Meine Annäherung an die deutsche Kultur begann in Budapest, Mitte der fünfziger Jahre, als eine alte jüdische Dame mir die ersten Privat-Sprachstunden gab. Sie tat dies für eine Ergänzung ihrer bescheidenen Rente, und das edle Vorhaben wiederum sponserte meine Großmutter aus ihrem Hilfsarbeiterlohn. Sie war der Meinung, diese Sprache muss ein Mensch, der auf seine Bildung etwas gibt, wie sie es ausdrückte, „trotz alledem“ lernen. Meine Lehrerin begann gleich mit der Weimarer Klassik, wobei die von ihr als Lehrstoff bevorzugten Werke: Goethes Faust und Schillers Balladen, nicht zu meinen leichtesten Lektüren gehörten. Gleichzeitig versuchte sie mir das Œuvre des dritten Riesen, Heinrich Heine, vorzuenthalten, denn diesen fand sie für mein zartes Alter zu sinnlich. Mit ihrer wohlgemeinten Warnung erweckte sie bei mir eine außergewöhnliche Neugier für eben diesen Lyriker.
Ausgerechnet im traurigen Monat November jenes Jahres, in welchem fast wortwörtlich unter unserem Fenster sowjetische Panzer rollten, las ich Deutschland. Ein Wintermärchen, allerdings damals noch auf Ungarisch, in einer Ausgabe, welche zum Anlass des Hundertsten Todestages des Dichters erschien – 1956 war im UNESCO zum Heine-Jahr erklärt worden. Heine gehörte zu den Heiligen unserer offiziellen Kultur, denn er befürwortete dieselbe Utopie, deren Verwirklichung das System auf die Fahne schrieb: „Ein neues Lied, ein besseres Lied/ O Freunde will ich euch dichten!/ Wir wollen hier auf Erden schon/ das Himmelreich errichten“, und „Die Jungfer Europa ist verlobt/ Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, / Sie schwelgen im ersten Kusse.“ Das las ich wegen des Stromausfalls bei Kerzenlicht, war begeistert von der wunderbaren Vision und stellte mir keineswegs die Frage, was der musikalischste aller deutschen Poeten zu dem Schlachtgetöse des Zukunftsstaates da unten auf der Straße gesagt hätte. Mit dreizehn stellt man selten die richtigen Fragen und von der realen Welt hat einer ebenso wenig Ahnung wie von dem ersten Kuss.
Deutsch und Berliner
Ich könnte es aber auch anders erzählen, und zwar über Symbole, welche im Nachhinein einen Sinn zu erhalten scheinen. Von väterlicher Seite zogen meine Ahnen aus der Stadt Lugosch, heute Rumänien, unter dem Familiennamen „Deutsch“ am Beginn des 20. Jahrhunderts nach Budapest um, während der mütterliche Zweig „Berliner“ hieß und fast zur gleichen Zeit aus dem nordslowakischen Unterkubin in die ungarische Hauptstadt kam. Die unergründlichen Wanderwege des mitteleuropäischen Judentums führten die Deutschs und die Berliner erst einige Jahrzehnte später zusammen. Dazwischen kam der Erste Weltkrieg, während dessen mein Großvater mütterlicherseits, Ármin Berliner als Kriegesgefangener in Sibirien verschollen ist – seine in Deutsch und Sütterlin geschriebenen Feldpostkarten bewahre ich heute noch. Mit seinem Schicksal erschien am Horizont unserer Familiengeschichte ein neues Imperium: Russland. Als meine Mutter, Erzsébet Berliner und mein Vater Andor Deutsch im Sommer 1942 heirateten, wütete bereits der Zweite Weltkrieg. Die Familie überlebte im Budapester Ghetto und hoffte auf ihre damals einzig reale Chance, nämlich, dass die Russen kommen und sie befreien.
Heute erscheint mir so, als wäre ich, ein Nachkommen von Deutschs und Berliner geradezu prädestiniert, ein Leben lang mit Deutschland und Berlin zu tun zu haben. Selbst mein fünfjähriges Studium in Moskau liefert eine Art Beweis hierfür. Ich bin als achtzehnjähriger Stipendiat des Budapester Kulturministeriums delegiert worden und war eher der damals modisch gewordenen Afrikanistik zugeneigt, aber die Aufnahmekommission der Lomonossow-Universität teilte mich aufgrund meiner zögerlich zugegebenen Deutschkenntnisse der Fachgruppe „Deutsche Zeitgeschichte“ zu, in der ich fünf Jahre später meine Diplomarbeit über das Heidelberger Programm der SPD schrieb. Allerdings erwies sich meine Förderung durch das System als vergebliche Liebesmüh – mein naiv-romantischer Kommunismus verwandelte sich bald in Zweifel und Ketzerei, die mich mit der Staatsmacht in Konflikt brachten. Im Herbst 1968, als ich theoretisch am Beginn meiner Karriere stehen sollte, gehörte ich bereits zu dem Menschentyp, über den man in Ungarn zu sagen pflegte: „Er hat eine große Zukunft hinter sich.“ Nach meiner Entlassung suchte ich Gelegenheitsaufträge: Mein erstes, lebensrettendes Honorar erhielt ich für die Übersetzung des Romans der DDR-Autorin Ruth Kraft Insel ohne Leuchtfeuer – lediglich mein Name durfte nicht in dem Buch vorkommen.
Dies waren, sozusagen, meine unbewussten Begegnungen mit Deutschland. Später, als ich freier reisen durfte, fuhr ich jedes Jahr nach Ostberlin, um alte Freundschaften aufleben zu lassen und auch neue zu knüpfen. Hier lernte ich die kritische Literaturszene und Oppositionszirkel der DDR kennen. In Ungarn an die Peripherie des intellektuellen Milieus gedrängt, fand ich in den Kneipen und Dachwohnungen von Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg eine vorbehaltlose Aufnahme. In der Gesellschaft von Heiner Müller, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner, Thomas Brasch und Katharina Thalbach fühlte ich mich wie eingebürgert. Ehrlich gesagt, empfand ich selbst die deutsche Teilung als nicht ganz absurd. Schließlich war auch meine Nation ewig gespalten, ohne dass sie für diesen tristen Zustand den Luxus von gleich zwei Staaten in Anspruch nehmen konnte.
Manuskripte im Schuh
Selbstverständlich lockte mich damals auch die Verbotene Stadt. Von dem Postamt an der Friedrichstrasse rief ich über die unvergessliche Vorwahl 0849 in Westberlin an. So traf ich im Café Unter den Linden Hans Magnus Enzensberger, der mich auf die mir damals absurd erscheinende Idee brachte, einen eigenen Band bei dem Westberliner Rotbuch Verlag zu veröffentlichen. Meine etwas holprige Rohübersetzungen bearbeitete er, Brasch, und als Dritter im Bunde der im bundesdeutschen Knast Werl einsitzende Anarchist Peter-Paul Zahl. Teile des Manuskriptes schmuggelte Luc Bondy in seinen Schuhen über den Eisernen Vorhang und er musste heilfroh sein, dass ich damals noch keine Romane schrieb, die man nicht so leicht als orthopädische Einlage tarnen konnte. Bis heute gebe ich mir Mühe, mich kurz zu fassen: Schließlich ist für mich Literatur über Grenzen und Büchermärkte hinweg immer noch Schmuggelware.
Ich dachte nicht, dass meine erste Publikation in Westberlin den Grundstein einer späteren Sozialisierung in der Bundesrepublik legen würde. Vielmehr begriff ich diese als ein trickreiches Manöver, durch das ich die Rückkehr in die ungarische Literatur erzwingen kannte. Auch als ich 1984 mit einem Stipendium des DAAD in Berlin-Wilmersdorf landete, wollte ich das erste Jahr meiner literarischen Laufbahn, in dem ich von anderen Sorgen befreit schreiben konnte, der ungarischen Muse widmen. Ich hoffte, nun endlich das Werk zu schaffen, das in meiner Heimat endlich akzeptiert wird. Traurig war ich höchstens darüber, dass ich aufgrund eines durch das MfS angestrengten Einreiseverbots nicht in den Ostteil der Stadt durfte. Inzwischen waren viele meiner Freunde dort rausgeschmissen worden, aber bei weitem nicht alle. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen. So fühlte ich mich an einer Wende, ich meine: einer Wende zum Guten in der DDR, geradezu egoistisch interessiert.
Ob ich aber den Zusammenbruch des Ostblocks wollte, wie ich diesen zwanzig Jahre später in meinem Buch Der Vorhang geht auf zu schildern versuche? Ja und nein. Ich wollte, dass der Stolz der Mächtigen bestraft wird und die Bedrängten Rechte erhalten, dass Lüge und Gewalt entlarvt werden und die Gesellschaft endlich in den Genuss der Freiheit kommt. Einen staatlichen Rahmen hierfür konnte ich mir kaum vorstellen – Staat war für mich immer etwas, was die Demokratie bestenfalls nüchtern kontrolliert, nicht jedoch in verrückter Weise durchsetzt. Außerdem wusste ich nicht, ob ich als notorischer Neinsager konstruktiv zur Gestaltung eines neuen Systems beitragen konnte.
In den neunziger Jahren fand ich ein Terrain, auf dem mein Handeln mir als sinnvoll erschien: Die Kulturvermittlung. Ich leitete das Collegium Hungaricum Berlin und war literarischer Kurator des Ungarnschwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse 1999. In jenen Jahren machte ich genügend Erfahrungen damit, wie schwierig selbst die Zusammenarbeit mit frei gewählten Regierungen sein kann. Und trotzdem erlebte ich eine Zeit, die mich neben dem Persönlichem stärker als je an Deutschland und an Berlin gebunden hat. Offensichtlich war jedoch meine Abenteuerlust durch Frankfurt nicht ganz befriedigt, denn ich arbeitete einige Jahre später an dem kroatischen Gastlandprojekt von Alida Bremer für die Leipziger Buchmesse. Als Schriftsteller, war ich selber verwundert, welche Freude es mir machte, Ereignisse entstehen zu lassen, die man in meinem Beruf sonst lieber frei erfindet.
Kollektive Angstneurose
Erlauben Sie mir noch ein paar Worte zu Ungarn. In meinem Lande, dem ich immerhin die meisten sprachlichen und kulturellen Impulse zu verdanken habe, etablierte sich eine ziemlich friedlose Demokratie. Der Kalte Krieg zwischen den Großparteien hat jede Menge Spielraum für einen primitiven und aggressiven Rechtsradikalismus freigesetzt. Ungarns Probleme sind ansonsten mit denjenigen von vielen Reformstaaten vergleichbar: Inflation, Arbeitslosigkeit, Korruption und mangelnde Kompetenz seiner Eliten. Andererseits leidet das Land auch an sich selbst: Es findet keine Ruhe vor der gehässigen Atmosphäre, welche in eine kollektive Angstneurose überzugehen droht. Ebenso wie manche Krankheiten erst behandelt werden können, wenn das Fieber nachlässt, müsste die Republik zuerst ihre lang gepflegte Hasskultur loswerden, um ein soziales und politisches Gleichgewicht erreichen zu können.
Bei den Erinnerungen an das Jahr 1989 stelle ich mir häufig die Frage: Damals waren die halblegalen, schwachen neuen Parteien bereit, selbst mit dem kommunistischen Gegner Verhandlungen zu führen, welche den Übergang von der Diktatur in die Demokratie ermöglichten. Was hindert sie also heute daran, eine ebenso friedliche Transformation der schlechten Demokratie zu einer besseren Variante in Gang zu setzen und dadurch die Rechtsextremisten zu isolieren? Der Weg dorthin führt vielleicht über einen Möbelstück, das sich vor zwei Jahrzehnten schon einmal bewährt hat. Ich meine den Runden Tisch. Hoffentlich müssen wir darauf nicht weitere zwanzig Jahre warten.
György Dalos ist Herausgeber des Freitag. Wir haben die Dankrede, die Dalos aus Anlass der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung am 17. März im Gewandhaus gehalten hat, leicht gekürzt und bearbeitet
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