den späten 1950ern beginnt ein kurzlebiger Boom der Brennstoffzellenindustrie in den USA. Auslöser ist die NASA, die Batterien für Raketen und Mondstationen benötigt
1969: Ein großer Schritt für H2 Die Saturn-V-Rakete der Apollo-11-Mission fliegt zum Mond. Ihre zweite und dritte Raketenstufe besteht aus Flüssig-Sauerstoff und Flüssig-Wasserstoff
1970er: Hydrogen Economy Nach der Ölkrise, dem Bericht des Club of Rome und der Prognose von Peak Oil folgen neue Wasserstoffutopien, sogar eine „Wasserstoffbewegung“. Aus Nuklearenergie soll Wasserstoff hergestellt werden, der als Brennstoff für Fahrzeuge und zum Heizen dient
1995: Abgas: Wasserdampf Seit etwa 1995 richtet sich der Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten auf die Entwicklung eines Brennstoffzellenautos. Hauptproblem: Der hohe Preis. Und die fehlenden Tankstellen
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