Der 4. Dezember 1974 war ein milder, strahlender Wintertag. Pünktlich gegen halb zehn Uhr morgens setzte auf der Landebahn des Stuttgarter Flughafens eine aus Paris kommende Caravelle der Air France auf. Als die Maschine ihre Parkposition erreicht hatte, spielten sich tumultartige Szenen ab. An der Gangway drängelten Journalisten und Fotografen, die darauf warteten, dass ein prominenter Passagier auftauchte. Jean-Paul Sartre, Philosoph von Weltrang und gesellschaftskritischer Vordenker, hatte sich auf den Weg in die baden-württembergische Landeshauptstadt gemacht, um Andreas Baader zu besuchen, den in der JVA Stuttgart-Stammheim einsitzenden Mitbegründer der Roten Armee Fraktion (RAF).
Eingefädelt hatte das Ganze Anwalt Klaus Croissant (1931 – 2002), der Anfang der siebziger Jahre die Verteidigung von RAF-Gefangenen übernommen hatte. Croissant war in der schwäbischen Provinz aufgewachsen, was ihm später in Anspielung auf einen Berliner Anwaltskollegen den boshaft gemeinten Ehrentitel des „Mahlerle aus Kirchheim“ eintrug. Anfang der Sechziger war er zunächst auf Scheidungssachen abonniert und Teil eines arrivierten Stuttgarter Milieus, wo man den Bonvivant nicht zuletzt wegen eines barocken Lebensstils schätzte. Nach 1970 erfolgte die Politisierung des Klaus Croissant, seine Kanzlei in der Stuttgarter Innenstadt war Anlaufpunkt für linke Anwälte und freiwillige Unterstützer aus dem Sympathisantenumfeld der RAF. Croissant besaß ein klares strategisches Bewusstsein, was die mediale Inszenierung der Anliegen seiner Mandanten betraf.
Im Herbst 1974 – die RAF-Häftlinge waren seit Wochen im Hungerstreik – war er fieberhaft auf der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit, die dabei helfen könnte, der Aktion mehr öffentliche Resonanz zu verschaffen. Nachdem bereits die Namen Jean-Luc Godard und Alberto Moravia gefallen waren, gelang Croissant der entscheidende Coup: Durch die Vermittlung von zwei Redakteuren der Pariser Zeitung Libération kamen der Kontakt mit Jean-Paul Sartre und ein Treffen in dessen Pariser Wohnung am 3. November 1974 zustande. Sartre habe ihn – wie Croissant in einer Gesprächsnotiz vermerkte – „in Ruhe angehört“, „schnell begriffen“ und dann den Besuchsantrag diktiert. Überzeugt vom Erfolg des Unternehmens notierte Croissant: „Er wird – und umgekehrt – mit Andreas das richtige Gespräch führen.“
Vier Wochen danach war Sartre in Stuttgart. Zum Empfangskomitee gehörte neben Croissant auch Daniel Cohn-Bendit, damals prominenter Agitator der französischen Studenten. Am Flughafen stieg Sartre in ein Auto, das von einem Mitarbeiter der Kanzlei Croissants gesteuert wurde. Bei dem jungen Mann mit halblangem Haar und in ausgewaschener Jeansjacke handelte es sich um Hans-Joachim Klein, der zu diesem Zeitpunkt noch zum Sympathisantenumfeld zählte, Monate später aber am Attentat auf die OPEC-Konferenz in Wien beteiligt sein sollte. Ob Sartre irgendeine Vorstellung von dem Ort hatte, an den er gebracht wurde? Welchen Klang wohl das Wort „Stammheim“ in seinen Ohren hatte?
Die etwa eine Stunde dauernde Begegnung muss zäh gewesen sein. Baader sprach kein Französisch, Sartre kein Deutsch – ein großer Teil der Gesprächszeit ging mit der Übersetzung des jeweils Gesagten durch den amtlich bestellten Dolmetscher verloren. Wenige Tage nach dem Treffen verfasste Baader ein Schriftstück, das als sogenanntes „info“ bei den Mitgefangenen der RAF zirkulierte. In dem maschinenschriftlichen Text beschimpfte er zunächst den Dolmetscher als „Kretin“, der nicht in der Lage gewesen sei, simultan zu übersetzen und auch die politische Begrifflichkeit nicht beherrscht habe. Dann folgte ein abwertendes Urteil über den Besucher: „was mich betrifft – war das ganze so präzise und gezielt und bewusst wie möglich was ihn angeht hatte ich den eindruck von alter.“
Erst seit kurzem gewährt der Verfassungsschutz Zugang zu einem Dokument, das aus dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg stammt. Nach dem von einem anwesenden LKA-Beamten angefertigten Protokoll soll Sartre mehrfach darauf hingewiesen haben, dass den „Aktionen“ der RAF die Massenbasis fehle und der Terrorismus in der Bundesrepublik keinen Widerhall gefunden habe. Derartige Einwände gegen den „bewaffneten Kampf in den Metropolen“ vermied Sartre auf der folgenden Pressekonferenz. Dort füllte er seine Rolle als Ankläger des repressiven Staates perfekt aus. Dass der Besucher freilich als unsicherer Kantonist galt, zeigt eine Notiz von Croissant, die im Vorfeld des Besuchs entstanden ist: „Soll Sartre was sagen über Gesprächsverlauf? Wenn er sich distanziert, wäre das der Dolchstoß“ – an dieser martialischen Rhetorik wird die Nervosität deutlich, der sich die Organisatoren des Besuchs ausgesetzt sahen.
Danach verlagerte sich das Geschehen in das Stuttgarter Hotel Zeppelin, das die eigentliche Bühne für Sartres Auftritt sein sollte. Die internationale Pressekonferenz im Saal 9 stellte zweifellos den Höhepunkt des gesamten Besuchs dar. Erst jetzt eröffneten sich jene Möglichkeiten, die den Strategen aus dem RAF-Umfeld am Herzen lagen: Von hier aus sollte der berühmte Gast in die ganze Welt hinaus sprechen.
Sartre begab sich zunächst in die Rolle des Augenzeugen, indem er den dramatisch schlechten Gesundheitszustand Baaders schilderte, der zweifelsfrei eine Folge der Haftbedingungen sei. In diesem Zusammenhang wurde auch der Foltervorwurf laut, den Sartre wenig später in einem Artikel für die Libération wiederholte und der für Aufregung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit sorgte.
So schnell Sartre nach Stammheim gekommen war, so schnell war er auch wieder abgereist. Kurz nach 18 Uhr, direkt nach der Pressekonferenz, war der Rückflug nach Paris angesetzt. Die Kürze des Aufenthalts stand in keinem Verhältnis zum medialen Furor, der ihn begleitete. Sartre und Baader waren an jenem Tag in den Nachrichten allgegenwärtig. Allerdings war die Rezeption in der bundesdeutschen Presse aus Sicht der RAF-Medienstrategen ein Fiasko. Die FAZ kritisierte das „linke Pressefest“, das gefeiert worden sei, und in der Welt war abfällig von „Schmierentheater“ die Rede. Wie immer besonders plakativ titelte Bild: „Sartre – sein Herz ist tiefrot, und sein Gott ist das Nichts“. Mehrheitlich taten die anwesenden Journalisten in ihrer Berichterstattung den ganzen Besuch als Propagandatour eines überforderten, schon ein wenig senilen alten Mannes ab, der sich zum „Werkzeug der Anwälte“ habe machen lassen.
Sartres Stammheim-Visite wurde zum Auftakt für die enge Beziehungsgeschichte zwischen der Justizvollzugsanstalt und der öffentlichen Wahrnehmung der RAF: Im Mai 1975 begann hier der Prozess gegen die Führungsebene, im Mai 1976 wurde Ulrike Meinhof tot in ihrer Zelle aufgefunden, im Herbst 1977 folgte die „Todesnacht“ von Stammheim, in der auch Andreas Baader starb. Verglichen mit diesen dramatischen Geschehnissen ist in die JVA an der Peripherie von Stuttgart in politischer Hinsicht mittlerweile Frieden eingezogen. Das einst bekannteste Gefängnis der Bundesrepublik war im Oktober 2011 so marode, dass ministeriell der Plan verkündet wurde, die alten Gebäude abzureißen und einen Neubau zu errichten. Sofort begann eine erinnerungspolitische Debatte: Müssten nicht die Zellen der RAF-Gefangenen im achten Stock des Hochhauses erhalten werden? Sollte es nicht eine Erinnerungsstätte am authentischen Ort geben, die Nachgeborene an der „bleiernen Zeit“ teilhaben lässt? Der Abriss des Hochbaus lässt Ende 2014 noch auf sich warten. Ohnehin wird der Mythos Stammheim gewiss ohne den realen Ereignisort weiterleben, weil er gefüttert wird von Mediennarrativen mit den immer gleichen Bildern, die am 4. Dezember 1974 erstmals in die Öffentlichkeit getragen wurden.
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