Vermessung des Prekären

Selbstständig Eine Reihe von Sachbüchern beschreibt die 25- bis 35-Jährigen als verängstigte Generation. Aber stimmt das? Eine Recherche in der Welt jenseits der Festanstellungen

Falls ein Location-Scout für einen Tatort mit dem Arbeitstitel "Tod in der Kreativszene" ein Filmset suchen würde, wäre das hier seine erste Adresse: das Betahaus in der Berliner Prinzessinnenstraße. Im Erdgeschoss des Coworking-Space, einem Ort, an dem sich Freiberufler einen Schreibtisch für eine begrenzte Zeit mieten können, ist alles wie im Fernsehen: Latte macchiato, Hornbrillen, Apple-Computer. Jeden Donnerstag treffen sich hier auch die Benutzer des Hauses, fast alle zwischen 25 und 35 Jahre alt, um sich gegenseitig ihre Projekte vorzustellen, neue Mieter kennenzulernen oder die Zusammenarbeit bei einzelnen Projekten zu organisieren.

Fast alle Betahäusler gehören zu einer Altersgruppe, die momentan einer schreiberischen Inventur unterzogen wird. Katja Kullmann hat im Juni unter großer Medien-Aufmerksamkeit Echtleben vorgelegt, in dem sie ihren Weg vom Leben als erfolgreiche Buchautorin zur Hartz-IV-Empfängerin schildert. Im Oktober erscheint Heult doch! von Meredith Haaf, in dem die Autorin aber nicht ins Lamento von Kullmann einstimmen will, sondern laut Untertitel "Über eine Generation und ihre Luxusprobleme" berichtet. In schreiendes Orange eingebunden ist das Buch Wir haben keine Angst von Nina Pauer, das im September erscheint. Pauer schildert darin die 25- bis 35-Jährigen als eine Generation, die sich fast ausschließlich von der Furcht steuern lässt, eigene Ansprüche und jene der sozialen Umwelt nicht erfüllen zu können. Sie schickt zwei fiktive Protagonisten der Alterskohorte in Therapie, die sie dann als Autorin gleich selbst durchführt.

Aber ist diese Fokussierung auf Furcht eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit? Beim Kontakt mit jenen, die in der vermeintlich so bedrohlichen Freiheit arbeiten, hat man nicht unbedingt den Eindruck, sich mit Menschen zu unterhalten, die von Arbeitsdruck und Unsicherheit zermartert werden. Maximilian von der Ahé, selbstständiger Rechtsanwalt und einer der sechs Gründer des Betahauses, kennt die Herausforderungen des Arbeitslebens seiner Mitstreiter in der Prinzessinnenstraße gut. Alle zwei Wochen bietet er mit einem Kollegen eine Rechtsberatung für die Mieter an. "Die meisten Leute, die nach einigen Jahren in einer Festanstellung anfangen, sich hier selbst ein Geschäft aufzubauen, empfinden das als Befreiungsprozess. Und man hat durch die vielen verschiedenen Leute immer helfende Hände für alles, was man nicht selbst kann."

Käsebrötchen und Vorträge

An diesem verregneten Donnerstagmorgen sind die Betahäusler um halb zehn schon sehr geschäftig, belegen Brötchen mit Käse und hören zu, was beispielsweise Daniel Jackson aus London an seinem Schreibtisch so treibt. Vom britischen Trading Strategy Board hat er für seine Firma ein Stipendium erhalten, mit dem er nun in Berlin an einem Projekt für den britischen Schulfunk arbeitet. Es soll Schülern erlauben, mithilfe einer bestimmten Software eigene kleine Radioprogramme auf die Beine zu stellen. Gefragt, was sein Geschäftsmodell sei, antwortet er knapp: "Wir arbeiten für die BBC – sie bezahlt uns." Jackson hat keine Probleme, sich zu verständigen, alle Präsentationen an diesem Morgen und die meisten Gespräche finden auf Englisch statt.

Lisa Oettinghaus und Tobias N. Draeger versuchen, durch ihre Präsentation eines geplanten Tanztheaterstücks zum Thema "Illusion und Realität" Mitstreiter zu finden, die sich an dem Stück beteiligen. Ein Honorar kann Oettinghaus dafür nicht anbieten – sie selbst lebt von dem Geld, das sie als Tanzlehrerin und als Mitarbeiterin im Betahaus-Café verdient. Aber auch das ist nicht unbedingt ein neuer Trend: Künstlerische Berufe, wie man früher die Kreativbranche nannte, sind schon immer ein Zuschussgeschäft gewesen. Es scheint, als seien sich die Betahäusler dessen auch sehr bewusst. Über die von Kullmann und Pauer beschriebene Selbstversklavung an schlecht zahlende Arbeitgeber und die eigenen Ansprüche klagt hier niemand. Möglicherweise, weil es einfach als Fakt hingenommen wird, möglicherweise auch, weil einige Jungkreative noch finanziell von Mama und Papa unterstützt werden. Oettinghaus sagt: "Ganz Berlin ist ein großes Betahaus." Ein Spielfeld voller Möglichkeiten, die man nur nutzen müsse. Aber natürlich können da nur jene mitspielen, in deren Ausbildung viel Geld investiert wurde, die noch keine Familien zu versorgen haben und am besten niemals krank werden.

Die Hautcreme des Vaters

Mit Oettinghaus am Tisch sitzen auch die Brüder Beyer, die von ihren Schreibtischen in der dritten Etage aus eine Hautcreme vermarkten, die ihr Vater 20 Jahre lang entwickelt hat. Eine Webseite, die sich als "Mischung aus Vivasion und Hobbythek" ankündigt, gibt es bereits. Die Hautcreme muss man sich noch dazudenken. Die Gebrüder Beyer erzählen davon, dass in den Großraumbüros manchmal so eine hochkonzentrierte Stimmung herrsche, dass es ihnen fast wie eine Störung vorkomme, zum Hörer zu greifen und ein Telefongespräch zu führen. Schließlich müssen sie und ihre Kollegen ohne finanzielle Zuschüsse der Eltern zielstrebig einiges erwirtschaften, um neben laufenden Lebenshaltungskosten auch die monatliche Miete für den Arbeitsplatz zahlen zu können.

Damit unterscheiden sich die Brüder Beyer gar nicht so stark von Menschen wie Maximilian Görwitz, 35, der im familieneigenen Dokumenten-Management-Unternehmen als Prokurist arbeitet und dort im nächsten Jahr die Geschäftsführung übernehmen wird. "Junge Unternehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie etwas schaffen wollen. Wir verfolgen klar ein Ziel und möchten allein bestimmen. Dafür haften wir auch mit unserem eigenen Kapital." Görwitz hat sieben Jahre als Angestellter in einem großen Unternehmen gearbeitet und wünscht sich diese Zeit nicht zurück. Heute ist er im Verband Die Jungen Unternehmer aktiv, eine Lobbyorganisation junger Arbeitgeber.

Politisch steht er damit einer Villa Kunterbunt wie dem Betahaus relativ fern. Aber der Wunsch nach selbstbestimmter Arbeit, der Verwirklichung von Ideen, die man allein formuliert, verbindet die Kreativen mit dem Bodenständigen. Die von Nina Pauer geschilderte "Angst davor rauszufliegen", gibt es dabei durchaus. So allgegenwärtig, wie Pauer behauptet, ist sie für die Generation aber offenbar nicht. Nicht im Betahaus. Und auch Görwitz gibt an, sich noch nie Gedanken darüber gemacht zu haben, ob er später den Lebensstandard seiner Eltern halten könne. Eine Generation nur über solche Gedanken zu beschreiben, ist möglich – genauso wie es möglich ist, sie über ihre Wahlentscheidungen an der Eistheke zu beschreiben: Es ist auch eine Marketingentscheidung.

Sie folgt der Konjunktur des populären Sachbuchs, das über die Befindlichkeit der jungen Generation aufklären möchte. Florian Illies begründete 2000 mit Generation Golf das Genre. Sechs Jahre später legten Holm Friebe und Sascha Lobo Wir nennen es Arbeit vor, ein Loblied auf die selbsternannte digitale Boheme. Nach frustrierenden Erfahrungen als Angestellte in Werbeagenturen sollten Konsum- und Lebensfreude sowie ästhetische Vorlieben einer Generation mithilfe des Internets zum Beruf werden. Das Buch war ein großer Erfolg. Es brachte zahlreiche Reporter dazu, in Berliner Cafés die digitale Boheme aufzuspüren und entweder zu Taugenichtsen oder Helden der Arbeit zu ernennen. Nun, fünf Jahre später, kommt also die Gegenwelle. Man könnte die Betonung auf Unsicherheit und Angst bei den neuen Generationenbüchern auch einfach als Zyklus des Buchmarkts verstehen.

Ein Blick in die Shell-Jugendstudie des vergangenen Jahres zeigt jedenfalls ein anderes Bild. Die von Mathias Albert und Gudrun Quenzel geleitete Studie hatte den Titel Eine pragmatische Generation behauptet sich. Ein Kapitel handelte vom zunehmenden Optimismus junger Menschen, vor allem jener mit privilegierter sozialer Herkunft. Warum eben diese sich dann an ihren Schreibtisch setzen, um ihr Schicksal oder ihre Generation zu beklagen, wäre wohl auch wieder ein Sachbuchthema. Die nächste Welle kommt bestimmt.

Hanna Engelmeier fühlte sich als 27-Jährige von den Thesen der neuen Generationenbücher besonders herausgefordert.

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