Der riesige Ballon platzte, als ihn eine Ameise anknabberte

Polemik Ein Glück, dass die ägyptische Revolution auch die Literatur der Moderne hinweggefegt hat. Die neuen Autoren wollen vor allem leicht und geerdet sein

Keine Frage: Zwischen Alaa al-Aswanis Roman Der Jakubijan-Bau und der ägyptischen Revolution gibt es Parallelen. Zwar haben andere Romane die Vorkomnisse auf dem Tahrir-Platz genauer prognostiziert und beschrieben. Aber Der Jakubijan-Bau ist der berühmteste, einflussreichste und am meisten verkaufte von ihnen. Zudem wird in al-Aswanis Roman, der 2002 in Ägypten erschienen (und seit 2007 auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich) ist, das inzwischen gestürzte Regime kritisiert oder, besser gesagt, bloßgestellt. Dadurch unterscheidet sich Der Jakubijan-Bau ganz wesentlich von den Werken der so genannten neuen ägyptischen Romanliteratur, obwohl diese nahezu zeitgleich erschienen sind und ebenfalls dazu beigetragen haben, dass der Absatzmarkt für Romane neue Dimensionen erreicht hat.

Der erste Unterschied lässt sich bei den Absatzzahlen ausmachen: Man könnte Der Jakubijan-Bau einen „Geniestreich“ nennen, bis heute wurde er in Ägypten über 150.000 Mal verkauft. Es fällt schwer, in der arabischen Welt einen vergleichbaren Fall zu finden. Geniestreiche hat es jedoch schon immer gegeben. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Im Unterschied dazu sind die Absatzzahlen des neuen ägyptischen Romans zwar hoch, aber sie bleiben überschaubar. Der neue ägyptische Roman übte zwar eine gewisse Anziehungskraft auf junge Leute aus, insbesondere auf Studenten, die sich nicht mit der Schwere und Düsterkeit der Moderne anfreunden konnten, von der die Literatur nicht weniger als dreißig Jahre lang geprägt war. Doch der Anklang hielt sich in Grenzen. Es gab also einen rein „distributiven“ Unterschied zwischen den ersten Autoren der 1960-Generation, wie Gamal al-Ghitani, Khairy Shalaby, Ibrahim Aslan, Sonallah Ibrahim und Bahaa Taher, deren Werke nur in bescheidenen Zahlen aufgelegt und zumindest in den ersten Jahren nicht öfter als 100 mal verkauft wurden, und den Erstlingswerken junger Autoren wie Ahmed Alaidy, Ihab Abdel Hamid, Hamed Abdel-Samad, Mohammed al-Fakharani, Mansoura Ez-Eldin und Tareq Imam, die in schön aufgemachten Auflagen erschienen sind und manchmal innerhalb von nur einem Jahr mehr als 1000 mal verkauft wurden.


Der frappierendste Unterschied liegt jedoch darin, dass der „neue ägyptische Roman“ in vielen Fällen nahezu vollständig den kämpferischen und reformerischen Geist vermissen lässt, der in Der Jakubijan-Bau steckt. Al-Aswani vertraut darauf, dass sich durch einen Roman die Gesellschaft zum Besseren ändern und der Romanautor das Gewissen einer Nation und zugleich ihr Reformer sein kann. Das „Gute“ ist bei al-Aswani „gut“, das „Böse“ ist „böse“. Im „neuen“ ägyptischen Roman geht es hingegen weniger um eine Veränderung der Gesellschaft, als vielmehr um den Versuch, die Gesellschaft zunächst einmal völlig unvoreingenommen zu verstehen. Der Autor ist sein eigenes Gewissen. „Gut“ oder „böse“ verlieren für ihn an Bedeutung, weil das alleinige Ziel des Romans darin besteht, das menschliche Handeln zu betrachten und zu verstehen. Die wichtigsten Autoren des „neuen“ ägyptischen Romans wollen nichts weiter, als dem Leser zu Erkenntnis und Genuss verhelfen. Den Roman mit politischen oder sozialen Anliegen, und seien sie noch so dringend, zu befrachten, erscheint ihnen als Zweckentfremdung. Solche und ähnliche Anliegen lassen sich ihrer Ansicht nach wesentlich besser durch das Verfassen eines Essays oder einer Rede, durch die Mitgliedschaft in einer Partei oder durch die Teilnahme an einer Kundgebung verfolgen.

Konfrontation mit dem mächtigen Islamismus

Tatsächlich spielte all das in der ägyptischen und arabischen Romanliteratur seit Nagib Mahfuz traditionsgemäß eine große Rolle. Politisches Engagement fehlte bei den Autoren der Moderne nicht, wenn auch mit einigen sprachlichen und formalen Einschränkungen, die von einem gewissen Dünkel und einer Schwärmerei mit Hang zur Rätselhaftigkeit herrührten. Al-Aswani wird nun berechtigterweise zugute gehalten, dass er all diese Attribute abschütteln konnte.

Wenn nun Der Jakubijan-Bau, oder allgemein der „politisch“ motivierte Roman nach der Revolution keine Daseinsberechtigung mehr hat, weil sein Anliegen ja erreicht und die Regierung gestürzt wurde (vielleicht sogar wegen dieser Romane), und wenn der moderne Roman sogar schon vor der Revolution in Vergessenheit geraten war, so droht dem „neuen“ ägyptischen Roman als einzigem von allen die Konfrontation mit dem mächtigen Islamismus, jenem erbitterten Erzfeind der Freiheit. Auf den Schutz eines Regimes, das die Freiheit der Romanautoren nur beschützt hat, um sie im blutigen Kampf gegen eben diesen Islamismus zu benutzen, kann nun jedenfalls nicht mehr gezählt werden.

So sehr sich die Autoren der „neuen“ ägyptischen Romanliteratur von al-Aswani unterscheiden, so wenig haben ihre Romane mit der ägyptischen Literatur der Moderne gemeinsam, die zwar, wie gesagt, ähnlich wie Der Jakubijan-Bau, reformerische Absichten und ein politisches Anliegen verfolgt hat, sich dabei aber immer sehr komplex, rätselhaft und düster ausnahm. Einerseits ­erscheint die Moderne damit als Widersacherin der inzwischen von der Revolution abgesetzten Diktaturen, die aus der Befreiungsbewegung entstanden sind. Andererseits ist die Moderne aber auch eine Facette eben dieser totalitären Regimes und hat deshalb mit Beendigung der Diktatur (genauer gesagt schon vorher) ihre Stellung in der arabischen Kultur eingebüßt.

Tatsächlich äußerte sich die oppositionelle Haltung der Moderne gegenüber den totalitären Regimes nie als Widerspruch, sondern allenfalls als Einspruch von Anhängern derselben Ideologie. Adonis, der große syrische, im Exil lebende Dichter der Moderne, schrieb: „Es kam ein schöner Sturm, aber die schöne Verwüstung blieb aus.“ Im Klartext – die Dichtung der Moderne muss ja immer erklärt werden – bezieht sich der „schöne Sturm“ auf die Befreiungsbewegung, die wiederum die Diktatur brachte, während die „schöne Verwüstung“, die alles auslöscht, auf sich warten lässt. Vergleicht man nun die Äußerungen von Adonis als berühmter Persönlichkeit der Moderne und die Äußerungen von Gamal Abdel Nasser als berühmter Persönlichkeit der Befreiungsbewegung, so lässt sich in den Ansichten über Modernisierung, Entwicklung und „Ausradieren“ der alten Zeiten, eine Ähnlichkeit, ja beinahe sogar schon eine Deckungsgleichheit feststellen.

Enorme Effektivität

Die Moderne war, wegen der Komplexität und Rätselhaftigkeit ihrer mit Bildern überladenen, fast schon karikaturistisch überzeichneten Sprache, ein Unglücksfall für die ägyptische und arabische Literaturgeschichte. Die Leser konnten sich noch weniger für arabische Literatur erwärmen als dies ohnehin schon der Fall war. Bis auf die Übersetzertätigkeit im akademischen Bereich gab es keine nennenswerten Übersetzungen mehr. Der totalitäre Staat hatte die absolute Kontrolle über die Kunst- und Literaturszene. Paradoxerweise waren die Modernisten die einzigen, die eine Erneuerung anstrebten und auf die neuen Generationen der ägyptischen und arabischen Schriftsteller hofften – und die Moderne war die einzige Strömung, deren wichtigste Werke und Autoren noch zu Lebzeiten in Vergessenheit gerieten. Trotzdem beherrschte sie nicht weniger als 30 Jahre lang die Literaturszene, angefangen von den staatlichen Institutionen, die das Monopol auf die Kontrolle des Kulturbetriebs für sich beanspruchten, bis hin zu Fragen von Geschmack und Stil in der Literatur. Die „neue“ ägyptische Literatur, die ihre Anfänge in den 1990er Jahren hatte, entlarvte ihre mächtige Vorgängerin, die Moderne, durch eine enorme Effektivität und eine große Popularität, die sie mit vergleichsweise einfachen Mitteln erreichte. In diesem Punkt lässt sich die „neue“ Literatur durchaus mit der Revolution vergleichen. Beide entdeckten sozusagen die Erdanziehungskraft. Die Revolution stürzte ein militantes Regime einfach bloß durch menschliches Verhalten, das von Leichtigkeit und ruhigem Verharren geprägt war: Man musste sich lediglich etwas anziehen und sich dann auf Straßen oder Plätzen treffen. Das war alles.

Und auch die Schriftsteller der „neuen“ Literatur überwanden, um nicht zu sagen, zertrümmerten die Vorherrschaft der Moderne durch Klarheit und Kühnheit, durch eine einfache Sprache voller Leichtigkeit, und dadurch, dass sie sich mit den persönlichen Erfahrungen des Menschen auseinandersetzten, und zwar ganz konkret, nicht auf einer symbolischen Ebene. Man fühlt sich an einen riesigen Ballon erinnert, der in dem Moment platzt, da ihn eine Ameise anknabbert. Innerhalb kürzester Zeit ging dem Regime, genau wie den Modernisten, die Luft aus.

Am schlimmsten war offenbar die ägyptische Lyrik betroffen, während der Roman weitestgehend verschont geblieben war. Zwischen den Gedichten von Osama al-Danasoury, den ich und viele andere auch für den Autor „neuer“ ägyptischer Literatur schlechthin halten, und den Gedichten gekrönter Häupter der arabischen Moderne wie Adonis, oder der ägyptischen Moderne wie Mohammed Afifi Matar, besteht ein gewaltiger Unterschied, allein schon in Bezug auf Sprache, Thematik und Haltung des Autors. Auf der einen Seite die Modernisten, leuchtendes Beispiel für den wortgewandten, gewissenhaften, gut informierten und gerechten Dichter, der sich, jederzeit gesprächsbereit, für die gesamte Nation einsetzt. Auf der anderen Seite Osama al-Danasoury, ein ganz normaler Mensch, der mit sprachlicher Schlichtheit und Leichtigkeit ausführlich Sorgen und Nöte beschreibt, die die finster dreinblickenden Herren Modernisten als banal, ja geradezu belanglos abgetan hätten.

Dabei richteten die Protagonisten der Moderne der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre gerade auch am Roman Schaden an. Er verlor seine Schlichtheit und seine Direktheit. Menschliche Erfahrungen erhielten einen komplexen Symbolcharakter und eine Tiefe, zu der niemand außer der Modernist selbst vordringen konnte. Im Laufe der Jahre büßte der Roman so immer mehr von seiner ursprünglichen Behendigkeit und Ausgelassenheit ein. Der Humor als eines seiner schönsten Attribute ging nach und nach verloren. Man fühlt sich an die berühmten Rufe der Nasseristen erinnert, mit denen sie in den Fünfzigerjahren gegen die Demokratie wetterten. Der Glaube an die Unzuverlässigkeit eines witzigen Autors, dessen Literatur bestenfalls aus Moritaten bestand, nahm fast schon dogmatische Formen an. Große Satiriker wie Ibrahim Aslan, einer der berühmtesten Schriftsteller der Sechzigerjahre, oder Mohamed Mustagab, einer der berühmtsten Schriftsteller der Siebzigerjahre, sahen sich gezwungen, ihren Humor hinter einer übertriebenen Strenge und Gewichtigkeit zu verbergen, und hinter einem politischen Anliegen, an das sie selbst nie geglaubt haben.


Hamdy Abou Golayyel
ist Schriftsteller und Journalist. 1967 geboren in der Beduinen-Oase Fayyoum. Seine Romane Thieves in Retirement und Dog without a tail sind in mehreren Sprachen erschienen. 2009 wurde er mit dem renommierten Nagib-Mahfuz-Preis für Literatur ausgezeichnet. Er lebt in Kairo.


Der Jakubijân-Bau. Roman aus Ägypten Alaa Al-Aswani Sonderausgabe Lenos 2010, 372 S., 12





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt


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Übersetzung: Andreas Bünge

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