Religiöse Aufrüstung

Glaube Die einen reagieren auf die Integrationsdebatte mit Re-Christianisierung, die anderen mit Islamisierung. Diesen Wettlauf werden alle verlieren

Nein, der Islam gehört nicht zu Deutschland, auch historisch nicht. An dieser Stelle muss man dem neuen Innenminister Hans-Peter Friedrich Recht geben. Denn was Europa im Mittelalter geprägt hat, war nicht der Islam, sondern die arabisch-persische Kultur. Speziell die arabische Philosophie war das Produkt einer Hochkultur, die aus einer Mischung der Völker zu jener Zeit entstand, einem Mischclub der frühen Nationen. Dieser setzte eine kulturelle und wissenschaftliche Dynamik frei, von der Europa bis heute profitiert. Der Islam war davon bloß ein Bestandteil, sicherlich nicht der wichtigste.

Doch ist ja Friedrich kein Historiker, der uns den Unterschied zwischen Kultur und Religion erklären möchte. Sondern er wollte dem Bundespräsidenten Christian Wulff widersprechen. Der hatte gesagt: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Die Frage stellt sich: Wozu soll das gut sein? Sowohl Wulff als auch Friedrich haben mit ihren symbolisch aufgeladenen Soundbites die einen erfreut und die anderen verstimmt. Es kann jedoch nicht Aufgabe eines Politikers sein, Religion ein- oder auszubürgern. Von einem Bundespräsidenten wie von einem Innenminister ist zu erwarten, dass sie sich mit Kernproblemen befassen: Bildungs-Ungerechtigkeit, mangelnde Teilhabemöglichkeiten, ein verzerrter Arbeitsmarkt.

Stattdessen diskutieren Wulff wie Friedrich über Nebensachen. Wie Religion. Die Integrationsdebatte in Deutschland ist seit dem 11. September 2001 islamisiert worden, und es hat ihr nicht gut getan. Aus der Perspektive derer, die ernsthaft die Mauern zwischen bio-deutscher und zugewanderter, großenteils muslimischer Gesellschaft überwinden wollen, mag es sinnvoll erscheinen, die Muslime in ihrem Wunsch nach Religionsausübung ernst zu nehmen – daher die verbreitete Unterstützung etwa für Islam-Unterricht an den Schulen.

Dafür spricht, dass die muslimische Community sichtbarer geworden ist, nach Aufmerksamkeit für ihren Glauben auch verlangt. Die Minarette wachsen. Doch sollte man dies nicht als Zeichen wachsender Glaubenstiefe missverstehen. Es hat vielmehr damit zu tun, dass viele Muslime in ihrer Identität noch stärker verunsichert sind als der Rest der Republik. Die Moscheen werden größer, weil die muslimischen Zuwanderer ihre identitäre Erschütterung hinter solchem symbolischen Auftrumpfen verstecken wollen.

Ich kenne allerdings keinen Muslim, der in Deutschland je an seiner Religionsausübung gehindert wurde, der keinen Platz zum Beten fand. Es gibt dagegen sehr viele Kinder, die in ihrem Recht auf freie Entfaltung und gleichberechtigte Bildung eingeschränkt werden, weil ihnen der Schwimm­unterricht oder die Teilnahme am Schulausflug von der Familie versagt wird.

Darüber aber dürfte ein demokratischer, säkularer Staat noch nicht einmal verhandeln. Der demokratische Staat darf religiöse Gründe oder auch Vorwände nicht gelten lassen, wenn es um individuelle Rechte oder die Gewährung gleicher Chancen geht. In staatlichen Institutionen hat Religion grundsätzlich nichts zu suchen. Auch das Christentum übrigens nicht. Es ist nicht einzusehen, warum der Staat für die christlichen Kirchen Steuern eintreibt. Das Staatskirchenrecht mochte zu Bismarcks Zeiten eine smarte Lösung für die Konflikte sein, die aus dem Mittelalter herüberragten – heute ist es das nicht mehr. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Schulkinder konfessionell gebundenen Religionsunterricht bekommen. Sie brauchen Unterricht in der Bedeutung der Religionen, aber nicht von kirchlich gebundenen und daher voreingenommenen Lehrern.

Die bio-deutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich selbst gern als aufgeklärt und säkular bezeichnet, scheint jedoch auf die selbst betriebene Islamisierung der Integrationsdebatte mit einer Re-Christianisierung zu reagieren. Die Kirchenaustritte weisen in die andere Richtung, doch gibt es auch viele Anzeichen für eine religiös aufgeladene Selbsterzählung der Anhänger einer „christlich-jüdischen Leitkultur“ – was auch immer das sein soll. Es hat verschiedene Gründe, warum christlich-konfessionelle Schulen im Aufwind sind, eine neue bourgeoise Distinktionsabsicht gehört wohl dazu. Doch darf vermutet werden, dass viele Eltern sich den Herausforderungen der Multikulturalität schlicht nicht gewachsen fühlen. Das Kind auf die katholische oder evangelische Schule zu schicken, dient bei ihnen der Identitätshygiene und nicht bloß einer neo-elitären Abgrenzung. Gleichzeitig wächst die Zahl der türkischen Privatgymnasien mit Islam-Schwerpunkt.

Das aber wird ein Wettbewerb, den alle verlieren werden. Es bedarf nicht mehr, sondern weniger institutionalisierter Religion, um diese Gesellschaft zu entgiften. Es zeugt von einem Mangel an Kreativität, dass wir auf die enormen Verunsicherungen im Zuge der marktwirtschaftlichen Umbrüche, der Globalisierung und der sie begleitenden Politik nach ganz altem Muster reagieren: Trost und Identität durch Religion. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist legitim, es sitzt tief, es ist nicht immer und bei allen von Angst getrieben – aber oft und bei vielen. Es ist eine Angst, die daher rührt, dass viele Menschen nicht trainiert haben, multiple Identitäten zu leben, sich Elemente anderer Kulturen anzueignen.

Hamed Abdel-Samad ist deutsch-ägyptischer Historiker und Autor

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