„Kleine Schritte“, so hat Willy Brandt stets argumentiert, sollten menschliche Erleichterungen zwischen Ost und West möglich machen. Von großen Zielen sprach er wohlweislich nicht. Als eine Politik der kleinen Schritte wollte auch Angela Merkel ihren Europa-Kurs seit Beginn der Krise im Jahr 2009 verstanden wissen. Man könne nur auf Sicht fahren, hieß es, man müsse von Tag zu Tag entscheiden. Für dieses Krisenmanagement erntet sie bislang breite Zustimmung. Zu Unrecht.
Brandt wollte seine Ostpolitik um jeden Preis realisieren – auch falls er darüber stürzen sollte, was dann ja auch geschah. Es hätte seine Ziele womöglich gefährdet, wenn er genauer erklärt hätte, was „Wandel durch Annäherung“ langfristig heißen könne. Er musste darüber schweigen, seine Ostpolitik enthielt ein subversives Moment. Bei Merkel aber liegt der Fall anders.
„Diese Bundesregierung hat von Anbeginn der Krise immer nur national, nicht aber europäisch gedacht. Ihre Sorge war stets in erster Linie, Gefahren vom deutschen Wohlstand abzuwehren, nicht vom Wohlergehen Europas. Das Gold der Bundesbank liegt ihr mehr am Herzen als die Zukunft der EU.“ Der erste, von dem ich dieses Urteil in solcher Klarheit gelesen habe, war Christoph Bertram, lange Jahre Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem renommiertesten außenpolitischen Thinktank. Seine These vom rein nationalen Denken übrigens ist nirgends veröffentlicht worden. Sie passte offenkundig schon bald nach Ausbruch der Euro-Krise nicht in die politische Landschaft.
Aus Christoph Bertrams ersten Ahnungen ist systematisch Politik geworden. Es hat ein dramatischer Paradigmenwechsel stattgefunden, der aber nicht benannt wird. Ausgerechnet die Bundesrepublik, die jahrzehntelang zuverlässig als europäischstes Land galt, hat eine Wendung ins Nationalegoistische hinter sich. Gleichzeitig wird das jahrzehntelang verfolgte europäische Projekt heimlich umdefiniert in ein „deutsches Europa“.
Dahinter steckt keine hegemoniale Strategie. Wir schliddern da einfach hinein. Aufmerken sollte man, wenn gerade wohlgesonnene Deutschland-Kenner und Europa-Freunde wie der Oxforder Historiker Timothy Garton Ash behutsam von einer „neuen deutschen Frage“ sprechen (The New York Review of Books vom 15. August 2013), deren Beantwortung man den objektiv überforderten Deutschen nicht allein überlassen sollte. Oder wenn der Economist auf dem Titel von der Bundesrepublik als „zögerlichem Hegemon“ spricht, der seiner gesamteuropäischen Verantwortung nicht gerecht werde.
Sogar Polens vorsichtiger Premier Donald Tusk nutzte die Gelegenheit, um bei der Vorstellung eines Buches über Angela Merkel in den Räumen der Deutschen Bank ein paar Wahrheiten auszusprechen. Er habe nichts gegen eine deutsche Führung in Europa, sagte er da, aber die Politiker hier sollten doch zur Kenntnis nehmen, wenn ein Großteil der Nachbarn glaube, die verordneten ökonomischen Rosskuren nicht überleben zu können oder dass Europa in zwei oder mehrere Klassen zu zerfallen drohe. Merkel, auf dem Platz neben ihm, reagierte darauf mit keinem Wort, und auch die hiesigen Medien ignorierten Tusks sanfte Kritik.
Schon bald nach Ausbruch der Euro-Krise 2009 haben zwar einige Ökonomen, voran George Soros und Paul Krugmann in den USA, dafür plädiert, eilig eine „Brandmauer“ aufzuziehen, um eine Krise des Euro, einen Zerfall der Euro-Zone, vor allem aber eine soziale Katastrophe für Südeuropa und einen Absturz in die Massenarbeitslosigkeit wie in den Jahren vor dem Beitritt zur EU zu verhindern. Aber weder mochte sich Berlin zu einem großen Schritt – Eurobonds beispielsweise – durchringen, noch wurde die Frage ernsthaft ventiliert, ob es für Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit besser sei, es scheide aus der Euro-Zone aus, um die Währung abwerten zu können.
Es ging immer nur um das „nationale Interesse“. Austerität und weniger Staat, hieß die Formel. Drei Jahre lang wurde kein Gedanke daran verschwendet, wo sinnvolle Wachstumschancen für die Krisen-Staaten liegen, wie Wettbewerbsfähigkeit möglich würde und ob das politische Ziel eines „sozialen“ Europas denn nicht gerade jetzt mit praktischer Solidarität verteidigt werden müsse. All das wurde als Europa-Romantizismus belacht.
Ein Schleiertanz
„Einfache Lösungen, gar einen Paukenschlag, das wird es nicht geben.“ Hinter diesem Credo Angela Merkels versteckten sich einfache, wenn auch langwierige Kuren für Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und zuletzt Zypern. Jürgen Habermas und Ulrich Beck sollten recht mit ihrer frühen Warnung behalten: Als „normatives“ Problem werde die Krise nie verhandelt, es gebe keinerlei Anstrengung, zu definieren, was im Interesse Gesamteuropas liegen könne. Die Krise werde zum rein technisch-ökonomischen Problem verkürzt. Gegen diese deutsche Methode zeigte Europa sich machtlos, die Bundesrepublik war wirtschaftlich zu stark. Bekanntlich passten sich sowohl SPD als auch Grüne diesem Vorgehen – trotz innerer Widerstände in beiden Lagern – weitgehend an, schon aus „staatspolitischer Verantwortung“, wie es hieß.
Dieser Schleiertanz dauert an. Immerhin wird die hohe Zustimmung für Angela Merkel mit ihrem „guten Krisenmanagement“ erklärt. Die Rechnung ist also aufgegangen. „Total unzuverlässig“ seien die Sozialdemokraten in der Europa-Frage, spottete die Kanzlerin der Opposition jüngst hinterher. „Sauerei“, gab Frank Walter Steinmeier in der letzten Parlamentsdebatte zurück; sie zerstöre Brücken, empörte Peer Steinbrück sich. Sie hätten es früher wissen müssen. Auch mit den einzelnen Rettungsschirmen sowie dem „Finanzstabilisierungsmechanismus“ (EFSM) – schon der hermetische Begriff verrät, dass etwas versteckt werden soll – wurden natürlich Garantien abgegeben. Nur eben hinter einem Paravant. Die öffentliche Unwahrhaftigkeit wurde Methode.
Erinnern muss man zunächst noch einmal daran, dass die Schwierigkeiten Athens, sich auf den Anleihemärkten bedienen zu können, unmittelbar nach der Finanzmarktkrise einsetzten. An der exorbitanten Höhe der griechischen Haushaltsverschuldung oder der laxen Steuermoral hatte sich bis dahin niemand wirklich gestört. Im Jahr 2009 schwieg die schwarz-gelbe Regierung zunächst lange zu all den anti-griechischen Tiraden von Bild und anderen Boulevard-Medien, aber damals wurde bereits der Ton angeschlagen: Nein, die schludrigen Südeuropäer dürften nicht auf Kosten unserer Steuerzahler aus ihrer Misere herausgepaukt werden.
Ein normales Land
Allmählich pochten auch die Leitartikler hörbarer als je zuvor, Deutschland sei doch lange aufgefordert worden, die eigenen Interessen wie ein „normales“ Land zu vertreten. Es sei nicht unsolidarisch oder uneuropäisch, lautete das neue Argument, darauf zu bestehen, dass Verträge nicht gebrochen werden. Der fatalistische Da-müssen-wir-halt-durch-Ton: Diesmal werden die Deutschen nicht wie einst in Versailles als Verlierer, nein, die Sieger werden fürs Siegen bestraft.
Um Solidarität mit Griechenland ging es keinen Moment. Als klar war, dass die ermatteten Euro-Club-Mitglieder sich nicht wehren und der EU-Rest nicht mitsprechen könne, verkündete Angela Merkel: „Es gibt keine vernünftige Alternative.“ Bei Griechenland, assistierte Kommissions-Präsident Manuel Barroso, der über Berlin ächzte, aber nie eine eigene Rolle fand, handele es sich um einen „Sonderfall“, die anderen südeuropäischen Länder seien robuster. Wusste er es nicht besser? Wenn der Euro im Falle Griechenlands nicht verteidigt werde (mit einem Schirm von 123 Milliarden), so auch Angela Merkel, werde die „historisch einmalige Notsituation“ zum systemischen Risiko, Portugal, Irland, Spanien und Italien könnten dann folgen. Er wurde verteidigt – und sie folgten dennoch. Auch darüber gab die Politik nie wirklich Rechenschaft.
Ein alternatives Krisenszenario visierte keine Seite mehr an. Angst vor den eigenen Anhängern überschattete alle Einsichten. Die Linke übrigens rang sich ohnehin nicht zu einem eindeutigen Europa-Solidaritäts-Kurs durch, eine verpasste Chance sondergleichen.
Im Bundestag wartete Angela Merkel am 19. Mai 2010 mit dem Satz auf: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Jeder künftige Rettungsschirm sollte damit als Beitrag zur Rettung des europäischen Projekts verstanden werden. Seitdem präsentierte die Kanzlerin sich als Hyper-Europäerin und Chefsaniererin, der es zu verdanken sei, dass der „Weg in die Transferunion“ – das große Schreckgespenst – von ihr verhindert worden sei. Sie predigte, Hilfe müsse „an harte Eigenanstrengungen gekoppelt“ sein, ja sie drohte sogar, notfalls müsse über eine geordnete Insolvenz oder Strafen wie Stimmrechts-Entzug in Brüssel nachgedacht werden.
Frankreich, damals noch unter Präsident Nicolas Sarkozy und ökonomisch in der Defensive, suchte den Schulterschluss mit Berlin. Der französische Freund hoffte, vom Glanz der „mächtigsten Frau Europas“ werde etwas auf ihn abfallen. Das deutsche, nationale Ego fühlte sich geschmeichelt.
Besonders der Spaziergang von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy im Seebad Deauville wird in die Annalen dieser Krisenjahre eingehen, weil da ungeniert demonstriert worden ist, dass Europa künftig nur noch intergouvernemental vorangetrieben wird. Oder gar nicht. Paris schluckte endgültig, dass keine große „Brandmauer“ oder „Bazooka“ benutzt werden solle, um die Spekulationen gegen den Euro zu verhindern. Dafür handelte sich Sarkozy ein kleines Entgegenkommen ein, dass nämlich Sanktionen gegen Defizitsünder „nicht automatisch“ wirksam würden. Ein Gummi-Kompromiss! Seitdem stand fest, dass die Deutschen ihren Grundkurs in Europa durchsetzen würden: keine Transferunion, wohl aber ein Stabilitätspakt als Grundlage einer Fiskalunion. Jedes Gedankenspiel an Eurobonds oder eine andere Form solidarischer Haftung stellte auch Wolfgang Schäuble seitdem ein. Er galt bis dahin als der „letzte Europäer“ im Kabinett.
Wenige Monate später im Mai 2011 ermahnte Angela Merkel die Griechen, so lange zu arbeiten wie die Deutschen und ihre Rentenpolitik sowie die Urlaubsregelungen entsprechend anzupassen. Jetzt benutzte sie selbst die Sprache der Bild-Zeitung. Eurobonds, sekundierte der neue Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der bis vor Kurzem die Kanzlerin beraten hatte, würden die Anreize für eine staatliche Haushaltspolitik „rascher und dauerhafter zerstören als eine gemeinsame Haftung für die Staatsschulden.“ Dann nämlich müssten die „deutschen Steuerzahler“ für die gesamten griechischen Staatsschulden einstehen. Die Deutschen? Oder alle Europäer einschließlich der Griechen? Und gab es nicht Vorschläge, wie sich die Haftung begrenzen ließe?
Am 26. Juli 2012 dann gewann Angela Merkel schon die Wahlen vom 22. September 2013. Zwei Sätze von EZB-Präsident Mario Draghi, die er in London eher beiläufig vortrug, wirkten wahlentscheidend. „Innerhalb unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird reichen“, sagte Draghi damals. Und die Kanzlerin war damit aus dem Schneider.
Ein Leuchtturm
Ausgerechnet die EZB, die keine politische Institution ist, hatte mit dieser Garantieerklärung der Regierung eine politische Entscheidung abgenommen. Ein heimlicher Seufzer der Erleichterung war in Berlin zu hören. Öffentlich jedoch konnte die Kanzlerin bei ihrer Haltung bleiben, im „nationalen Interesse“ liege es, die Südeuropäer Mores zu lehren. Seitdem wurde sie nicht müde zu beteuern, die Regierung halte von dieser Bail-out-Politik nichts. Keinesfalls würden die drakonischen Auflagen gelockert. Im Gegenteil, eine Troika in Brüssel werde das Einhalten der Spielregeln überwachen und Aufträge und Weisungen erteilen, als hätten die Krisenländer keine gewählten Regierungen.
In dieser Version blieb eigentlich nur Deutschland als Leuchtturm übrig. Der einzige europäische Staat, der alles richtig gemacht habe. Bis in die FAZ hinein warnten Stimmen vor einem solchen „Selbstbetrug“. Aber er fand kollektiv statt. Als Gegner der Regierung erschien fast nur noch das Karlsruher Verfassungsgericht, das Ende 2010 erstmals ins Spiel kam. Wahrgenommen wurden die Richter seit dem Lissabon-Urteil als starke Befürworter von Mitwirkungsrechten des Bundestags. Sie setzten sich damit dem Verdacht aus, Europas zu rasche Integration skeptisch zu verfolgen. Vergeblich hat sich Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle gegen diese Mutmaßung gewehrt. Aber könnte es nicht im Gegenteil sein, dass das Gericht, das laut nachdachte darüber, wann ein Referendum notwendig werde, europa-offener blieb als die Regierenden in Berlin?
Erst Ende 2011 war es dann so weit, und unter den Leitartiklern der Republik herrschte weitgehend Übereinstimmung, die Deutschen hätten mit Recht die weitestgehende Reform in der Geschichte der EU durchgesetzt: den Fiskalpakt. Und die Südeuropäer hätten sich nie zu grundlegenden Reformen bequemt, wären sie dazu nicht von uns angehalten worden. „Wer einen Deutschland vergleichbaren Wohlstand genießen will“, konstatierte zufrieden die FAZ am 28. Oktober 2011, „muss sich den Methoden und Mitteln anbequemen, mit denen Deutschland seinen Wohlstand erarbeitet hat und erhalten will.“ Der Satz „Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“ lag in der Luft. Es musste sich nur noch einer finden, der ihn aussprach. Und schon posaunte Volker Kauder ihn im November 2011 auf dem CDU-Parteitag hinaus.
Eine neue deutsche Frage
Streng achtete Angela Merkel im Jahr 2012 darauf, das Erreichte nicht gefährden zu lassen: Das heißt, jeder vorsichtige Versuch der Kommission in Richtung Haftungsunion wurde im Keim erstickt. Niemand wolle Italiener, Spanier, Franzosen zu Preußen oder Schwaben umerziehen, sekundierte die FAZ, „wenn aber der Süden in den Disziplinen Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der öffentlichen Finanzen aus schierem Eigeninteresse heraus nicht wenigstens etwas deutscher wird, obschon auch Deutschland in Sachen Verschuldung nicht das beste Vorbild ist, dann hat die EU ihre größte Krise noch vor sich.“
Vor diesen deutschnationalen Versuchungen warnte ausdrücklich als erster in dieser Klarheit Ende 2011 Helmut Schmidt. Als Schauplatz für die fulminante Geschichtslektion hatte er sich den Berliner SPD-Parteitag ausgesucht, vermutlich, um seine Partei in die richtige Richtung zu schubsen. Aber es verhallte.
Der Münchner Soziologe Ulrich Beck nannte das Kind auch beim Namen, seinem Büchlein aus dem Herbst 2012 gab er den programmtischen Titel Das deutsche Europa. Die stärkste Wirtschaftsmacht Europas diktiere notleidenden Staaten die Bedingungen für weitere Kredite, während zugleich demokratische Mitbestimmungsrechte der dortigen Parlamente und letztlich auch des deutschen ausgehöhlt würden. Merkel betreibe europäische Innenpolitik. Beck nannte es eine „Form der unfreiwilligen Herrschaft“, der „Aufstieg Deutschlands zur Hegemonialmacht in Europa wird so zugleich vorangetrieben und verdeckt“. Diese ökonomisch begründete Macht müsse nicht einmarschieren und sei doch „allgegenwärtig“.
Noch pointierter argumentierte Robert Menasse im Essay Der europäische Landbote. Mit Blick auf die erste Rettungsschirmdebatte urteilte er, „es war und ist die deutsche Politik, die damals bereits seit Monaten … europäische Probleme zu Problemen der Nationalstaaten erklärt, des griechischen, italienischen, portugiesischen und so weiter, und es ist die deutsche Politik, die aus einer europäischen Institution, dem Rat, besonders unbeirrt und konsequent ein Gremium zur Verteidigung nationaler Interessen, vor allem der eigenen, macht.“
Was aber sind, fragt Menasse, heute nationale Interessen? Etwa der Anspruch, die bereits erkämpften Standards demokratischer Partizipation, Bürgerrechte, sozialer Ausgleich, Umweltschutz auf höherer Ebene durchzusetzen? Diese Diskussion „wurde nie geführt“. Stattdessen seien Standards gesenkt worden. Deutschland, lautete sein Befund, beteuere zwar gerne, die Demokratie in Europa samt Straßburger Parlament stärken zu wollen, hätte aber dazu beigetragen, genau dies zu verhindern. Dafür noch die Macht des Rats erhöht. Wenn angesichts der gegenwärtigen Konjunktur und der vorbildlichen deutschen Steuerdisziplin kein Haushalt in Berlin ohne wachsende Schulden möglich sei, dann zeige das: Wir erlebten nicht die Krise der Südeuropäer, sondern eine „politische Krise der Union insgesamt“.
In seinem jüngsten Text über die „neue deutsche Frage“ aus der New York Review of Books, von dem schon die Rede war, grübelt Timothy Garton Ash über die Lego-Sprache der deutschen Politiker und ihr provinzielles Denken, aus historischen Gründen. Ab 23. September – nach der Wahl – müsse darüber aber in Europa verhandelt werden. Um den Vorwurf, das Land sei nationalegoistisch geworden, macht der Autor liebevoll einen Bogen, obwohl seine Argumente genau darauf hinausliefen. Das Echo in der politischen Arena: null.
Und nun, wie weiter? Wirklich entgegengestemmt hat sich der Wendung ins Nationale niemand, obgleich Sozialdemokraten, Grüne und Linke nie über ein „solidarisches Europa“ zu sprechen vergaßen. Das Risiko, sich für ein solches postnationales, soziales Europa stark zu machen, wollte niemand ernsthaft eingehen. Ohnehin hatte die EU, darin hat Robert Menasse recht, viele der sozialen und demokratischen Standards aus dem Repertoire einzelner Mitgliedsstaaten abgebaut: liberalisierte Märkte, ungebremste Spekulationschancen, minimale Sozialleistungen, flexibilisierte Arbeitsmärkte. Nur auf diese Weise könne man in der globalisierten Ökonomie mithalten, hieß es. Auch diejenigen, die diese Rettungsschirmpolitik mitgemacht haben, müssen sich fragen lassen, wie ernst es ihnen mit dem Leitmotiv „sozialer Gerechtigkeit“ ist, wenn sie Europa kein Solidaritätsangebot machen. Wem soll man da noch Lippenbekenntnisse zur „sozialen Gerechtigkeit“, zu Mindestlöhnen et cetera zu Hause abnehmen?
Das Heer jugendlicher Arbeitsloser in Spanien war binnen drei Jahren auf über 50 Prozent angewachsen, in Portugal und Griechenland sah es kaum besser aus, bevor die deutsche Regierung erstmals rhetorisches Entgegenkommen demonstrierte. „Keiner wird fallengelassen“, hieß die Floskel aus Angela Merkels Mund, die sich die Fallengelassenen anhören mussten. Wieder lockerte jedoch die EZB ihre Geldpolitik. Und deutsche Politiker unternahmen Kurztrips, um Mitgefühl zu bekunden. Einen Schuldenschnitt aber, sagten sie gleich, werde es keinesfalls geben. Selbst die Ankündigung, Griechenland brauche einen neuen Rettungsschirm von rund zehn Milliarden Euro, wagte Wolfgang Schäuble erst in dem Moment, als schon ziemlich sicher schien, dass die Wahlen am 22. September nicht mehr verloren werden können. Sorry, aber Angela Merkels kleine Schritte in Europa führen, anders als in der Ostpolitik, in der Summe zum großen Falschen.
Gunter Hofmann war bis 2008 Chefkorrespondent der Zeit. Er lebt als Autor in Berlin
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