Langsamkeit wider die Konvention

Ungemütlich Zum zweiten Mal fand in Berlin die Türkische Filmwoche statt

Kunst oder Geschäft - der krasse Widerspruch zwischen dem Eröffnungsfilm des seit zwei Jahren stattfindenden Berliner Festivals zum türkischen Film Die Schule - übrigens der einzige kommerzielle Film - und dem darauffolgenden Film Die Kleinstadt, veranschaulichte diesen Kampf im heutigen türkischen Kino am deutlichsten. Während in dem ersten Film selbstverliebt Gymnasiasten einer Eliteschule von dem Geist eines toten Mitschülers heimgesucht werden und versuchen, dem Spuk bei wummernden Beats zu entkommen, sieht man in Die Kleinstadt minutenlang eine Feder in der Luft schwirren. Tonlos und unaufdringlich geschieht das und ganz langsam. In dem Schwarzweißfilm sitzen in einem ärmlich anmutenden Klassenraum kleine Kinder und halten die Feder durch Pusten in der Luft. Es ist überhaupt alles sehr langsam in diesem poetischen Film des 45jährigen Autorenfilmers Nuri Bilge Ceylan, dessen letztes Werk Fern national und international 18 Preise gewonnen hat.

Die beachtliche Authentizität in Die Kleinstadt erreicht Nuri Ceylan dadurch, dass er als Darsteller seine Familienmitglieder agieren lässt. Man merkt seinen ruhigen Bildern an, dass Ceylan 20 Jahre als Fotograf gearbeitet hat. Während der mit 15.000 Dollar gedrehte Film beim Publikum in der Türkei wenig Resonanz fand, wurde er auf den Filmfestivals in Berlin, Köln, Tokio, Nantes sowie in Istanbul mit Preisen belohnt.

Ceylans Fern, der im vorigen Jahr in Cannes den großen Jury- sowie den Hauptdarstellerpreis gewann und auch in Libanon, Philippinen, Mexiko, Indien, den USA, Frankreich, Italien und Estland ausgezeichnet wurde, läuft als Abschlussfilm der Türkischen Filmwoche. Ebenfalls fern von jedweder Hektik erzählt der Film von einem jungen Mann, der aus der Provinz auf der Suche nach Arbeit nach Istanbul kommt. Von den unzähligen, melodramatisch überzuckerten türkischen Filmen, die den Konflikt der Mittellosen aus Anatolien thematisieren, die in der Großstadt in Einsamkeit und Ausweglosigkeit hinabgleiten und ihre Ideale aufgeben müssen, unterscheidet sich dieser Film besonders dadurch, dass es darin keine Helden und Antihelden gibt. In Ceylans Augen ist weder der Emigrant naiv und unschuldig noch ist der Großstadtmensch ein berechnendes Wesen. Der Regisseur selbst wird in der internationalen Filmwelt gerne mit seinen Zeitgenossen Abbas Kiarostami und Tsai Ming-liang verglichen.

Trotz oder gerade wegen knapper finanzieller Mittel hat Neun von Ümit Ünal zu genialer Form gefunden. Er ist vielleicht der beste Film des Festivals in diesem Jahr. In einer beschaulichen Istanbuler Nachbarschaft wird eine obdachlose junge Frau tot aufgefunden. Daraufhin werden fünf Männer und eine Frau, allesamt Nachbarn, im Polizeirevier verhört. Die Fragen hört man nicht, die Polizisten sind unsichtbar. In mit einer Digitalkamera gedrehten Szenen werden abwechselnd die aussagenden sechs Personen teilweise von drei verschiedenen Winkeln jeweils auf drei Monitoren gezeigt. Sie petzen, beschuldigen sich gegenseitig, verwickeln sich in Widersprüche, ihre verkorkste Vergangenheit wird beleuchtet, Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher Faschismus kommen schonungslos zutage. Die Enthüllungen machen den gemütlichen Kiez allmählich zu einem schauderhaften Ort.

Von der Ausbildung eigentlich Werbefilmer und Drehbuchautor, realisierte Ünal mit Neun seinen ersten Spielfilm, der sofort nach den Dreharbeiten als türkischer Beitrag für den Oscar nominiert wurde. Schließlich fand sich jemand bereit, die Herstellung einer 35-mm-Kopie zu finanzieren. Somit ist Ünal der erste Filmemacher in der Türkei, von dem ein komplett mit DV-Kamera gedrehter Film in ein 35-mm-Format übersetzt wurde. Auf die Frage hin, ob er mit Neun keine Schwierigkeiten mit den Zensurbehörden hatte, antwortet Ünal, dass er nur für die Aufnahme ins Istanbuler Filmfestival die Zulassung einer höheren Instanz benötigte. Trotz des erheblichen Medieninteresses wurde aus Neun in der Türkei ebenfalls kein Kassenschlager.

Dank des hohen Zuspruchs im vorigen Jahr verlängerte die private Organisation "Tiyatro Aktuel Berlin" das Festival von fünf auf zehn Tage. Die präsentierten neuen türkischen Filme haben eins gemeinsam: Sie enthalten keinen Klamauk und protzen nicht mit Glamour. Sie zeigen sehr talentierte Schauspieler oder Stars, die eher mit Bescheidenheit glänzen. Zum Beispiel wurde der Film Verschwiegene Kinder aufgeführt, der auf einem gemeinsam mit Straßenkindern entwickelten Drehbuch basiert. Dann gab es Das Geheimnis, ein Film, der sich mit der Wirkung der männlichen Gewalt auf die weibliche Psyche auseinandersetzt oder Die Begegnung von dem renommierten Regisseur Ömer Kavur, der in der Türkei 2003 mit 21 Preisen ausgezeichnet wurde.

Bedauerlicherweise schwankt die Zuschauerzahl solcher Autorenfilme in der Türkei zwischen 10.000 und 35.000. Die Experten führen das rapide sinkende Interesse auf erhöhte Eintrittspreise, Mangel an guten Drehbüchern, die wirtschaftliche Krise, das umfangreiche Angebot an Fernsehserien und nicht zuletzt auf das verkümmernde kulturelle Niveau zurück.


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