Ach Gott, die alte Tante. Wer so von der Sozialdemokratie redet, der hat ja keine blasse und schon gar keine rote Ahnung. Da krieg ich immer einen Zorn. Der weiß ja nicht, was alte Tanten in der Weltgeschichte vermögen. Wie lebenszäh sie sind - einfach nicht umzubringen. Wie unentbehrlich sie sind - ohne die alte Tante SP läuft er doch gar nicht, der Kapitalismus. Und was noch alles aus ihr werden wird, der alten Verräterin!
»Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« Tucholsky hatte leicht reimen, zu Zeiten der roten, aber eben nur rosaroten Revolution nach dem Ersten Weltkrieg. Mensch, das ist urlang her. Heute kannst du mit den Stimmen der echten Linken nicht einmal die Zehe eines echt linken Abgeordneten wählen.
Die Sozialdemokaten sind Verräter
ind Verräter. Ihr historisches Bündnis mit dem Kapitalismus hält diesen und sie am Leben. Aber die größeren Verräter sind die Linken. Was haben sie gemacht aus der Himmelsrichtung Links? Ja, Links weist zum irdischen Himmel, zur Revolution, dieser nötigen Himmelfahrt des Menschen. Statt dieser haben die Linken stets noch in ihrer Geschichte - ganz Wenige ausgenommen; Rosa Luxemburg wurde im Landwehrkanal ersäuft und ersparte sich viel - Kompromisse gesucht und gefunden, mit den sozialdemokratischen Verrätern. Die Linken wurden selber eine Art oder mehrere Arten Sozialdemokraten. Ja, die Linken sind die ärgeren Sozialdemokraten - naturgemäß.»Naturgemäß« muss hier stehen. Es ist das Lieblingswort des großen österreichischen Weisen Thomas Bernhard. »Naturgemäß« steht bei Bernhard immer, wenn etwas nicht der menschlichen Natur gemäß ist, sondern bloß dem Lauf der Welt, wie sie halt so läuft.Das historische Verhängnis der Linken ist die Demokratie. Naturgemäß wissen sie selber am besten, wie das ist mit der Demokratie. Die wahre Demokratie kommt zustande durch die wahre Revolution, aber weil die wahre Revolution nie zustande kam, kam auch die wahre Demokratie nie. Die parlamentarische Demokratie hingegen, die bricht naturgemäß den Linken den Kragen, sämtliche Kragen, die sie je hatte. Denn naturgemäß sind die echten Linken stets eine echte Minderheit.Ein solcher Prozess (Linke bricht sich den Kragen) ist gerade wieder unterwegs. Der Sieger wird Gerhard Schröder sein oder ein Wesen, das vielleicht nicht Gerhard Schröder heißt, aber ein Gerhard Schröder ist - ein noch naturgemäßerer Schröder als der gegenwärtige Schröder ohnehin schon ist.Die alte Tante Sozialdemokratie hat seit anderthalb Jahrhunderten anderthalb Dutzend Leben. Mit dem Ableben der Sozialdemokratie kann nicht gerechnet werden - das ist ein Hauptergebnis linker Analyse. Mit dem Ableben der Linken kann gleichfalls nicht gerechnet werden - das ist ein Hauptargument rechter Analyse. Old lefties never die, they fade away. Sozialdemokratie und Linke gehören historisch zusammen wie Pech und Schwefel. Die Sozialdemokratie braucht die Linken, die nie durchkommen, ihr aber doch ein ungefährliches rötliches Aussehen geben. Die Linken brauchen die Sozialdemokraten, mit wem sollten sie sonst raufen, sei's auch aussichtslos.Siegmund Freud dekretierte: Es gibt keine Masochisten ohne Sadisten beziehungsweise umgekehrt. Schröder ist der Sadist, die Linken sind die Masochisten. Nichts ist unzertrennlicher als ein solches Paar. Masochisten wollen gehauen werden. Schröder haut die Linke. Der kundige Sadist weiß aber: der Masochist empfindet Lust beim Gehautwerden. Dieser Lust bindet die Linke an Schröder. Dieser kundige Sadist weiß aber auch: Noch mehr Lust als beim Gehauenwerden empfindet der Masochist beim Nichtgehauenwerden. Die Linke leidet beim Gehauenwerden, noch mehr aber leidet sie beim Nichtgehauenwerden. Unsagbare Wonnen erleidet die Linke, wenn sie von Schröder nicht gehaut wird. Er haut sie erst ordentlich, aber dann doch wieder nicht. Oh, wie das bindet! Bruno Kreisky hat mir einmal verraten: »Man soll an Fisch net derschlagen. An Fisch soll man sanft ausm Wasser holen und an die Brust nehmen und streicheln, net gar viel aber immer wieder ein bißl.« - Oh, linker Fisch, merkst du nichts?Das unzertrennliche Zusammenspiel von Rechts und Links - starke Rechte und schwache Linke - ist ein urtümlicher Bestandteil der langen Erfolgsgeschichte der Sozialdemokratie. Dr. Victor Adler, der geniale Begründer der österreichischen Sozialdemokratie tief in k.u.k. Zeiten, war 1918, als seine Partei siegte und (zeitweilig) fast an die Macht kam, schon recht alt und müde. In einer wichtigen Sitzung des Parteivorstands sagte er, der Erzrechte, zu seinem linken Gegenspieler, dem (damals) jungen und erzlinken Dr. Otto Bauer: »Otto, ich bin schon so müde, ich möcht' nach Hause, mach' doch du die Resolution der Rechten, weißt eh', mit was Linkem drin, dass sie die Mehrheit kriegt.« Bauer schrieb die Resolution, sie kriegte die Mehrheit.Eine dienstbare Linke, die durch Dienstbarkeit bißl was Linkes durchsetzen will, mit wenig Schläue und viel Intelligenz und rätselhafter Loyalität - gehört seit je zum Long- und Bestseller »Wie wurde fast ganz Europa sozialdemokratisch und doch nicht sozialistisch«.Das ist das aufgelöste Rätsel der Linken: Sie rumort im Gedärme der Sozialdemokratie, weil's draußen in der Welt für die Linke nichts zu rumoren gibt. Als selbständig agierende historische Person tritt die Linke nur ausnahmsweise in Erscheinung, und nie auf lange Zeit und nie mit dem linken Erfolg: Jetzt kommt der Sozialismus. Die revolutionären Massen sind rar in der Weltgeschichte, und auch wenn sie wunderbarerweise erscheinen, zeigt sich rasch: wie wenig zahlreich »die Massen« sind und wie bald sie sich verlaufen. Die Mehrheit bleibt daheim und schaut zu. Die Revolution kam nie, statt dessen die Sozialdemokratie. So läßt sich die Geschichte der Linken schreiben als Geschichte des Herumkrebsens im Inneren der Sozialdemokratie. Manche spüren den Frust schon früh, die meisten krebsten weiter mit bewundernswerter Ausdauer. Oskar Lafontaine ging etwas plötzlich. So wurde er ein Held der Linken. Ein Held, der das Schlachtfeld verläßt, ist ein intelligenter Held.Hat die Linke nur, was die coolen Angelsachsen »nuisance value« nennen, einen Lästigkeits-Wert, mehr nicht, von jetzt in alle Ewigkeit? Verdammt, wie lange dauert denn die kapitalistische Ewigkeit, und wie lange die mit ihr exakt gleichlange sozialdemokratische Ewigkeit? Es gibt vermutlich nichts, was Gerhard Schröder weniger interessieren könnte als diese Frage. Er faßt die Weltgeschichte nicht an ihrer Stirnlocke, sondern greift ihr aufs Hinterteil. Er macht ein Programm. Sie fühlt sich belästigt, aber nicht sehr. Mein Gott, was kommt denn schon nach rot? Rosarot. Und was kommt nach Rosarot? Schröder.Schröders Programm soll soviel Modernität enthalten wie möglich, also viel, und soviel Gerechtigkeit wie nötig, also wenig. Gerechtigkeit ist ein sozialdemokratischer Restposten. Wenn der Wähler das unbestimmte Gefühl hat: Ein bißchen mehr auf Gerechtigkeit schauen die Sozialdemokraten ja doch als die Anderen, so reicht das. Der Wähler heißt Wähler weil er keine Wahl hat. Was aber heißt Modernität? Modernität heißt gar nichts, nur das: der Kapitalismus tritt in eine neue Phase, in der er stärker ist als je zuvor und der Sozialismus schwächer bis nicht existent. Wieso sind die Leute gar nicht böse drüber? Laßt uns also auch nicht böse sein! Ja, wir sind für diese Modernität. Plus ein bißchen Gerechtigkeit. Die kann nämlich wahlentscheidend sein. Der »nuisance value« der Linken liegt nicht darin, dass sie eine linke Politik durchsetzt, sondern dass sie in die wahlgeile SPD jenes bißchen mehr Gerechtigkeit hineindrückt, das wahlentscheidend sein kann. Ein gräßlich bescheidenes Ziel: die Linke hilft der Rechten zum unverdienten Erfolg.Ach, Genossinnen und Genossen, laßt uns doch Schöneres träumen! Als nach gescheiterter Revolution der Sozialismus am Boden lag (1848), verzog sich Karl Marx in die riesige Bibliothek des Brititschen Museums in London und träumte dort mehrere Bände des »Kapitals«. Aufmunternd schrieb ihm Friedrich Engels: »Was soll uns eine Partei, d.h. eine Bande von Eseln?«Es hilft nun einmal nichts: Eine welthistorische Niederlage hat welthistorische Folgen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion erweckte bei unbedarften Sozialdemokraten die läppische Hoffnung: Hurra, der Kommunismus ist weg, jetzt wird die Sozialdemokratie zum Sieg gelangen. Einen Schmarrn. Die Sowjetunion, häßlich und tyrannisch wie sie war, war zugleich ein nützliches Gegengift zum westlichen Kapitalismus. Ein aufgeklärter Unternehmer musste sich einbremsen: Zu wild darf ich's nicht treiben, sonst werden mir die Leute Kommunisten. Machen wir Sozialstaat, dann kriegen wir statt Kommunisten Sozialdemokraten. Das ist doch besser. Genau das muss sich der Unternehmer jetzt nicht sagen. Die Sowjetunion ist weg, der Kommunismus ist tot, die Sozialdemokraten sind jetzt viel weniger wichtig. Einst waren sie unentbehrlich als Alliierte im Kampf gegen den Kommunismus. Aber jetzt? Hinterdrein zeigt sich: die Sowjetunion und die Sozialdemokraten, stets spinnefeind und einander verfolgend - waren doch welthistorische Verbündete. Dem ängstlichen Kapitalismus konnte die Sozialdemokratie mehr Errungenschaften herausreißen als dem triumphierenden. Die Weltgeschichte macht einen kolossalen Witz: Zu Zeiten des Antikommunismus war der westliche Kapitalismus sehr viel weniger reich als jetzt - und konnte doch, mühelos und zitternd, den vollen Sozialstaat finanzieren. Jetzt ist der Kapitalismus um ein Vielfaches reicher als damals - und jammernd demontiert er den Sozialstaat. Der Kapitalismus ist immer nur nett, wenn er nett sein muss. Jetzt muss er nicht.Die Sozialdemokratie duckt sich. Die Zeiten sind schlecht, aber sie macht draus das Beste. Dass die Sowjetunion, dieser nützliche Kapitalistenschreck, insofern ein hervorragend wichtiger objektiver Verbündeter war, mag die Sozialdemokratie nicht zugeben. Sicherheitshalber ist sie antikommunistisch auch ohne existierenden Kommunismus.Die Sozialdemokratie hilft sich so gut sie kann, und sie kann ganz gut: eine Mehrzahl der EU-Staaten wird sozialdemokratisch regiert oder mitregiert.Die Sozialdemokratie hilft sich, indem sie noch ein Stück kapitalfreundlicher wird als schon bisher. Das hat seine historische Logik: die friedlich bis freundliche Koexistenz mit dem Kapital ist das Prinzip, mit dem die Sozialdemokratie ins Leben trat, am Leben blieb, blühte und blüht.Unter diesem Vorzeichen ist die Frage: Wer gewinnt: Modernitäts-Sozialdemokraten oder die Linken? - ganz leicht zu beantworten. Es gewinnen beide und keiner.Keiner gewinnt für sich allein. Schröder kann mit einem linken Streichelzoo ganz gut leben. Nur brutal bringt nur Scherereien. Die Linken wieder sind beschäftigungslos ohne die SPD-Spielwiese, es ist die einzige Wiese, auf der sie halblinke Purzelbäume schlagen können. Immer war die SPD-Tante eine Albatroß, der nur dann richtig flott lahmen konnte, wenn er einen rechten Flügel hatte und einen linken, sei's auch sehr unterschiedlicher Spannweite.Schröder gewinnt, weil er die stärkeren Bataillone hat, wie in der Sozialdemokratie stets die Rechten. Die Linke gewinnt, weil sie - in hoffnungsloser Minderheit - ihre Unzerstörbarkeit und Unentbehrlichkeit beweist. Die faden Rosaroten, stets in Gefahr, das letzte Restchen Rosa zu verlieren und damit sich selbst, brauchen das Salz der Linken. Wenn das Salz dumm wird, womit soll man salzen?Drum, liebe Linke, werdet nicht dumm. Sondern ein bißchen gescheiter, als ihr derzeit seid.
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