Hey, Alter - schön dich zu sehen! Na, wie war das Wochenende?" Ein Blondschopf haut seinem Kumpel aufs Kreuz, dass es kracht. Der grinst und fragt zurück: "Haste dein Taschengeld eingetrieben?" Die Antwort geht im Stimmengewirr unter. Es ist Montagmorgen kurz nach halb sieben, in ein paar Minuten ist Arbeitsbeginn im Beruflichen Bildungs- und Rehabilitationszentrum (BBRZ e.V.) in Rathmannsdorf. Auf dem großen Hof des aufwendig sanierten ehemaligen Landschlosses herrscht Hochbetrieb: 200 Jugendliche lernen und arbeiten hier. Und weil keiner zu spät kommen will, gibt es an dem einen oder anderen Werkstatteingang Gedränge. An der großen Einfahrt halten mehrere Kleinbusse an, mit denen die "Heimschläfer" aus der Region jeden Morgen an den Bahnhöfen der b
Fünf Jahre Zeit bis zum richtigen Leben
ALLTAG In einem Ausbildungszentrum in Sachsen-Anhalt bekommen lernbehinderte und benachteiligte Jugendliche nicht nur eine fundierte Berufsausbildung - sie lernen auch, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen
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r benachbarten Kleinstädte Staßfurt und Aschersleben abgeholt werden.In Rathmannsdorf, einem kleinen Ort mitten in Sachsen-Anhalt, gehört der morgendliche Arbeitsbeginn auf dem Gutshof zum Alltag und ist eine willkommene Abwechslung in der ländlichen Ruhe. Nur ein paar Hundert Menschen leben hier - da entgeht es keinem, wenn 200 Leute zur selben Zeit aktiv werden. Aber es dauert nicht lange, da ist der Hof wieder wie leer gefegt, und die Gebäude im Halbrund haben alle jungen Leute verschluckt.Auf den ersten Blick ist es wie in jeder Berufsschule. Doch die Jugendlichen in Rathmannsdorf können nicht auf eine x-beliebige Berufsschule gehen. Dazu fehlt ihnen entweder das Lernvermögen, oder ihr soziales Umfeld erlaubt es nicht. Viele haben eine chronische Lese-Rechtschreib-Schwäche, sie kommen aus zerrütteten Familien, es gibt Schulabbrecher und Ausreißer. Manche wurden jahrelang hin- und hergeschoben, misshandelt oder wuchsen in Kinderheimen auf, bei anderen ließ eine schwere Krankheit Berufsträume zerplatzen. In Rathmannsdorf bekommen diese Jugendlichen eine reelle Chance, ihr Leben später selbst in die Hand zu nehmen. Vor allem wird ihnen die Zeit gegeben, die sie aufgrund ihrer Beeinträchtigungen brauchen: Bis zu fünf Jahren sind für die vollwertige Berufsausbildung vorgesehen, die Finanzierung dafür übernimmt das Land Sachsen-Anhalt. Nach diesen fünf Jahren, so die ersten Erfahrungen, sind aus den meisten Lehrlingen nicht nur Fachleute, sondern auch selbstbewusste junge Leute mit klaren Zukunftsvorstellungen geworden.Fast die Hälfte der Azubis wohnt auch auf dem ehemaligen Gutshof. Im Hauptgebäude gibt es 40 Internatszimmer mit je zwei Betten, in einem Seitengebäude leben zwölf Jugendliche im Projekt Betreutes Wohnen. Insgesamt 62 Ausbilder, Sozialpädagogen, Psychologen und Angestellte sind hier rund um die Uhr im Einsatz.Wo viele Menschen zusammen leben, gibt es natürlich auch Probleme. Doch die unterscheiden sich kaum von denen anderer Heranwachsender: "Wir müssen trösten, Ratschläge geben und vor allem zuhören können", sagt eine Psychologin. Viel schlimmer als die kleinen Alltagssorgen seien die seelischen Wunden, die die Vergangenheit bei einigen hinterlassen hätten; sie weiß um viele Schicksale und setzt auf Vertrauen und Verschwiegenheit.In der Malerwerkstatt schwitzen sechs Azubis: Sie weißen die Wände der Mauernischen, in denen sie in den vergangenen Tagen verschiedene Farbtechniken geübt haben. Morgen soll tapeziert werden. Mario und Philipp freuen sich schon darauf, denn beim Renovieren bei Freunden haben sie bereits Erfahrungen gesammelt. Sie sind beide 19 Jahre alt und haben ihr zweites Lehrjahr zum Bau- und Metallmaler gerade begonnen. Es ist bereits ihr drittes Jahr in Rathmannsdorf. Vor dem eigentlichen Lehrbeginn wurden ihnen in einem einjährigen Förderlehrgang die Ausbildungsfelder des BBRZ vermittelt, um die Berufswahl zu erleichtern: Sie sammelten Eindrücke in der Hauswirtschaft, dem Garten- und Landschaftsbau, im Metallbau, als Maurer, Maler und Koch. Parallel halfen ihnen Stützlehrer und Sozialpädagogen, das Lesen und Schreiben weiter zu verbessern und die Wissensgrundlagen für die Ausbildung zu festigen. Die vielen Sechsen aus der Schulzeit traten so schnell in den Hintergrund. Mario sagt selbstbewusst: "Wenn ich nach dem dritten Lehrjahr den Bau- und Metallmaler in der Tasche habe, mach ich den Durchsteiger." Philipp erklärt: "Das heißt so, wenn man noch die Vollausbildung dranhängt. Das dauert noch einmal ein Jahr und dann wäre ich Maler und Lackierer. Mit Facharbeiterzeugnis von der Handwerkskammer. Da steht dann auch nicht drauf, dass ich behindert bin oder so was. Das ist eine Urkunde, wie sie alle anderen Azubis nach der Lehre bekommen." Und mit so einer Urkunde in der Tasche, das wissen die meisten hier genau, hat man eine gute Chance auf einen Job. Ein Job - das bedeutet Geld verdienen, eine eigene Wohnung haben, selbstbestimmt leben, vielleicht sogar eine Familie gründen - das ist der Traum der meisten jungen Leute, die hier auf dem Gutshof leben und arbeiten.Oben im Hauptgebäude herrscht geschäftige Stille: Sarah, Ramona und Wiebke bügeln unverdrossen die Wäsche des Hauses - unzählige Geschirr- und Tischtücher, Schürzen und Kittel türmen sich auf den Tischen. Die angehenden Hauswirtschaftshelferinnen sind die "guten Geister", die immer für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Die 17-jährige Sarah und die 19-jährige Ramona wohnen im Internat. Wiebke kommt jeden Tag mit dem Bus hierher. Sie hat ein Kind, das sie vor der Arbeit in den Kindergarten bringt. Die 18-jährige ist die einzige, die ab und an morgens ein paar Minuten später in ihre Schürze schlüpft - "schließlich kann ich mein Kind nicht programmieren", sagt sie.Steffen, ein großer, stämmiger junger Mann, kommt herein. Außer ihm ist nur noch ein einziger Junge im Ausbildungsgang. Doch das stört ihn nicht. Seine liebste Tätigkeit ist Putzen, er bastelt und näht gern. Im Internat ist er für seine Hilfsbereitschaft bekannt und alle mögen ihn. Steffen ist 22 Jahre alt und bereits das fünfte Jahr hier. Er benötigte zwei Jahre Vorbereitung, bis er die Lehre beginnen konnte. Mit neun Jahren hatte er eine schwere Stoffwechselkrankheit und konnte danach keine Regelschule mehr besuchen. Es fällt ihm schwer, Neues zu begreifen.Inzwischen ist Mittag und der Hof wieder voller Menschen. Viele gehen zum Essen in den Speisesaal, andere wollen einfach eine halbe Stunde Ruhe, einige treffen sich an der Raucherinsel. Sven, Oliver und Markus überlegen, was sie nach Arbeitsschluss anstellen könnten. Sven schnippt mit den Fingern: "Ich hätte Bock auf Billard, macht ihr mit?" Die beiden anderen nicken: "Gebongt, um vier." Sie schielen zu den Mädels gegenüber. Die sagen cool: "Wir gehen lieber shoppen." Mit "shoppen" meinen sie einen Besuch des Minisupermarkts im Dorf.Eine Stunde später müssen die angehenden Maurer vor einem der Werkstattgebäude ihre Mäuerchen wieder einreißen. Eine Tätigkeit, die den meisten keinen Spaß macht. Einer nörgelt. Er würde lieber Bleibendes schaffen. "Als wir hier mitgeholfen haben bei der Sanierung, das war richtig gut. Da siehste wenigstens, was du gemacht hast!" Doch der Ausbilder ist gnadenlos: "Immer schön der erste Schritt vorm zweiten", mahnt er. "Wenn du ein Haus baust, willst du doch, dass es stehen bleibt, oder?" Die Runde grinst, dann wird weiter abgetragen, die Steine auf die Schubkarren geladen, alles weggeräumt.Die Azubis zum Garten- und Landschaftsbauer sind kurz vor Arbeitsschluss noch dabei, die Pelargonien zu stutzen. Im großen Gewächshaus stehen sie über die unzähligen Blumentöpfe gebeugt, die Arbeit will scheinbar kein Ende nehmen. Doch die Ausbilderin drückt heute mal ein Auge zu: "Na los, Abmarsch. Ich sehe doch, dass ihr den Kanal voll habt!" Blitzartig sind ihre sechs Schützlinge aus dem Glashaus verschwunden. Sie schaut noch einmal, ob die Tomaten und Bohnen auf den Freibeeten gegossen werden müssen. Ihre Arbeit mache ihr immer noch Spaß - auch wenn es manchmal schwierig sei: "Man muss sich eben viel Zeit nehmen für jeden Einzelnen. Deshalb haben wir Ausbilder auch nur sechs Azubis in einer Gruppe." Im Gehen sagt sie über die Schulter: "Ich habe gelernt, mich auch über kleine Erfolge zu freuen."Endlich Feierabend, wieder füllt sich der Hof. Ramona trifft sich mit einer Freundin zum shoppen. Drüben im Internatsteil des Hauptgebäudes wird es auch langsam lebendig. Nach und nach trudeln die Azubis aus den verschiedenen Winkeln des Geländes ein. Die ersten haben sich schon zu einer Runde Rommee gefunden, aus dem Tischtennisraum kommt der Ruf "Wer spielt mit chinesisch?", in der Hobbyküche wird Gemüse geschnippelt; Sven, Oliver und Markus schlendern zum Billard. Dort treffen sie Klaus, der im ganzen Internat als absoluter Musikfreak und Tanzkönig bekannt ist. Bei einer gemütlichen Billardrunde beschließen die vier, dass man doch noch ein bisschen abtanzen könnte. Also wird in einem Zimmer der CD-Player angeworfen und los geht's. Im Nu sind die vier schweißgebadet, Techno-Rhythmen wummern. "Mal sehen, wie lange es dauert, bis sich jemand beschwert", schreit Markus gegen den Sound an. Heute haben sie Glück: Eine ganze Stunde können sie sich austoben.Sarah von den Hauswirtschafts-Azubis ist nach der Arbeit zu ihrem Freund Falk gegangen, der sich mit Thomas eine kleine Wohnung teilt. Die gehört zum Projekt Betreutes Wohnen in einem der Nebengebäude des Gutshofes. Jeder hat sein Zimmer; Wohnzimmer, Küche und Bad werden gemeinsam genutzt. Sarah stellt dampfenden Cappuccino auf den Tisch. Fast jeden Nachmittag sitzen die drei kurz zum Kaffeetrinken zusammen, danach geht jeder seinen Interessen nach. Sarah lebt lieber im Internat als zu Hause: "Meine Mutter hat mich jahrelang eingesperrt und geschlagen. Ich bin froh, dass ich da weg bin. An den Heimfahrtwochenenden des Internats schlafe ich meistens hier bei Falk. Mir fehlt meine Mutter nicht - wir haben ja uns", sagt sie leise und kuschelt sich in den Arm ihres Freundes. Falk ist Vorarbeiter in der Jugendwerkstatt. Sein Zimmer hat der 18-Jährige perfekt durchgestylt: Hellblau gewischte Wände, die Regal- und Schrankteile hat der Bastler dunkelblau gespritzt, von einer Wand blickt ein selbst gemalter Pitbull herunter. Eigentlich ein schönes Domizil, doch Falk will bis Ende des Jahres eine eigene Wohnung gefunden haben. "Ich will selbstständig und unabhängig sein", sagt er trotzig. Sarah, die noch mindestens drei Lehrjahre im BBRZ vor sich hat, will ihn so oft wie möglich besuchen.Mitbewohner Thomas lebte vor seiner Lehre zwei Jahre bei Pflegeeltern. Er war immer wieder von zu Hause ausgerissen. Der Alltag als Ältester von insgesamt sechs Kindern und einer allein erziehenden Mutter wurde für ihn zur Zerreißprobe: Er war total überfordert, wurde unter Druck gesetzt. Die Schule blieb auf der Strecke. Als er gar nicht mehr weiter wusste, ging der schüchterne Junge immer wieder aufs Jugendamt und bat darum, von diesem Zuhause weg zu dürfen. Es war wie ein neues Leben, als Thomas endlich in eine Pflegefamilie kam. "In den zwei Jahren dort habe ich so viel gelernt, gesehen und erlebt, wie in den ganzen Jahren zuvor nicht", sagt er mit leuchtenden Augen. Seinen Pflegevater besucht Thomas heute noch regelmäßig. Das betreute Wohnen findet er gut: "Wir machen hier unser Ding für uns, da kriegt man mal mit, wie es ist, eine eigene Wohnung zu haben. Aber jeden Abend kommt eine Betreuerin vorbei, und wenn wir ein Problem haben, hilft sie uns." Der 19-Jährige hat sich für die Gärtnerlehre entschieden und hat noch drei Jahre im BBRZ vor sich. "Ich strenge mich an, damit der Lehrabschluss gut wird. Danach will ich mir richtig was Eigenes aufbauen und auf keinen mehr angewiesen sein." Wie schwer das sein wird, darüber will er jetzt noch nicht nachdenken.Im Internat gibt's inzwischen Abendessen; der Hof ist menschenleer. In Rathmannsdorf sind längst die Bürgersteige hochgeklappt. Gegen 22 Uhr werden auch die meisten Azubis im Gutshof in ihren Betten liegen, denn morgen klingelt der Wecker wieder verdammt früh: spätestens um 6 Uhr.Alle Namen von der Redaktion geändert.
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