Streit im Glashaus

Debatte Mit der Installation „Wanna Play? – Liebe in Zeiten von Grindr“ hat der Künstler Dries Verhoeven die Gay Community so verärgert, dass sein Projekt abgebrochen wurde
Probenbild der Aktion
Probenbild der Aktion

Foto: Sascha Weidner

Am Sonntag war Schluss für die Kunst. Der Glaskasten in Berlin-Kreuzberg stand verwaist auf der Mitte des Heinrichplatzes. Der niederländische Künstler Dries Verhoeven hatte seine Performance „Wanna Play? – Liebe in Zeiten von Grindr“ abbrechen müssen – nach nur fünf Tagen.

Das World Wide Web ist laut Dries Verhoeven eine anonymisierte Spielwiese für den homosexuellen Mann – und unsichtbar für den Rest der Gesellschaft. Was bedeutet das für die Sichtbarkeit von Schwulen im Alltag? Und was passiert mit der Liebe, den zwischenmenschlichen Gefühlen in dieser Welt? Gemeinsam mit dem Berliner Theater Hebbel am Ufer entwickelte Verhoeven, selbst homosexuell, eine Performance, die sich mit der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Liebe in Zeiten von Smartphone-Apps für Sexdates beschäftigt. Verhoevens Plan: 15 Tage leben, daten und lieben in einem gläsernen Glaskasten. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt sollten die Dating Apps sein. Unter anderem auch die App Grindr, welche vor allem in der schwulen Szene für Verabredungen zum Sex genutzt wird.

Mit Hilfe von Geo-Daten vermittelt die App potentielle Liebhaber aus dem direkten Umkreis - schnell, praktisch, umkompliziert. Diese Eigenschaften wollte sich Verhoeven zunutze machen. Sein Plan: Männerbesuch im Glaskasten, aber ohne Sex, sondern zum Schachspielen oder reden. Sichtbar für den Zuschauer vor Glas wurde die gemeinsame Zeit von Künstler und Gast und die Grindr-Konversation, die dem Treffen vorausging – projiziert auf eine LED-Leinwand, live und in Farbe. Letzteres wurde für Verhoevens Projekt zum Verhängnis.

Der erste Tag des Experimentes, der 1. Oktober, verlief ruhig. Doch schon am zweiten Tag kam es zu einem Zwischenfall. Über Grindr hatte der Künstler den in Berlin lebenden Amerikaner Parker T. in den Glaskasten geladen. Was der Gast nicht wusste: Dass er mit seiner Verabredung Teil einer Kunstperformance werden würde. Das sein vermeintlich intimer Grindr-Flirt, für alle Welt sichtbar, auf einem öffentlichen Platz zu verfolgen sein wird. Von den Tatsachen überrumpelt stürmte der Parker T. den Glaskasten und machte seiner Überraschung mit einem gezielten Faustschlag Luft. Im Anschluss kündigte er an, Strafanzeige gegen den Künstler und die Organisatoren zu stellen. Via Facebook rief er dazu auf, das Projekt zu beenden. Mit der Begründung, er sei nichtsahnend in eine Situation gezwungen worden, die für ihn emotional, ethisch und moralisch nicht tragbar gewesen sei. Sicherheitsleute schützten am folgenden Tag den Künstler vor seinen Zuschauern.

Was der Aktion folgte war ein Aufschrei der Gay-Community, der sich schnell über soziale Netzwerke verbreitete und vervielfachte. Der Vorwurf der Kritiker an Künstler und Theater: Zwangsouting und Datenmissbrauch. Zwar entschuldigte sich Dries Verhoeven auf einer eigens veranstalteten Diskussionsveranstaltung für den Vorfall und sicherte zu, dass die Gesprächsverläufe und die Profile seiner Gesprächspartner in Zukunft unkenntlich gemacht werden würden, aber er kam zu spät. Die Welle der Empörung war bereits zu groß, das Projekt musste beendet werden. Grindr selbst veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die App von dem Projekt distanzierte. Das Projekt sei ein Eingriff in die Privatsphäre und stelle eine potentielles Sicherheitsrisiko dar, hieß es dort.

Was bleibt ist ein leerer Glaskasten und die Frage, was Kunst ans Licht bringen kann, darf und sollte. Sicher ist, dass Dries Verhoeven in der Umsetzung seiner Aktion Fehler begangen hat. Zu wenig bedachten Künstler und Organisatoren die Privatsphäre der Performance-Teilnehmer. Zu wenig durchdacht erscheinen mögliche Folgen. Auch die Frage, nach der Auswahl der „Gäste“ drängt sich auf: Warum mussten ausgerechnet Homosexuelle, eine Gesellschaftsgruppe die ohnehin mit Diskriminierung zu kämpfen hat, als Versuchsgruppe für Verhoevens Expositions-Experiment herhalten?

Andere Fragen, die Dries Verhoeven mit seinem Projekt stellt, sind dennoch nicht verkehrt: Wie viel Privatsphäre ist in Zeiten von NSA und Co noch möglich? Wie sicher können wir uns im Umgang mit Sozialen Netzwerken sein und wie beeinflussen sie uns im Umgang mit unserer Umwelt? Auch wenn sein Experiment vorzeitig beendet werden musste – die Antworten auf diese Fragen hat Dries Verhoeven bereits gefunden. „Wanna Play“ hat gezeigt, dass der digitale Frieden brüchig ist. Vermeintlich intime Informationen können mit Leichtigkeit ihren Weg in die Öffentlichkeit finden und der Schutz durch die Anonymität im Netz ist ein Trugschluss. Mutete es nicht so absurd an, dass diese Gefahr durch die Bloßstellung der Betroffenen thematisiert wird – man könnte Verhoeven fast dankbar sein.

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